Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 396/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_396/2012

Urteil vom 30. Oktober 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
S.________, vertreten durch
Rechtsanwältin Ursula Reger-Wyttenbach, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 13. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 18. Januar 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons Zürich der
1961 geborenen S.________ rückwirkend ab 1. Februar 2000 eine ganze
Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad von 75 %). Im Mai 2003 leitete die
IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein, in dessen Verlauf sie die gesundheitliche
und erwerbliche Situation der Versicherten abklärte, worauf sie am 17.
September 2004 wiederum eine ganze Invalidenrente verfügte; dabei setzte sie
den Invaliditätsgrad ab 1. April 2004 auf 80 % fest.
Am 8. Dezember 2008 leitete die Verwaltung ein neues Revisionsverfahren ein.
Gestützt auf verschiedene Arztberichte, worunter ein Gutachten des
medizinischen Zentrums X.________ vom 11./29. September 2009, ermittelte die
IV-Stelle einen Invaliditätsgrad von 61 %. Mit Verfügung vom 12. November 2010
setzte sie die bisher ausgerichtete ganze Invalidenrente ab 1. Januar 2011
revisionsweise auf eine Dreiviertelsrente herab mit der Begründung, spätestens
im Juli 2008 sei eine Verbesserung des Gesundheitszustandes eingetreten; diese
erlaube es der Versicherten, eine leidensangepasste Tätigkeit mit einem
Beschäftigungsgrad von 50 % zu verrichten, womit sich ein Invaliditätsgrad von
61 % ergebe.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher S.________ hatte beantragen
lassen, unter Aufhebung der Verfügung der IV-Stelle sei ihr ab 1. Januar 2011
weiterhin eine ganze Invalidenrente zu gewähren, wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 13. März 2012
ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Versicherte
das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Revision der
Invalidenrente (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349) und die dabei
zu vergleichenden Sachverhalte (BGE 133 V 108) zutreffend dargelegt.

2.1 Gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und wenn jede Berichtigung von erheblicher Bedeutung
ist. Die Wiedererwägung dient der nachträglichen Korrektur einer ursprünglich
unrichtigen Rechtsanwendung oder Sachverhaltsfeststellung durch die Verwaltung
(BGE 117 V 8 E. 2c S. 17). Während die Feststellungen, welche der Beurteilung
des Rechtsbegriffs der zweifellosen Unrichtigkeit zugrunde liegen,
tatsächlicher Natur und dementsprechend nur beschränkt überprüfbar sind, ist
die Auslegung des bundesrechtlichen Begriffs der zweifellosen Unrichtigkeit als
Wiedererwägungsvoraussetzung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG Bundesrechtsfrage, die
frei zu beurteilen ist (SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213).

2.2 Die Wiedererwägung rechtskräftiger Verfügungen fällt nur in Betracht, wenn
es um die Korrektur grober Fehler der Verwaltung geht (ZAK 1988 S. 255 E. 2b).
Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich
ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss -
derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (SVR 2010 IV Nr. 5 S.
10; 8C_1012/2008). Zurückhaltung ist bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit
stets dann geboten, wenn der Wiedererwägungsgrund eine materielle
Anspruchsvoraussetzung betrifft, deren Beurteilung massgeblich auf Schätzungen
oder Beweiswürdigung und damit auf Elementen beruht, die notwendigerweise
Ermessenszüge aufweisen. Eine vor dem Hintergrund der seinerzeitigen
Rechtspraxis vertretbare Beurteilung der (invaliditätsmässigen)
Anspruchsvoraussetzungen kann nicht zweifellos unrichtig sein (SZS 2012 S. 68;
8C_962/2010; Urteil 9C_429/2012 vom 19. September 2012).
Wie das Sozialversicherungsgericht sodann richtig festgehalten hat, kann das
Gericht eine zu Unrecht ergangene Revisionsverfügung gegebenenfalls mit der
substituierten Begründung schützen, dass die ursprüngliche Rentenverfügung
zweifellos unrichtig und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE
125 V 368 E. 2 S. 369 mit Hinweisen).

3.
3.1 Die Vorinstanz prüfte die Revisionsvoraussetzungen nicht, verneinte aber
zumindest sinngemäss deren Vorliegen. Sie hielt dafür, dass die IV-Stelle die
ganze Rente faktisch im Rahmen einer Wiedererwägung der Verfügung vom 18.
Januar 2002 auf eine Dreiviertelsrente herabgesetzt habe, ohne dies in der
Begründung zu erwähnen, und gelangte zum Schluss, die ursprüngliche Verfügung
vom 18. Januar 2002 sei zweifellos unrichtig gewesen. Die medizinischen
Abklärungen seien als unzureichend zu qualifizieren. Der Invaliditätsgrad sei
nach Massgabe des Umfangs der nach Eintritt des Gesundheitsschadens ausgeübten
Erwerbstätigkeit auf 75 % festgelegt worden. Dass die damalige Verfügung nicht
auf einer rechtskonformen Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und
Invaliditätsbemessung beruhte, habe die Beschwerdeführerin am 16. Mai 2003
selbst gegenüber der IV-Stelle gerügt. Da die Versicherte richtig erkannt habe,
dass bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung vom 12. November 2010 nie eine
gesetzeskonforme Ermittlung des Invaliditätsgrades erfolgte, könne sie nach
Treu und Glauben im Beschwerdeverfahren nicht verlangen, dass die IV-Stelle die
Voraussetzungen für eine Rentenherabsetzung durch einen Vergleich mit dem
unrichtig festgestellten Sachverhalt zum Zeitpunkt der ursprünglichen
Rentenverfügung nachweise. Sie könne die von ihr im Verwaltungsverfahren
gerügte zweifellose Unrichtigkeit dieser Verfügung nicht nachträglich wieder in
Abrede stellen.

3.2 Die Beschwerdeführerin wendet im Wesentlichen ein, die Voraussetzungen für
eine Wiedererwägung der ursprünglichen Verfügung seien nicht erfüllt. Aufgrund
der damaligen Sach- und Rechtslage sei die Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente nicht offensichtlich unrichtig, sondern zumindest vertretbar
gewesen. Denn die Verfügung habe auf klaren spezialärztlichen Feststellungen
beruht. Die Rechtsvertreterin der Versicherten habe nach Eintritt der
Rechtskraft der Verfügung vom 18. Januar 2002 darauf hingewiesen, dass als
Valideneinkommen der Verdienst einer Kleinkindererzieherin und nicht der Lohn
einer Hausabwartin heranzuziehen sei. Die Interpretation dieses Schreibens vom
16. Mai 2003 durch die Vorinstanz entbehre jeglicher Grundlage. Aus dieser
Eingabe lasse sich keine zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen
Rentengewährung ableiten.

4.
Die Vorinstanz hat die Rechtmässigkeit einer Revision zufolge einer
Verbesserung des Gesundheitszustandes der Versicherten im Sinne von Art. 17
Abs. 1 ATSG zu Recht ausgeschlossen, ist doch eine revisionserhebliche Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse nicht erstellt. Ob die Herabsetzung der ganzen
auf eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung gemäss Verfügung vom 12.
November 2010 zulässig ist, hängt daher allein davon ab, ob die ursprüngliche
Rentenverfügung vom 18. Januar 2002 als zweifellos unrichtig bezeichnet werden
muss und die Revisionsverfügung mit dieser substituierten Begründung zu
bestätigen ist.

4.1 Das Sozialversicherungsgericht führte aus, die ursprüngliche Verfügung habe
nicht nur auf unzureichenden Abklärungen beruht, sondern der Invaliditätsgrad
sei zudem nach Massgabe des nach dem Eintritt des Gesundheitsschadens
ausgeübten Arbeitspensums auf 75 % festgesetzt worden. Diese von der Vorinstanz
festgestellten Mängel vermögen die im Entscheid vom 13. März 2012 getroffene
Annahme, die Verfügung vom 18. Januar 2002 sei zweifellos unrichtig, nicht zu
begründen. Dem Feststellungsblatt vom 5. September 2001, welches der
Rentenverfügung vom 18. Januar 2002 zugrunde lag, ist zu entnehmen, dass die
IV-Stelle gestützt auf einen Bericht des Neurologen Dr. med. T.________ vom 6.
März 2001 sowie eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes vom 10. September
2001 aufgrund der multiplen Sklerose mit einem ersten Schub im Winter 1998 von
einer Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit von 75 % ausgegangen war. Der Vorinstanz
ist zwar beizupflichten, dass der Invaliditätsgrad nicht aufgrund eines
Einkommensvergleichs ermittelt, sondern entsprechend der ärztlich bescheinigten
Arbeitsunfähigkeit von 75 % festgesetzt wurde. Indessen konnte angesichts des
hohen Arbeitsunfähigkeitsgrades auf einen Einkommensvergleich verzichtet
werden, da sich mit einer Restarbeitsfähigkeit von 25 % in aller Regel kein den
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente (damals bereits ab einem
Invaliditätsgrad von 66 2/3 %; Art. 28 Abs. 1 IVG in der ab 1. Januar 1988 in
Kraft stehenden Fassung) ausschliessendes Erwerbseinkommen von über einem
Drittel des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität erzielen lässt.
Dementsprechend war es nicht unhaltbar, im Rahmen eines Prozentvergleichs (vgl.
BGE 114 V 310 E. 3a S. 312 f. mit Hinweisen) von der Arbeitsunfähigkeit auf die
Erwerbseinbusse und damit auf den Invaliditätsgrad zu schliessen.

4.2 Soweit die Vorinstanz ausführt, die Versicherte könne nicht nachträglich
die von ihr selbst im Verwaltungsverfahren gerügte zweifellose Unrichtigkeit
der ursprünglichen Rentenverfügung in Abrede stellen und nach Treu und Glauben
nicht verlangen, dass die IV-Stelle die Voraussetzungen für eine
Rentenherabsetzung durch einen Vergleich mit dem unrichtig festgestellten
Sachverhalt zum Zeitpunkt der ursprünglichen Verfügung nachweise, missachtet
der angefochtene Entscheid Bundesrecht: Welche Meinung die Versicherte im
Verwaltungsverfahren vertreten hat, ist mit Bezug auf die Höhe der ihr
zustehenden Invalidenrente unerheblich. Im kantonalen Beschwerdeverfahren wie
im Verwaltungsverfahren gilt, nebst dem Untersuchungsgrundsatz, der Grundsatz
der Rechtsanwendung von Amtes wegen. Danach haben Verwaltung und Gericht auf
den festgestellten Sachverhalt jenen Rechtssatz anzuwenden, den sie als den
zutreffenden ansehen (BGE 130 V 253 E. 3.5 S. 259, 116 V 23 E. 3c S. 26).
Welchen Standpunkt eine Partei im Laufe des Verfahrens vertreten hat und ob sie
darauf in einer späteren Eingabe oder Rechtsschrift, insbesondere in einem
Gerichtsverfahren zwecks Wahrung ihrer Ansprüche, wieder zurückkommt, ist für
die Entscheidung über den geltend gemachten Leistungsanspruch somit ohne
Belang. Ein Verstoss gegen den Grundsatz von Treu und Glauben kann in einer
Abweichung von einer in einem früheren Verfahrensstadium vertretenen Ansicht
entgegen dem vom kantonalen Gericht offenbar eingenommenen Standpunkt nicht
erblickt werden.

4.3 Die Vorinstanz hat Bundesrecht verletzt, indem sie den Begriff der
zweifellosen Unrichtigkeit, welche für die Wiedererwägung einer formell
rechtskräftigen Verfügung vorausgesetzt ist, unrichtig ausgelegt hat, was im
Ergebnis einer nachträglichen Neubeurteilung kraft besserer Erkenntnis
gleichkommt. Dem Rechtssinn des Instituts der Wiedererwägung entspricht dies
nicht.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 13. März 2012 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 12. November 2010 aufgehoben mit
der Feststellung, dass die Beschwerdeführerin über den 31. Dezember 2010 hinaus
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat die Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. Oktober 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer