Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 393/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_393/2012

Urteil vom 20. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

L.________,
handelnd durch seine Eltern und diese vertreten durch Procap für Menschen mit
Handicap,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Medizinische Massnahme; Psychotherapie),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
6. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Im Dezember 2009 meldeten die Eltern ihren Sohn L.________ wegen einer seit
Geburt bestehenden Behinderung bei der Invalidenversicherung an und beantragten
medizinische Massnahmen. Nach Abklärungen und durchgeführtem
Vorbescheidverfahren wies die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom
14. September 2011 das Leistungsbegehren ab.

B.
In Gutheissung der Beschwerde der Eltern von L.________ hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 6. März 2012 die
angefochtene Verfügung auf und sprach dem Versicherten ambulante Psychotherapie
als medizinische Massnahme zur Behandlung des POS für die Dauer von maximal
zwei Jahren zu. Am 2. Mai 2012 erläuterte das Gericht seinen Entscheid
dahingehend, dass die Leistungszusprechung für den Zeitraum von Dezember 2009
bis Oktober 2013 gilt.

C.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 6. März 2012 sei
aufzuheben; eventualiter sei festzustellen, dass eine Leistungspflicht der
Invalidenversicherung lediglich für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis 31. Oktober
2011 bestehe.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es
kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Der angefochtene Entscheid spricht dem Beschwerdegegner ambulante
Psychotherapie zur Behandlung des POS für den Zeitraum von Dezember 2009 bis
Oktober 2013 als medizinische Massnahme (Art. 12 Abs. 1 IVG) zu. Die Beschwerde
führende IV-Stelle rügt, die Anspruchsbejahung beruhe auf einer offensichtlich
unrichtigen und entsprechend zu berichtigenden Sachverhaltsfeststellung der
Vorinstanz.

3.
Gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr
Anspruch auf medizinische Massnahmen [u.a. Psychotherapie; Art. 2 Abs. 1 IVV],
die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die
Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und
geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich
zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher
Beeinträchtigung zu bewahren.

Nach der Rechtsprechung hat die Invalidenversicherung nicht nur medizinische
Massnahmen zu übernehmen, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtet sind, sondern auch
solche, die bei einstweilen noch labilem Leidenscharakter einen die berufliche
Ausbildung oder die künftige Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Defektzustand
vorbeugen. Dies ist der Fall, wenn ohne die betreffende Vorkehr in absehbarer
Zeit eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand
einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide
beeinträchtigt würden (BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21; SVR 2009 IV Nr. 4 S. 16,
9C_729/2008 E. 2.2 mit Hinweisen).
Die Übernahme von Psychotherapie als medizinische Massnahme bei Versicherten
unter zwanzig Jahren fällt nicht schon deshalb ausser Betracht, weil es um eine
über längere Zeit hinweg dauernde Behandlung geht. Vorkehren zur Verhütung
einer Defektheilung oder eines sonstwie stabilisierten Zustandes bei einem Kind
können durchaus eine gewisse Zeit andauern. Die für die Beurteilung der
Leistungspflicht der Invalidenversicherung massgebliche fachärztliche Prognose
muss zwei Aussagen enthalten: Zunächst muss erstellt sein, dass ohne die
vorbeugende Behandlung in naher Zukunft eine bleibende Beeinträchtigung
eintreten würde; gleichzeitig muss ein ebenso stabiler Zustand herbeigeführt
werden können, in dem vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für
die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit herrschen. Daraus folgt, dass eine
therapeutische Vorkehr, deren Wirkung sich in der Unterdrückung von Symptomen
erschöpft, nicht als medizinische Massnahme im Sinne des Art. 12 IVG gelten
kann, selbst wenn sie im Hinblick auf die schulische und erwerbliche
Eingliederung unabdingbar ist (Urteile 9C_424/2008 vom 30. Dezember 2008 E. 3.2
und I 32/06 vom 9. August 2007 E. 6.1.2).

4.
Nach verbindlicher, im Übrigen nicht bestrittener Feststellung der Vorinstanz
leidet der Beschwerdegegner an einem infantilen psychoorganischen Syndrom
(POS), an einer expressiven Sprachstörung, auditiven Verarbeitungsschwächen und
an einer sekundären Enuresis nocturna (Bericht des behandelnden Dipl.-Psych.
R.________ vom 29. September 2009). Neben einer medikamentösen Therapie mit
Ritalin wurde mit einer Verhaltenstherapie begonnen. Es trat eine Besserung des
Verhaltens und der Lernfähigkeit ein. Eine Verschlechterung der Situation im
Winter 2010/11 konnte erfolgreich durch Anpassung der Medikation (Umstellung
von Ritalin auf Concerta) begegnet werden. Wegen der Sprachstörung begann der
Versicherte im Sommer 2009 die Primarschule in der Sprachheilschule X.________.

Nach Auffassung des kantonalen Gerichts ist aufgrund der Berichte des
behandelnden Arztes, der Hausärztin und der Schule davon auszugehen, dass die
anbegehrte ambulante Psychotherapie zur Behandlung der POS/ADHS überwiegend
einer nachhaltigen Stabilisierung während der Schulzeit dient mit dem Ziel,
damit die Ausbildung und die daraufhin folgende berufliche Eingliederung zu
ermöglichen bzw. zu unterstützen. Es gehe nicht um die Aufrechterhaltung eines
stationären Zustandes, sondern um Fortschritte im Bereich der schulischen
Anpassung und des Sozialverhaltens zu erzielen und so einem die berufliche
Ausbildung oder die künftige Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Defektzustand
vorzubeugen. Es könne davon ausgegangen werden, dass dieses Ziel mit hoher
Wahrscheinlichkeit erreicht werde, wobei der behandelnde Arzt im Bericht vom
17. Oktober 2011 einen Zeithorizont von rund zwei Jahren angegeben habe. Mit
der ambulanten Psychotherapie könne ein Zustand herbeigeführt werden, in dem
vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für die spätere
Ausbildung und Erwerbstätigkeit herrschen würden. Es könne somit nicht von
einer nicht von der Invalidenversicherung zu übernehmenden Behandlung des
Leidens an sich gesprochen werden.

5.
Die IV-Stelle bestreitet in verschiedener Hinsicht die vorinstanzliche
Würdigung der Akten und die daraus gezogenen rechtlichen Schlüsse. Was sie zur
Begründung vorbringt, ist indessen nicht stichhaltig:

5.1 Vorab ist nicht einsehbar, inwiefern aus der nicht hohen Anzahl der
Therapiesitzungen (2010: 5, Januar bis Oktober 2011: 6) folgen soll, es gehe
lediglich um die Behandlung von Symptomen. Die Verhaltenstherapie ist Teil der
Behandlung neben dem Einsatz von Medikamenten und dem Besuch der
Sprachheilschule. Sie zielt gemäss dem behandelnden Arzt darauf ab, sich trotz
des stabilen POS/ADHS-syndromtypischen Defektzustandes in den
Funktionsbereichen Wahrnehmung, Aufmerksamkeits-, Impuls- und Affektkontrolle
so gut wie möglich sozial anpassen zu können, um insbesondere den Anforderungen
der Schule und später der Berufsbildung gewachsen zu sein (Bericht vom 17.
Oktober 2011). Aus dem Umstand, dass die Verschlechterung der Symptomatik im
Dezember 2010 mit der Umstellung von Ritalin auf Concerta bzw. einer Erhöhung
der Methylphenidat-Dosis aufgefangen werden konnte und hierzu und auch nachher
nicht häufiger Therapiesitzungen durchgeführt werden mussten, lässt sich nichts
ableiten.

5.2 Im Weitern lässt die Therapiesitzungsfrequenz in Kombination mit den
fehlenden schulischen Schwierigkeiten nicht den Schluss zu, die gesundheitliche
Beeinträchtigung sei nicht schwer und Psychotherapie nicht erforderlich,
medikamentöse Behandlung und Sprachheilschule genügten. Wie die Vorinstanz
unwidersprochen festgestellt hat, wurden im Schulbericht vom 12. Mai 2010
Probleme in Gruppensituationen erwähnt. Der Versicherte involviere sich oft
nicht und könne sich nicht ins Geschehen eingeben. Er unterhalte meist keinen
Kontakt zu seinen Mitschülern und beteilige sich nur auf Abruf, eine kurze Zeit
bei Spielen und gemeinsamen Arbeiten. Er könne sich nicht gut in eine Gruppe
einordnen und bleibe so oft alleine. Im Kreis schweife seine Konzentration
meistens innert kurzer Zeit ab, er werde sehr unruhig, rutsche hin und her und
müsse seinen Kopf auffallend umher bewegen oder er stimuliere sich, indem er
mit seinen beiden Händen an den Beinen reibe. Er habe Mühe, sich ruhig zu
verhalten.
Gruppenunterricht und Gruppenarbeit stellen wesentliche Formen des Lehrens und
Lernens in der Schule dar. Die Fähigkeit zu Zusammenarbeit ist auch in der
Ausbildung und im Berufsleben gefragt. Insofern sind die aufgezeigten Defizite
eingliederungsrechtlich bedeutsam. Es kommt vorliegend dazu, dass sich laut dem
Schulbericht vom 12. Mai 2010 offenbar beim Erledigen der Hausaufgaben
regelmässig Konfliktsituationen ergeben. Der Versicherte scheine oft
überfordert zu sein. Zuhause müsse er sich fest zusammennehmen, um die
gestellten Aufgaben zu lösen. Oft scheine es ihm zu viel zu sein. Der
behandelnde Arzt hatte in seinem Bericht vom 29. September 2009 mit dem Hinweis
auf die langen Schultage mit den vielen Wechseln und unterschiedlichen Personen
ähnliche von der Mutter berichtete Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben
erwähnt. Die von ihr geschilderten Gefühlsausbrüche, unbeherrschten Reaktionen
und Ungeduld sind somit entgegen der offenbaren Auffassung der IV-Stelle nicht
bloss im familiären Kontext zu sehen, sondern weisen auch einen schulischen
Bezug auf.

5.3 Schliesslich bringt die IV-Stelle vor, beim Versicherten liege eine
unkomplizierte ADHS vor, deren Symptomatik mit zunehmender Reife und
Stimulanzienbehandlung gänzlich verschwinde oder sich in der Bedeutung
wesentlich verringere, sodass gar keine Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit
bestehen würden. Mit diesem Einwand vermag sie indessen die vorinstanzliche
Feststellung, die bezüglich Wirksamkeit unbestrittene Verhaltenstherapie ziele
auf eine Verbesserung in der schulischen Anpassung und im Sozialverhalten ab
und wolle einem die berufliche Ausbildung oder die künftige Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigenden Defektzustand vorbeugen (vorne E. 4), nicht als
offensichtlich unrichtig darzutun.

5.4 Die Beschwerde ist somit unbegründet, und zwar auch in Bezug auf die Dauer
der zu übernehmenden Psychotherapie. Aus der Begründung des angefochtenen
Entscheids und der diesbezüglichen Erläuterung der Vorinstanz vom 2. Mai 2012
ergibt sich der Zeitraum von Dezember 2009 bis Oktober 2013. Die IV-Stelle legt
nicht dar, inwiefern dies Bundesrecht verletzt. Nicht geprüft zu werden
braucht, ob auch Art. 13 IVG eine Anspruchsgrundlage bildete.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG); da kein Schriftenwechsel durchgeführt wurde, hat
sie jedoch keine Parteientschädigung zu bezahlen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. August 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler