Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 373/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_373/2012

Urteil vom 22. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andrea Cantieni,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 25. April 2012.

Sachverhalt:

A.
M.________ erlitt am ... eine ausgeprägte Subarachnoidalblutung bei
rupturiertem Giant-Aneurysma der Arteria cerebri media links (Bericht Klinik
X.________ vom 18. September 2007). In der Folge bezog sie von der
Invalidenversicherung verschiedene Leistungen, u.a. medizinische Massnahmen und
Hilfsmittel. Mit Verfügung vom 25. Mai 2011 sprach ihr die IV-Stelle des
Kantons St. Gallen Hilflosenentschädigung für Minderjährige für Hilflosigkeit
mittleren (1. Januar 2008 bis 30. Juni 2009) und leichten Grades (1. Juli 2009
bis 30. Juni 2010) zu.

B.
In Gutheissung der dagegen eingereichten Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 25. April 2012
die Verfügung vom 25. Mai 2011 auf und sprach M.________ für die Zeit vom 1.
Juli 2009 bis 30. Juni 2010 eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren
Grades zu.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 25. April 2012 sei
aufzuheben.
M.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten
sei; eventualiter sei die Entschädigung für eine mittlere Hilflosigkeit bis 30.
September 2009 auszurichten. Das kantonale Versicherungsgericht und das
Bundesamt für Sozialversicherungen haben auf die Einreichung einer
Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Der vorinstanzliche Entscheid hebt die angefochtene Verfügung integral auf. Aus
der Begründung ergibt sich indessen, dass die Aufhebung lediglich die Zeit vom
1. Juli 2009 bis 30. Juni 2010 betreffen soll.

2.
Die für die Bemessung der Hilflosenentschädigung resp. die Bestimmung des
Grades der Hilflosigkeit (leicht, mittelschwer, schwer) massgebenden sechs
alltäglichen Lebensverrichtungen sind An- und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen
und Abliegen, Essen, Körperpflege, Verrichtung der Notdurft sowie Fortbewegung
und Kontaktaufnahme (Art. 37 IVV; BGE 127 V 94 E. 3c S. 97; 125 V 297 E. 4a S.
303; Urteil 9C_839/2009 vom 4. Juni 2010 E. 3.1). Vorliegend besteht keine
Hilflosigkeit schweren Grades (Art. 37 Abs. 1 IVV). Die Beschwerdegegnerin ist
für das Aufstehen, Absitzen und Abliegen sowie die Verrichtung der Notdurft
nicht auf erhebliche Dritthilfe angewiesen. Hingegen benötigt sie beim An- und
Auskleiden, Essen und für die Fortbewegung regelmässig in erheblicher Weise die
Hilfe Dritter. Es besteht somit mindestens eine Hilflosigkeit leichten Grades
(Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV). Das ist unbestritten. Die Meinungen gehen darüber
auseinander, ob die Versicherte im Zeitraum vom 1. Juli 2009 bis 30. Juni 2010
auch in der Lebensverrichtung "Körperpflege" regelmässig in erheblicher Weise
auf die Hilfe Dritter angewiesen war. Bejahendenfalls gilt ihre Hilflosigkeit
als mittelschwer im Sinne von Art. 37 Abs. 2 lit. a IVV und sie hat Anspruch
auf Hilflosenentschädigung für diesen Schweregrad.

3.
Die Vorinstanz hat die Akten dahingehend gewürdigt, die Angaben der betreuenden
Eltern und des Kinder- und Jugendwohnheims Y.________ legten mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit nahe, dass bei mehreren Teilverrichtungen (Einseifen,
Abduschen, Haarewaschen, Abtrocknen, Eincrèmen, Kämmen, Nagelpflege,
Enthaarung, zeitweise Intimpflege) regelmässig insgesamt erhebliche Hilfe
geleistet werden müsse. Es sei daher von einer relevanten Hilflosigkeit auch in
der Lebensverrichtung Körperpflege auszugehen.
Die Beschwerde führende IV-Stelle rügt eine Verletzung von Art. 37 Abs. 2 lit.
a IVV als Folge einer offensichtlich unrichtigen (auf einer unhaltbaren
Beweiswürdigung beruhenden) Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz.

4.
4.1 Eine Sachverhaltsfeststellung ist namentlich dann offensichtlich unrichtig,
wenn der Sinn und die Tragweite eines Beweismittels offensichtlich falsch
eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für den Ausgang des
Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus den abgenommenen
Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen wurden (Urteile 8C_31/2011 vom 6. April
2011 E. 1.3 und 4A_476/2009 vom 2. Dezember 2009 E. 2.3).

4.2 Für die Annahme von Hilflosigkeit in einer mehrere Teilfunktionen
umfassenden Lebensverrichtung genügt, wenn die versicherte Person in Bezug auf
eine dieser Funktionen regelmässig in erheblicher Weise auf (direkte oder
indirekte) Dritthilfe angewiesen ist (BGE 121 V 88 E. 3c S. 91; 117 V 146 E. 2
S. 148; AHI 1996 S. 170, H 164/92 E. 3c; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl.
2009, N. 9 zu Art. 9 ATSG). Eine blosse Erschwerung oder verlangsamte Vornahme
von Lebensverrichtungen vermag nicht bereits eine Hilflosigkeit zu begründen
(ZAK 1986 S. 481, I 25/85 E. 2b; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 127/
00 vom 26. März 2001 E. 3b/dd; Urteil 8C_912/2008 vom 5. März 2009 E. 10.2).
Die Körperpflege umfasst Waschen, Kämmen, Rasieren, Baden/Duschen (vgl. Rz.
8020 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der
Invalidenversicherung [KSIH, in der ab 1. Januar 2012 gültigen Fassung]). Eine
allfällige Hilfsbedürftigkeit beim Schneiden der Nägel oder beim Enthaaren ist
grundsätzlich irrelevant, da die Hilfe nicht täglich erforderlich ist (Urteil
8C_912/2008 vom 5. März 2009 E. 10.2).
4.3
4.3.1 Die IV-Stelle weist richtig darauf hin, dass die Eltern der
Beschwerdegegnerin den Abklärungsbericht vom 17. November 2010 unterschrieben
hatten, ohne ihre Aussage zu korrigieren, ihre Tochter sei seit Juni 2009 in
der Körperpflege auf keine regelmässige Dritthilfe mehr angewiesen. Ergänzend
gaben sie lediglich "Bedarf der Anwesenheit regelmässig" an. Der Leiter des
Kinder- und Jugendwohnheims Y.________ hatte sich am 26. Januar 2011 in dem
Sinne geäussert, die Versicherte sei in der Lage, die tägliche Körperpflege
selbständig durchzuführen. Allenfalls müsse zwischendurch einmal die Zahnbürste
gereinigt werden. Auch beim Duschen und Abtrocknen sei sie grösstenteils
selbständig. Es komme selten vor, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen müsse.
Seine mündlich gemachten Angaben bestätigte der Leiter des Kinder- und
Jugendwohnheims Y.________ mit Unterschrift vom 30. Januar 2011. Aufgrund
dieser Akten konnte der rechtserhebliche Sachverhalt in dem Sinne als erstellt
gelten, dass die Beschwerdegegnerin spätestens ab 1. Juli 2009 überwiegend
wahrscheinlich bei der Körperpflege nicht mehr auf regelmässige erhebliche
Dritthilfe angewiesen war. Weiterer diesbezüglicher Abklärungen bedurfte es
nicht.
4.3.2 Indem die Vorinstanz das von den Eltern der Versicherten eingereichte
Schreiben des Kinder- und Jugendwohnheims Y.________ vom 10. November 2011 zum
Anlass nahm, bei dieser Institution wegen der nunmehr unklaren Aktenlage eine
Beweisauskunft einzuholen, und diese sowie weitere neu erstellte ärztliche
Berichte in die Beweiswürdigung einbezog, verletzte sie Bundesrecht. Der
rechtserhebliche Sachverhalt war von der IV-Stelle richtig und vollständig
abgeklärt, weiterer Erhebung bedurfte es nicht (vgl. BGE 136 V 156 E. 3.3 S.
158 und SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111, U 571/06 E. 4.1 und 4.2). Abgesehen davon
vermögen die Berichte des Kinder- und Jugendwohnheims Y.________ vom 10.
November 2011 und 16. Februar 2012 nicht überzeugend darzutun, weshalb die im
Januar 2011 gemachten Aussagen unzutreffend waren: Dabei habe es sich um eine
Momentaufnahme gehandelt; die Versicherte erlebe zum Teil sehr verschiedene
Tagesverfassungen; damals im Januar 2011 habe sie zudem noch keine
Schwindelanfälle gehabt, wie es seit geraumer Zeit immer wieder vorkomme. Das
unbestrittene Angewiesensein auf Hilfestellung beim Waschen des linken Arms
wegen des armbetonten spastischen rechtsseitigen Hemisyndroms erreicht nach
zutreffender Auffassung der IV-Stelle nicht die notwendige Erheblichkeit. Das
Waschen des Rückens und der Füsse sollte mit der funktionstüchtigen linken
Hand, allenfalls bei Verwendung geeigneter Hilfsmittel oder Vorrichtungen (ZAK
1986 S. 481, I 25/85 E. 2), möglich sein. Die Vorbringen der Beschwerdegegnerin
in ihrer Vernehmlassung vermögen am Gesagten nichts zu ändern.

4.4 Fehlt es somit in Bezug auf die Körperpflege am Erfordernis, regelmässig in
erheblicher Weise auf (direkte oder indirekte) Dritthilfe angewiesen zu sein,
lässt sich der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit
mittelschweren Grades - für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 30. Juni 2010 - nicht
auf Art. 37 Abs. 2 lit. a IVV stützen. Eine andere Anspruchsgrundlage,
insbesondere Art. 37 Abs. 2 lit. b IVV, fällt nicht in Betracht. Nach den
unwidersprochen gebliebenen Darlegungen der Vorinstanz bedurfte die Versicherte
nicht der dauernden persönlichen Überwachung im Sinne dieser Bestimmung. Wie
die Beschwerdegegnerin indessen zu Recht geltend macht, ist die Änderung des
Grades der Hilflosigkeit erst ab 1. Oktober 2009 zu berücksichtigen (Art. 88a
Abs. 1 IVV; vgl. Urteil 9C_708/2010 vom 25. Februar 2011 E. 3 und Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts I 617/98 vom 6. Januar 2000 E. 1b).

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens haben die Parteien die Gerichtskosten nach
Massgabe ihres Unterliegens zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die
Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung (Art.
68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. April 2012 wird
dahingehend abgeändert, dass der Beschwerdegegnerin für die Monate Juli bis
September 2009 Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades und
für die Monate Oktober 2009 bis Juni 2010 Hilflosenentschädigung für
Hilflosigkeit leichten Grades zugesprochen wird.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden Fr. 150.- der Beschwerdeführerin
und Fr. 350.- der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 700.- zu entschädigen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die Gerichtskosten für das
vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. August 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler