Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 355/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_355/2012

Urteil vom 29. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
Innova Krankenversicherung AG,
Direktion, Bahnhofstrasse 4, 3073 Gümligen,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin,

U.________,
handelnd durch seine Mutter.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 28. März 2012.

Sachverhalt:

A.
U.________, geboren 1994, erlitt am 30. Dezember 2009 bei einem Skiunfall eine
Paraplegie sub Th2, initial komplett, im Verlauf inkomplett. Seit dem Unfalltag
bis am 21. Mai 2010 war er zur Rehabilitation im Paraplegikerzentrum X.________
hospitalisiert. Mit Schreiben vom 1. März 2011 meldete die Innova
Krankenversicherung AG U.________, welcher bei ihr für Krankenpflege versichert
ist, bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Am 7. Juni 2011
bestätigte die Mutter von U.________ das Gesuch um Übernahme medizinischer
Massnahmen durch die Invalidenversicherung. Mit Verfügung vom 22. Dezember 2011
lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau das Gesuch um Kostengutsprache für
medizinische Massnahmen ab. Zur Begründung führte sie aus, die Lähmungen von
U.________ seien regredient und bei Austritt aus dem Paraplegikerzentrum habe
er sich wieder selbstständig ohne Rollstuhl fortbewegen können. Damit habe eine
Leidensbehandlung vorgelegen, für welche die Invalidenversicherung nicht
aufzukommen habe.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher die Innova
Krankenversicherung AG die Übernahme des Rehabilitationsaufenthalts von
U.________ im Paraplegikerzentrum X.________ als medizinische Massnahme der
Invalidenversicherung beantragt hatte, wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 28. März 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erneuert die Innova
Krankenversicherung AG den Antrag auf Übernahme der Kosten des Aufenthalts von
U.________ im Paraplegikerzentrum X.________ vom 30. Dezember 2009 bis 21. Mai
2010 als medizinische Massnahme durch die Invalidenversicherung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, lässt sich die
Mutter des Versicherten nicht vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Versicherte haben bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den
Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die
Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu
verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Art. 12 Abs. 1
IVG). Anspruch auf Übernahme medizinischer Massnahmen durch die
Invalidenversicherung besteht, wenn durch die entsprechende Vorkehr stabile
oder wenigstens relativ stabilisierte Folgezustände von Geburtsgebrechen,
Krankheit oder Unfall - im Einzelnen: Beeinträchtigungen der Körperbewegung,
der Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit - behoben oder gemildert
werden, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (BGE 120 V 277 E. 3a S. 279 mit
Hinweisen). Als medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG gelten nach
Art. 2 Abs. 1 IVV namentlich chirurgische, physiotherapeutische und
psychotherapeutische Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen
Wissenschaft angezeigt sein müssen und den Eingliederungserfolg in einfacher
und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 1 IVV).
Nach der zu Art. 12 IVG (in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung)
ergangenen Rechtsprechung galt Folgendes: Vom strikten Erfordernis der
Korrektur stabiler Funktionsausfälle oder Defekte ist im Fall von
Minderjährigen gegebenenfalls abzusehen. Hier können medizinische Vorkehren
schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des
einstweilen noch labilen Charakters des Leidens von der Invalidenversicherung
übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein
anderer stabilisierter Zustand einträte, welcher die Berufsbildung oder die
Erwerbsfähigkeit voraussichtlich beeinträchtigen würde. Die entsprechenden
Kosten werden bei Minderjährigen also von der Invalidenversicherung getragen,
wenn das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer
korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich
behindernden stabilen pathologischen Zustand führen würde (BGE 131 V 9 E. 4.2
S. 21 mit Hinweisen).

1.2 An dieser für jugendliche Versicherte geltenden Rechtsprechung ist auch in
Anwendung der seit 1. Januar 2008 gültigen Fassung von Art. 12 IVG
festzuhalten. Der am 12. Januar 1994 geborene Versicherte vollendete im
Zeitraum, als er im Paraplegikerzentrum X.________ hospitalisiert war, sein 16.
Altersjahr, womit die zitierte Rechtsprechung anwendbar ist.

2.
Die Vorinstanz hat den Leistungsanspruch des Versicherten unter dem
Gesichtswinkel von Art. 12 IVG geprüft, ohne der vorstehend zitierten
Rechtsprechung für Minderjährige Rechnung zu tragen. Weil die unmittelbar nach
dem Skiunfall vom 30. Dezember 2009 komplette Paraplegie sub Th2 sich in den
folgenden Monaten besserte und der Versicherte bis zum Ende der Hospitalisation
(21. Mai 2010) wieder normal gehen lernte, nahm das kantonale Gericht an, es
liege eine regrediente Lähmung vor. Deren Behandlung sei als Leidensbehandlung
zu qualifizieren; diese falle nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 IVG.

3.
3.1 Dieser Auffassung kann mit Blick auf die vorstehenden Erwägungen (E. 1
hievor) nicht beigepflichtet werden. Im Paraplegikerzentrum X.________ unterzog
sich der Versicherte einer komplexen stationären, interdisziplinären
Rehabilitation mit Physiotherapie, Ergotherapie und aktivierender Pflege
(Bericht der Oberärztin Frau Dr. med. S.________ vom 30. März 2010). Es handelt
sich dabei um stationär durchgeführte medizinische Massnahmen nach Art. 2 Abs.
1 IVV, welche von der Invalidenversicherung gestützt auf Art. 12 Abs. 1 IVG zu
übernehmen sind. Obwohl die Lähmungen sich zurückbildeten, kann nicht auf
labiles pathologisches Geschehen geschlossen werden. Aufgrund einer
prognostischen Beurteilung, wie sie bei der Prüfung des Anspruchs auf
medizinische Eingliederungsmassnahmen vorzunehmen ist (SVR 2011 IV Nr. 5 S. 15
mit Hinweis), kann der Erfolg der Behandlung mit Wiedergewinnung der
Gehfähigkeit nach anfänglicher Lähmung innerhalb einer Behandlungsdauer von
rund fünf Monaten nicht berücksichtigt werden. Vielmehr ist aufgrund der
ursprünglichen Diagnose (initial komplette Paraplegie sub Th2) von einem
stabilen Funktionsausfall oder zumindest davon auszugehen, dass ohne die
medizinischen Massnahmen eine Heilung mit Defekt eintreten würde, welche die
geplante Berufsbildung mit Antritt einer Lehrstelle als Fachangestellter
Gesundheit am Spital Y.________ voraussichtlich beeinträchtigen würde. Die
während des stationären Aufenthalts im Paraplegikerzentrum X.________
durchgeführten Therapien waren im Sinne der Rechtsprechung auf eine dauernde
und wesentliche Verbesserung der Berufs-, Ausbildungs- und Erwerbfähigkeit
gerichtet. Ohne diese Massnahmen wäre eine Heilung mit Defekt oder ein anderer
stabilisierter Zustand eingetreten, wodurch das berufliche Fortkommen des
Versicherten wahrscheinlich behindert worden wäre. Blosse Leidensbehandlung,
für welche die Krankenversicherung aufkommen müsste, liegt entgegen der Ansicht
des kantonalen Gerichts nicht vor.

3.2 Die Vorinstanz hat die zum Anspruch minderjähriger Versicherter auf
medizinische Eingliederungsmassnahmen nach Art. 12 IVG ergangene Rechtsprechung
mit den dabei geltenden abweichenden Voraussetzungen nicht angewendet, weshalb
der angefochtene Entscheid Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 28. März 2012 aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin wird
verpflichtet, die Kosten des Aufenthalts von U.________ im Paraplegikerzentrum
X.________ zu übernehmen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, U.________, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer