Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 335/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_335/2012

Urteil vom 17. Juli 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdeführerin,

gegen

H.________, durch
Rechtsanwältin Eliane Hostettmann,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 23.
Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1953 geborene H.________, Mutter einer 1988 geborenen Tochter, leidet seit
1989 an einem Cauda-equina-Syndrom und bezog deswegen nebst Hilfsmitteln und
Hilflosenentschädigung seit August 1990 eine ganze resp. seit Juni 1997 eine
halbe Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 75 resp.
63 %, wobei für den Gesundheitsfall eine Erwerbstätigkeit von 50 % angenommen
wurde. Infolge der 4. IVG-Revision erhöhte sich der Anspruch ab 1. Januar 2004
auf eine Dreiviertelsrente. Die 2000 und 2003 erfolgten Überprüfungen des
Rentenanspruchs ergaben keine Veränderung des Invaliditätsgrades (Mitteilung
vom 12. April 2000 und Verfügung vom 6. August 2004). Im Juli 2009 leitete die
IV-Stelle Zug erneut ein Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen und
Durchführung des Vorbescheidverfahrens setzte sie mit Verfügung vom 24. Januar
2011 die bisherige Dreiviertelsrente auf das Ende des der Zustellung folgenden
Monats auf eine halbe Rente herab. Ausgehend von einem unveränderten Status der
Versicherten als zu 50 % Erwerbstätige und einer im Wesentlichen unveränderten
gesundheitlichen Situation ermittelte sie - nachdem die Versicherte eine
Tätigkeit als Ernährungsberaterin aufgenommen hatte - eine Einschränkung im
Haushalt von 20 % und im Erwerbsbereich von 83 %, woraus sich ein
Invaliditätsgrad von 52 % ergibt.

B.
In Gutheissung der Beschwerde der H.________ hob das Verwaltungsgericht des
Kantons Zug mit Entscheid vom 23. Februar 2012 die Verfügung vom 24. Januar
2011 auf und sprach ihr ab 1. Juli 2009 eine ganze Invalidenrente zu.

C.
Die IV-Stelle Zug führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag, der Entscheid vom 23. Februar 2012 sei aufzuheben und die
Verfügung vom 24. Januar 2011 zu bestätigen.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
In der vorinstanzlich angefochtenen Verfügung wurde der Invaliditätsgrad nach
der gemischten Methode (Art. 28a Abs. 3 IVG) mit einem Anteil der
Erwerbstätigkeit von 50 % ermittelt. Nach Auffassung der Vorinstanz hingegen
ist überwiegend wahrscheinlich davon auszugehen, dass die Versicherte heute bei
voller Gesundheit einer vollzeitlichen Erwerbstätigkeit nachgehen würde. Sie
hat daher den Invaliditätsgrad nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG [SR 830.1] in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1
IVG) bestimmt. Dabei hat sie ein Valideneinkommen von Fr. 94'860.50 und ein
Invalideneinkommen von Fr. 20'355.- ermittelt, woraus ein Invaliditätsgrad von
79 % resultiert, der einen Anspruch auf eine ganze Invalidenrente begründet
(Art. 28 Abs. 2 IVG).

Die Beschwerde führende IV-Stelle hält die Anwendung der allgemeinen Methode
für bundesrechtswidrig resp. die entsprechenden Sachverhaltsfeststellungen für
willkürlich.

3.
3.1 Ob eine versicherte Person als ganztägig oder zeitweilig erwerbstätig oder
als nichterwerbstätig einzustufen ist, ergibt sich aus der Prüfung, was sie bei
im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche
Beeinträchtigung bestünde. Entscheidend ist somit nicht, welches Ausmass der
Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden
könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch erwerbstätig wäre (BGE 133 V
504 E. 3.3 S. 507; Urteil 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008 E. 3.3; je mit
Hinweisen). Bei im Haushalt tätigen Versicherten im Besonderen sind die
persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse ebenso wie
allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das Alter, die
beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die persönlichen Neigungen und
Begabungen zu berücksichtigen. Die Statusfrage beurteilt sich praxisgemäss nach
den Verhältnissen, wie sie sich bis zum Erlass der Verwaltungsverfügung
entwickelt haben, wobei für die hypothetische Annahme einer im Gesundheitsfall
ausgeübten (Teil-)Erwerbstätigkeit der im Sozialversicherungsrecht übliche
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich ist (BGE 130 V 393
E. 3.3 S. 396; 125 V 146 E. 2c S. 150 mit Hinweisen; Urteil 9C_922/2011 vom 29.
Mai 2012 E. 3.1.1).

3.2 Die auf eine Würdigung konkreter Umstände gestützte Festsetzung des
hypothetischen Umfanges der Erwerbstätigkeit ist eine Tatfrage, welche das
Bundesgericht nur in den genannten Schranken (E. 1) überprüft. Eine Rechtsfrage
läge nur vor, wenn die Festlegung des Umfangs der Erwerbstätigkeit im
Gesundheitsfall ausschliesslich gestützt auf die allgemeine Lebenserfahrung
erfolgt wäre (Urteile 9C_39/2010 vom 25. März 2010 E. 3.2; 9C_559/2009 vom 18.
Dezember 2009 E. 3; Entscheid des Eidg. Versicherungsgerichts I 708/06 vom 23.
November 2006 E. 3.2), was jedoch nicht der Fall ist. Die konkrete
Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar (Urteile 9C_270/2012 vom 23.
Mai 2012 E. 2.3; 8C_763/2008 vom 19. Juni 2009 E. 1, nicht publiziert in: BGE
135 V 306).
3.3
3.3.1 In Ziff. 3.5 des Abklärungsberichts Haushalt vom 8. Februar 2010 wurde
die Frage, ob die Versicherte ohne Behinderung eine Erwerbstätigkeit ausüben
würde, mit "ja", jene nach dem Ausmass der Tätigkeit mit "50 %" und jene nach
deren Art mit "Ernährungsberaterin" beantwortet. Die Vorinstanz hielt diese
Angaben nicht für überzeugende "Aussagen der ersten Stunde": Sie verwies dafür
nicht nur auf den seit 22 Jahren beeinträchtigten Gesundheitszustand, sondern
auch darauf, dass die Angabe "Ernährungsberaterin" nicht überzeuge, weil die
Versicherte doch eher in ihrem angestammten Beruf als Hauswirtschafts- und
Handarbeitslehrerin tätig wäre. Es scheine daher, als habe die Abklärungsperson
die bisher gültige Status-Situation einfach übernommen.
3.3.2 Was die Beschwerdeführerin hiegegen vorbringt, vermag keine unhaltbare
Beweiswürdigung darzutun. Zwar sind die sogenannten spontanen "Aussagen der
ersten Stunde" in der Regel unbefangener und zuverlässiger als spätere
Darstellungen, die bewusst oder unbewusst von nachträglichen Überlegungen
versicherungsrechtlicher oder anderer Art beeinflusst sein können (BGE 121 V 45
E. 2a S. 47). Diese Rechtsprechung statuiert indessen keine unabänderliche
Regel der Beweiswürdigung in dem Sinne, dass solche Angaben zwingend
verbindlich wären (Urteile 9C_973/2011 vom 4. Mai 2012 E. 4.2; 9C_139/2010 vom
29. Oktober 2010 E. 3.2), was dem obersten Grundsatz der freien Beweiswürdigung
(Art.. 61 lit. c ATSG) zuwiderliefe. Im Abklärungsbericht Haushalt fehlen
weitere Ausführungen zum aktuellen Status und solche finden sich auch nicht in
anderen Unterlagen. Weiter wandte die Versicherte - die entgegen der Auffassung
der IV-Stelle seit ihrer Anmeldung zum Leistungsbezug immer als zu 50 %
erwerbstätig galt - gegen den Vorbescheid ein, ein "50 % Pensum [sei] nie ein
Thema" gewesen. Damit scheint sie - ohne anwaltlich vertreten gewesen zu sein -
geltend gemacht zu haben, sich gar nicht (explizit) zur Statusfrage geäussert
zu haben. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass die
vorinstanzliche Beweiswürdigung oder die in diesem Zusammenhang getroffenen
Feststellungen offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich sein oder auf einer
Rechtsverletzung beruhen sollen. Sie bleiben daher für das Bundesgericht
verbindlich (E. 1).
3.4
3.4.1 In Bezug auf die Kriterien zur Beurteilung der Erwerbstätigkeit ohne
Gesundheitsschaden (E. 3.1) hat das kantonale Gericht festgestellt, die
Versicherte habe als Hauswirtschafts- und Handarbeitslehrerin seit 1974 und
auch nach ihrer Heirat 1982 immer eine vollzeitige Tätigkeit und unmittelbar
nach der 1988 erfolgten Geburt ihrer Tochter ein Pensum von 50 % ausgeübt. Bei
Erlass der Verfügung habe die 22-jährige Tochter nicht mehr zu Hause gelebt.
Die Beschwerdegegnerin betreibe keine zeitintensiven Freizeitaktivitäten und
hätte im Zweipersonenhaushalt auch im Gesundheitsfall auf die Mithilfe des
Ehemannes zählen dürfen. Die Familie sei finanziell nicht auf Rosen gebettet.
Daher hätte sich die Beschwerdeführerin überwiegend wahrscheinlich für ein
volles Pensum entschieden.
3.4.2 Die Beschwerdeführerin hält diese Feststellungen für "reine
Spekulationen". Diesbezüglich ist ihr soweit beizupflichten, als ein
hypothetischer Sachverhalt zwangsläufig keine gesicherten Tatsachen betrifft.
Sie legt indessen nicht dar, inwiefern die vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen offensichtlich unrichtig sein oder sonst wie gegen
Bundesrecht verstossen sollen (E. 1). Aus dem Vorbringen, es habe keine
finanzielle Notwendigkeit für eine vollzeitige Erwerbstätigkeit bestanden, kann
sie nichts für sich ableiten: Ausschlaggebend ist nicht die Zumutbarkeit oder
Erforderlichkeit der Erwerbstätigkeit, sondern der hypothetische Sachverhalt
ohne Invalidität (E. 3.1). Dafür ist die finanzielle Situation lediglich ein
Aspekt neben anderen. Selbst wenn sich die finanzielle Lage seit 2003
verbessert haben sollte, spricht dies nicht gegen die Erweiterung des
(hypothetischen) Erwerbspensums, zumal seit der letzten Rentenrevision die
Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber der Tochter weggefallen sind.
Namentlich angesichts der Ausbildung, der tatsächlichen Berufsausübung und der
persönlichen Neigungen der Versicherten, die laut verbindlicher
vorinstanzlicher Feststellung (E. 1) trotz ihrer Behinderung auf eigene Kosten
eine Ausbildung als Ernährungsberaterin absolvierte und 2005 eine entsprechende
selbstständige Erwerbstätigkeit aufnahm, ist der vorinstanzliche Schluss auf
einen Status als vollzeitig Erwerbstätige nicht offensichtlich unrichtig und
daher für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).

3.5 Nach dem Gesagten verletzt es nicht Bundesrecht, wenn die Vorinstanz die
Einkommensvergleichsmethode angewendet hat. Die übrigen Faktoren der
Invaliditätsbemessung werden nicht angefochten. Es besteht kein Anlass für eine
nähere Prüfung von Amtes wegen (BGE 125 V 413 E. 1b und 2c S. 415 ff.; 110 V 48
E. 4a S. 53). Die Beschwerde ist unbegründet.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. Juli 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann