Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 333/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_333/2012

Urteil vom 21. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kreso Glavas,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 29. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
S.________, geboren 1978, meldete sich unter Hinweis auf Kopf- und
Rückenschmerzen sowie Schmerzen am linken Bein, bestehend seit einem (Auto-)
Unfall im Juli 2006, am 14. August 2007 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an (Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit,
Arbeitsvermittlung, Rente). Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte erwerbliche
Abklärungen durch, zog die Akten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) betreffend den Verkehrsunfall vom 24. Juli 2006, eine am 26. Juli 2006
erlittene Meniskusläsion und betreffend weitere Abklärungen der
Unfallversicherung sowie von dieser eingeholte Berichte bei. Mit Verfügung vom
28. September 2007 stellte die SUVA ihre Leistungen per 31. Oktober 2007 ein
(bestätigt mit Einspracheentscheid vom 12. Dezember 2007). Nach Eingang eines
Berichtes des behandelnden Psychiaters Dr. med. L.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, vom 20. Oktober 2007, dem weitere medizinische
Unterlagen beigefügt waren, und zusätzlichen erwerblichen Abklärungen
veranlasste die IV-Stelle am 28. April 2009 eine orthopädisch-psychiatrische
Abklärung im medizinischen Gutachtenzentrum X.________ (Gutachten vom 27. Mai/
5. Juli 2009; Dres. med. N.________ [Spezialarzt Orthopädie FMH] und J.________
[Eidg. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie]). Hiezu holte sie eine
Stellungnahme ein des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Dr. med. T.________,
FMH Allgemeinmedizin) vom 25. August 2009. Nachdem S.________ gegen einen
leistungsablehnenden Vorbescheid vom 30. September 2009 Einwände hatte erheben
lassen, liess die IV-Stelle bei Dr. med. C.________, Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, ein weiteres Gutachten vom 19. März 2010 erstellen, gegen
welches S.________ wiederum Bedenken vortragen liess. Am 8. Juli 2010 verfügte
die IV-Stelle die Zusprechung einer ganzen Rente ab 1. Juli 2007 sowie einer
befristeten halben Rente vom 1. Juli 2009 bis 31. Dezember 2009.

B.
In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobene Beschwerde des S.________ hob
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Verfügung vom 8. Juli
2010 mit Entscheid vom 29. Februar 2012 auf und stellte fest, S.________ habe
vom 1. Juli 2007 bis 31. Dezember 2009 Anspruch auf eine befristete ganze
Rente. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.

C.
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihm auch nach dem 1.
Januar 2010 mindestens eine halbe Rente zuzusprechen. Eventualiter sei eine
neue polydisziplinäre Abklärung zu veranlassen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann die Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch ab 1. Januar 2010. Die Vorinstanz
hat die für die Beurteilung dieses Anspruches einschlägigen Rechtsgrundlagen
und die dazu ergangene Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht stellte fest, für die Beurteilung von Juli 2007 bis
mindestens März 2009 bestehe unbestrittenermassen eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit. Indes sei die IV-Stelle basierend auf einer Stellungnahme
der RAD-Ärztin Dr. med. T.________ zu Unrecht bereits ab April 2009 von einer
relevanten gesundheitlichen Verbesserung und einer Arbeitsfähigkeit von 50 %
ausgegangen. Gestützt auf das Gutachten des Dr. med. C.________ vom 19. März
2010 und den insoweit übereinstimmenden Angaben des Dr. med. L.________ falle
eine relevante Besserung frühestens ab Oktober 2009 in Betracht. Dr. med.
C.________ lege gestützt auf seine eigenen Untersuchungen vom 21. Januar, 1.
Februar und 1. März 2010 sowie auf eine telefonische Bestätigung des Dr. med.
L.________ vom 16. März 2010 nachvollziehbar dar, dass sich die depressive
Erkrankung und Entwicklung ab Oktober 2009 stabil zurückgebildet habe und auch
die mit der depressiven Störung verbunden gewesenen aggressiv-gereizten Züge
rückläufig gewesen seien. Weil nach einleuchtender Begründung des Dr. med.
C.________ die Arbeitsfähigkeit einzig durch die depressive Erkrankung und
Entwicklung beeinträchtigt gewesen sei, könne ab Oktober 2009 von einer
vollständigen Arbeitsfähigkeit (in adaptierten Tätigkeiten) ausgegangen werden.
Auszuschliessen seien - mangels Erfüllung der einschlägigen Diagnosekriterien -
insbesondere eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach psychischer
Erkrankung (ICD-10 F62.1), eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach
Extrembelastung (ICD-10 F62.0) sowie eine posttraumatische Belastungsstörung
(ICD-10 F43.1). Dass Dr. med. C.________ die Unterlagen betreffend die
Kriegserlebnisse des Versicherten nicht vorgelegen hätten, vermöge angesichts
der von diesem zutreffend gewürdigten übrigen Akten und der auch andernorts
ausgewiesenen gesundheitlichen Verbesserung nichts zu ändern. Eine von Dr. med.
L.________ als Verdachtsdiagnose erhobene somatoforme Schmerzstörung habe Dr.
med. C.________ ebenfalls in beweistauglicher Weise ausgeschlossen. Selbst wenn
eine solche Störung hätte diagnostiziert werden können, wäre dem Versicherten
eine willentliche Schmerzüberwindung zumutbar gewesen. Die gegen den Beweiswert
des Gutachtens Dr. med. C.________ angeführten Verständigungsschwierigkeiten
würden nicht näher konkretisiert und auch dem Gutachten selbst liessen sich
keine diesbezüglichen Hinweise entnehmen. Nicht zu beanstanden sei schliesslich
die antizipierte Beweiswürdigung. Damit sei ab Oktober 2009 von einer um 10 %
verminderten Arbeitsfähigkeit als Kurier/Chauffeur bei voller Stundenpräsenz
auszugehen, in einer adaptierten Tätigkeit bestehe ab diesem Zeitpunkt keine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mehr. Da Validen- und Invalideneinkommen auf
derselben lohnstatistischen Basis zu ermitteln seien, resultiere in jedem Fall
ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss eine Verletzung der
Beweiswürdigungsregeln durch das kantonale Gericht. Er bringt vor, Dr. med.
C.________ habe die Begutachtungsregeln krass verletzt, indem er die
Schilderungen der erlittenen Kriegstraumatisierungen als unglaubwürdig erachtet
und den Eingang der entsprechenden Dokumentation nicht abgewartet habe. Sein
Gutachten sei daher nicht beweistauglich. Indem Vorinstanz und
Beschwerdegegnerin nach Erhalt der Kriegs- und Lagerdokumentation darauf
verzichtet hätten, diese an Dr. med. C.________ weiterzuleiten, damit er eine
aktualisierte Einschätzung abgebe, seien sie in Willkür verfallen. Die
diesbezüglichen Unterlagen seien spätestens im letztinstanzlichen Verfahren zu
berücksichtigen. Zu Unrecht sei die Beurteilung des Dr. med. J.________ als
nicht schlüssig beurteilt worden. Eine gesundheitliche Verbesserung ergebe sich
nicht daraus, dass Dr. med. L.________ mit der Zeit besseren Zugang zu ihm
gefunden habe und widerspreche auch dem medizinisch bekannten Umstand, dass
schwere Misshandlungen und Gräueltaten zwar eine Zeit lang unterdrückt werden
könnten, nach "geeigneten Vorfällen" (hier sein Verkehrsunfall vom 24. Juli
2006) aber wieder hervorbrechen könnten, was die Vorinstanz zu Unrecht
missachtet habe. Selbstredend sei er einverstanden mit einer Aufarbeitung der
neuen medizinischen Dokumentation durch eine ausdrücklich beantragte
Oberbegutachtung.

4.
Der Gutachter Dr. med. C.________ erachtete die beschwerdeführerischen
Schilderungen der Kriegserlebnisse zwar als "nicht ohne weiteres stimmig und
hinsichtlich Plausibilität nicht einfach nachvollziehbar". Indes war für ihn
nicht deren Wahrheitsgehalt entscheidend, sondern wichtiger sei die Art der
Traumaschilderung. Der Beschwerdeführer habe "direkt, spontan, ohne Umschweife,
aber auch ohne seelische Belastung, ohne vegetative Begleitreaktionen, ohne
Überwachheit, ohne Schreckhaftigkeit, ohne Kontrollverlust oder vermehrte
Angst" berichtet. Dies spreche "gegen ein Wiedererleben der schrecklichen,
traumatischen Ereignisse, gegen Vermeidungsverhalten und gegen anhaltende
Symptome erhöhter Erregbarkeit, wie sie für die Diagnosestellung [der
posttraumatischen Belastungsstörung] notwendig wären". Auch für die anderen von
Dr. med. C.________ verworfenen Diagnosen sind der Umgang des Versicherten mit
dem Erlebten und sein Verhalten nach dem Unfall im Jahre 2006 massgeblich,
nicht die Einzelheiten der zweifellos schrecklichen Kriegserlebnisse. Mit
sorgfältiger, nachvollziehbarer Begründung, auf welche die Vorinstanz in
bundesrechtskonformer Beweiswürdigung abgestellt hat, legte Dr. med. C.________
dar, weshalb weder eine anhaltende Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung
noch eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung noch eine andauernde
Persönlichkeitsänderung nach psychischer Erkrankung diagnostiziert werden
konnten. Es ist nach dem Gesagten nicht wahrscheinlich, dass der Gutachter zu
einer anderen Beurteilung gekommen wäre, wenn er in die Akten des Roten Kreuzes
Einsicht genommen und die Schilderungen des Beschwerdeführers betreffend die
Kriegsgräuel für zweifellos und vollumfänglich zutreffend erachtet hätte. Dass
das kantonale Gericht dem Gutachten Dr. med. C.________ vollen Beweiswert
zuerkannte und mit sorgfältiger Begründung, auf die verwiesen werden kann,
namentlich nicht auf die Beurteilung des Dr. med. J.________ abgestellt hat,
sondern mit Dr. med. C.________ von einer gesundheitlichen Verbesserung ab
Oktober 2009 ausging (welche nicht zuletzt auch der behandelnde Psychiater
bestätigte, dessen - telefonische - Auskünfte vom 16. März 2010 der
Beschwerdeführer nicht ausreichend substanziiert bestreitet), ist weder
willkürlich noch sonst wie bundesrechtswidrig. Für eine Oberbegutachtung
besteht kein Raum, auch unter dem Aspekt des beschwerdeweise vorgebrachten
Argumentes nicht, wonach die Erinnerung an erlittene schwere Misshandlungen und
Gräueltaten unter bestimmten Voraussetzungen Jahre später reaktiviert werden
kann (vgl. hiezu bspw. Kunzke/Güls, Diagnostik einfacher und komplexer
posttraumatischer Störungen im Erwachsenenalter, in: Psychotherapeut 2003, S.
51), was nach dem Gesagten im Falle des Beschwerdeführers für die Zeit nach
Oktober 2009 nicht (mehr) zutrifft.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. August 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle