Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 391/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_391/2012

Urteil vom 11. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
handelnd durch ihre Eltern,
und diese vertreten durch Fürsprecher Beat Luginbühl, Seilerstrasse 9, 3011
Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV
(Berechnung des Leistungsanspruchs; Rückerstattung),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung,
vom 28. März 2012.

Sachverhalt:

A.
S.________, geboren 1969, ist geistig behindert und bezieht eine
Invalidenrente. Seit 1992 richtet ihr die Ausgleichskasse des Kantons Bern
(Ausgleichskasse) Ergänzungsleistungen aus. Ihr Vater, geboren 1937, bezieht
seit 1997 eine Altersrente der Pensionskasse N.________ (vormals Pensionskasse
der W.________ AG). Nach dem hier anwendbaren Reglement 1995 richtet die
Pensionskasse zusätzlich zur Altersrente eine Rente für noch nicht 18 Jahre
alte oder in Ausbildung stehende und noch nicht 25 Jahre alte oder für
erwerbsunfähige invalide Kinder des Bezügers aus (sog.
Pensionierten-Kinderrente). Mit Verfügung vom 24. Juni 2011 berechnete die
Ausgleichskasse den Anspruch der S.________ auf Ergänzungsleistungen
rückwirkend neu. Sie berücksichtigte dabei erstmals die
Pensionierten-Kinderrente und setzte ihre Leistungen ab 1. Juli 2006 herab.
Zudem forderte sie von S.________ den Betrag von Fr. 43'626.- zurück. Die von
S.________ gegen die Anspruchsreduktion/Rückforderung erhobene Einsprache wies
die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 28. Oktober 2011 ab.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die von S.________ dagegen
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 28. März 2012 ab. Auf die vom Vater in
eigenem Namen erhobene Beschwerde trat es nicht ein.

C.
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie
beantragt Aufhebung des angefochtenen Entscheides und Rückweisung der Sache an
die Ausgleichskasse zur Festsetzung der Ergänzungsleistungen ab Juli 2011.
Die Ausgleichskasse beantragt Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten
Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG). Unter
Letztere fallen gemäss Art. 11 Abs. 1 lit. d ELG Renten, Pensionen und andere
wiederkehrende Leistungen, einschliesslich der Renten der AHV und der IV. Da
Ergänzungsleistungen die Deckung der laufenden Lebensbedürfnisse bezwecken,
dürfen nur tatsächlich vereinnahmte Einkünfte und vorhandene Vermögenswerte
berücksichtigt werden, über die der Leistungsansprechende ungeschmälert
verfügen kann; vorbehalten bleibt der Tatbestand des Vermögensverzichts (BGE
127 V 248 E. 4a S. 249).

2.
Streitig ist, ob infolge bisher nicht berücksichtigter Einnahmen aus der
Pensionierten-Kinderrente die Ausgleichskasse zu Recht rückwirkend auf den 1.
Juli 2006 die von ihr ausgerichteten Ergänzungsleistungen gekürzt und den
entsprechenden Anteil an den erbrachten Leistungen zurückgefordert hat.

2.1 Laut Art. 17 des Reglements der Pensionskasse (nachfolgend: PKR) hat der
Bezüger einer Altersrente, unter Vorbehalt von Art. 18 PKR, für jedes noch
nicht 18 Jahre alte oder in Ausbildung stehende und noch nicht 25 Jahre alte
rentenberechtigte Kind Anspruch auf eine Pensionierten-Kinderrente. Art. 18
Abs. 1 PKR bestimmt, dass der Anspruch auf die Pensionierten-Kinderrente mit
dem Anspruch auf die Altersrente beginnt und mit deren Wegfall, mit dem Wegfall
der Rentenberechtigung des Kindes oder mit dessen Tod endet. Art. 18 Abs. 2 PKR
sieht als Sonderregelung vor, dass für invalide Kinder Art. 26 Abs. 2 PKR
sinngemäss anwendbar ist. Danach besteht für die Waisenrente bei
erwerbsunfähigen invaliden Kindern der Anspruch bis zur Wiedererlangung der
Erwerbsfähigkeit bzw. bis zum Tod.

2.2 Die Vorinstanz kam zum Schluss, die Anrechnung der
Pensionierten-Kinderrente bei der Festsetzung der Ergänzungsleistungen sei
gerechtfertigt. Die Beschwerdeführerin habe aufgrund ihrer Invalidität Anspruch
auf diese monatliche Rente der Pensionskasse, über die sie frei verfügen könne.
Zwar sei nach BGE 121 V 104 E. 4c S. 107 bei der Ausrichtung einer Kinderrente
der Altersrentner anspruchsberechtigt und nicht das Kind. Die hier in Frage
stehende Rente sei jedoch nicht eine Kinderrente im Sinne der genannten
Rechtsprechung, sondern vielmehr eine Rente, die in ihrer Art und Funktion
einer BVG-Waisenrente entspreche: Obwohl hier der Tod des Versicherten nicht
Anspruchsvoraussetzung bilde, habe die Beschwerdeführerin aufgrund des
Reglements bis zu ihrem Tod Anspruch auf die fragliche Rente. Die
Anspruchsvoraussetzungen seien einzig an ihre Eigenschaften gebunden und diese
Rente werde letztlich unabhängig vom Pensionierten oder dessen Tod ausbezahlt.
Die fragliche Pensionierten-Kinderrente stehe somit ihr zu und sie sei darum
wie eine BVG-Waisenrente bei den Ergänzungsleistungen als Einkommen zu
berücksichtigen.

2.3 Die Beschwerdeführerin hält dagegen, die Pensionierten-Kinderrente sei
keine Waisenrente, da eine solche tatbestandsmässig voraussetze, dass der
Bezüger der Altersrente verstorben sei. Eine Kinderrente sei akzessorisch zur
Altersrente und darum sei der Altersrentner anspruchsberechtigt. Sterbe er, so
gehe die Anspruchsberechtigung an der zur Waisenrente umgewandelten Kinderrente
direkt auf das Kind über. Die Pensionskasse gewähre die Leistung gemäss der
hier anwendbaren Fassung des Reglements im überobligatorischen Bereich. Der
Sinn und Zweck der fraglichen Spezialregelung sei, alle Bezüger einer
Altersrente mit Kindern finanziell gleich zu stellen. Ein erwerbsfähiges Kind
sei in der Lage, ab Eintritt der Volljährigkeit (bzw. nach Abschluss der
Ausbildung) tatsächlich und finanziell eigenverantwortlich zu leben. Ein
invalides und erwerbsunfähiges Kind sei dazu nicht fähig und erfordere von den
Eltern einen lebenslangen und mit Mehrkosten verbundenen Betreuungsaufwand. Da
mit der Invalidenrente und den Ergänzungsleistungen alleine der Existenzbedarf
des Kindes gesichert werde, seien alle darüber hinausgehenden Ausgaben von den
Angehörigen zu übernehmen. Zu diesem Zwecke stehe die Pensionierten-Kinderrente
dem Vater der Beschwerdeführerin tatsächlich und in rechtlich ungeschmälerter
Weise zu. Er könne damit seine finanziellen Folgen des Umstands ausgleichen,
dass die Tochter erwerbsunfähig sei. Da die Pensionierten-Kinderrente zur
Altersrente akzessorisch und bei beiden der Vater anspruchsberechtigt sei,
könne sie der Beschwerdeführerin nicht nach Art. 11 ELG als Einnahme
angerechnet werden.

3.
Wie die Beschwerdeführerin mit Recht vorbringt, hat sie - gemäss klarem
Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 PKR - auf die akzessorisch zur Altersrente des
Vaters ausgerichtete Pensionierten-Kinderrente keinen eigenen und direkten
Anspruch. Diesbezüglich besteht denn auch ein übereinstimmender Parteiwille,
wie sich aus einem Schreiben der Pensionskasse vom 8. November 2011 an die
Beschwerdeführerin ergibt. Sie kann somit nicht frei und rechtlich
ungeschmälert über die fragliche Kinderrente verfügen, was jedoch Voraussetzung
für die Anrechnung wäre (E. 1). Der Direktanspruch entsteht mit dem Tod des
Vaters beim Untergang der Altersrente und Wegfall der Akzessorietät der
Pensionierten-Kinderrente. Erst dannzumal wechselt sie den Charakter und wird
zur Waisenrente. Nach der reglementarischen Ausgestaltung verweist Art. 18 Abs.
2 PKR nur betreffend das Ende der Kinderrente für invalide Kinder auf Art. 26
Abs. 2 PKR (dieser handelt ausschliesslich vom Ende). An der
Anspruchsberechtigung (Bezüger der Altersrente) ändert sich nichts. Dies gilt
hier umso mehr, als Art. 18 Abs. 2 PKR unmissverständlich von einer bloss
sinngemässen Anwendung spricht. Zudem können sich die Vorsorgeeinrichtungen im
Überobligatorium weitgehend frei einrichten (Art. 6 und 49 Abs. 1 BVG).
Schliesslich macht die Beschwerdegegnerin nicht geltend und es ist auch nicht
aktenkundig, dass die streitige Kinderrente nicht beim Vater der
Beschwerdeführerin als Einkommen besteuert wird (vgl. Art. 2C_164/2007 vom 17.
Oktober 2007 E. 2.5).

4.
Da die beschlossene Kürzung der Ergänzungsleistungen nicht rechtskonform war,
fällt auch die damit verbundene Rückforderung dahin.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der
unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in
Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführerin ist eine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 28. März 2012 und
der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Bern vom 28. Oktober
2011 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons Bern
zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
Ergänzungsleistungen ab 1. Juli 2011 neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Dezember 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Schmutz