Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 327/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_327/2012

Urteil vom 7. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
Schweizerische Ausgleichskasse,
Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf,
Beschwerdeführerin,

gegen

C.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom
1. März 2012.

Sachverhalt:

A.
C.________ bezog vom 1. April 2004 bis 31. Dezember 2008 eine Rente der
Invalidenversicherung und vom 1. Januar 2009 bis ........ eine Rente der
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Am ........ reiste er in sein
Heimatland X.________, wo er seither lebt. Auf entsprechendes Gesuch zahlte ihm
die Schweizerische Ausgleichskasse unter dem Titel Rückvergütung einbezahlter
AHV-Beiträge die Summe von Fr. 5'400.45 aus (Verfügung vom 26. Oktober 2010,
bestätigt mit Einspracheentscheid vom 22. März 2010).

B.
C.________ reichte beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein und beantragte
sinngemäss die Auszahlung eines höheren Rückvergütungsbetrages. Im Verlauf des
Verfahrens (Replik vom 7. September 2010 und Eingabe vom 11. November 2011)
äusserte er sich dahingehend, er beabsichtige bzw. er habe beschlossen, im Juni
2012 in die Schweiz zurückzukehren und hier seinen Ruhestand unter humanitärer
Pflege zu verbringen.

Mit Entscheid vom 1. März 2012 hiess das Bundesverwaltungsgericht die
Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut, soweit es darauf eintrat, und hob den
angefochtenen Einspracheentscheid vom 22. März 2010 auf.

C.
Die Schweizerische Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 1. März 2012 sei
aufzuheben.

C.________ wiederholt, was er bereits in der vorinstanzlichen Eingabe vom 11.
November 2011 sagte, ohne einen Antrag zu stellen. Das Bundesverwaltungsgericht
und das Bundesamt für Sozialversicherungen haben auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die massgeblichen Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen betreffend die
Rückvergütung der von Ausländern an die Alters- und Hinterlassenenversicherung
bezahlten Beiträge, insbesondere Art. 18 AHVG und Art. 2 Abs. 1 RV-AHV (SR
831.131.12) werden im angefochtenen Entscheid richtig wiedergegeben, worauf
verwiesen wird. Der von der Vorinstanz überprüfte und bestätigte Betrag von Fr.
5'400.45, der dem Beschwerdegegner ausgerichtet wurde, ist nicht bestritten.

2.
Die Vorinstanz hat die Erklärung des Beschwerdegegners in der Eingabe vom 29.
November 2011, er wolle die einbezahlten AHV-Beiträge nicht mehr zurückfordern,
"like from the beginning", und er habe beschlossen, Anfang 2012 in die Schweiz
zurückzukehren und hier seinen Ruhestand unter humanitärer Pflege zu
verbringen, als formellen Rückzug seines Gesuchs um Rückvergütung der
geleisteten AHV-Beiträge qualifiziert. Ein solcher - nach der Auszahlung
erklärter - Rückzug sei grundsätzlich zulässig, sofern er nicht
rechtsmissbräuchlich erfolge, was hier indessen nicht der Fall sei. Der bereits
überwiesene Betrag von Fr. 5'400.45 könne nach der Rückkehr in die Schweiz bei
erneutem Bezug einer Altersrente mit den monatlichen Betreffnissen verrechnet
und in wenigen Monaten getilgt werden.

Nach Auffassung der Beschwerde führenden Ausgleichskasse ist der Rückzug des
Gesuchs um Rückvergütung der an die AHV bezahlten Beiträge ohne vorherige
Rückerstattung der von ihr unter diesem Titel bereits ausgerichteten Fr.
5'400.45 rechtsmissbräuchlich. Die gegenteilige vorinstanzliche
Betrachtungsweise verkenne insbesondere, dass tatsächlich und rechtlich keine
reelle Chance bestehe, diese Summe jemals wieder zurück zu erlangen.

3.
3.1 Gemäss Art. 2 Abs. 1 RV-AHV können die Beiträge zurückgefordert werden,
sobald die Person aller Voraussicht nach endgültig aus der Versicherung
ausgeschieden ist und sowohl sie selber als auch die Ehefrau oder der Ehemann
und ihre noch nicht 25-jährigen Kinder nicht mehr in der Schweiz wohnen. Die
betreffende Person muss ihren Wohnsitz im Ausland haben (Art. 18 Abs. 1 AHVG).
Der Wohnsitz im Sinne dieser Vorschrift befindet sich an dem Orte, wo sie sich
mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält (Art. 23 Abs. 1 ZGB in Verbindung
mit Art. 13 Abs. 1 ATSG und Art. 1 Abs. 1 AHVG) und den sie sich zum
Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen gemacht hat (BGE 133 V 309 E. 3.1 S. 312).

3.2 Die Ausgleichskasse ist bei Erlass der Verfügung vom 26. Oktober 2010 und
des - Anfechtungsgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildenden -
Einspracheentscheids vom 22. März 2010 davon ausgegangen, dass die
tatbeständlichen Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 1 RV-AHV gegeben sind. Der
Beschwerdeführer war geschieden und seine 1981 geborene Tochter war bereits
über 25 Jahre alt; er hatte am ........ die Schweiz verlassen und seitdem in
seinem Heimatland X.________ gelebt.

Nach Auffassung der Vorinstanz ist zweifelhaft, ob sich der Beschwerdegegner
mit der Absicht dauernden Verbleibens in X.________ befindet und diesen Ort zum
Mittelpunkt seiner Lebensinteressen gemacht hat. Zur Begründung verweist sie
auf seine in der Replik und in der Eingabe vom 29. November 2011 geäusserte
Absicht, im Juni 2012 in die Schweiz zurückzukehren, um hier den Ruhestand zu
verbringen, sowie auf die Tatsache, dass seine Tochter nach wie vor hier lebt.
Sie hat die Frage des Wohnsitzes jedoch offen gelassen.

3.3 Der Beschwerdegegner war am ........ nach X.________ ausgereist, wo er in
der Folge lebte. Im Oktober 2009 stellte er das Rückvergütungsgesuch. Bis zur
vorinstanzlichen Replik vom 7. September 2010 hatte er sich nie in dem Sinne
geäussert, dass er nicht endgültig in sein Heimatland zurückkehren wollte und
die Schweiz lediglich vorläufig - etwa aus Ungewissheit über eine erfolgreiche
Wiederintegration und Akklimatisierung - verlassen hatte. Es bestehen auch
keine Anhaltspunkte, dass er irgendwelche Vorkehren für den Fall einer Rückkehr
getroffen hätte. Gegenteils hat er offenbar nicht einmal Geld zurückgelegt, um
sich ein Flugticket in die Schweiz kaufen zu können. Seine hier lebende Tochter
hat er offensichtlich nicht um Hilfe gebeten oder sie hat eine solche
abgelehnt. Es kommt dazu, dass der Beschwerdegegner nicht sicher mit der
Wiedererteilung einer Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz rechnen kann, wie
die Ausgleichskasse vorbringt.

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner bei der
Gesuchsstellung, im Zeitpunkt der Verfügung und des Einspracheentscheids
Wohnsitz im Ausland hatte. Die Rückvergütung von der AHV bezahlten Beiträgen
war somit rechtens. Die blosse Absichtserklärung, in die Schweiz zurückzukehren
und hier den Lebensabend zu verbringen, genügte nicht, um nach Massgabe von
Art. 24 Abs. 1 ZGB, wonach der einmal begründete Wohnsitz bestehen bleibt bis
zum Erwerb eines neuen, hier wieder Wohnsitz zu begründen. Da die
Rentenberechtigung von Ausländern Wohnsitz in der Schweiz voraussetzt (Art. 18
Abs. 2 Satz 1 AHVG), kann ein Rückzug des Gesuchs um Rückvergütung keine
Rechtswirkung haben, soweit er im Hinblick auf den Bezug einer Rente der AHV
erklärt worden ist.

4.
Der Rückzug des Rückvergütungsgesuchs ist auch rechtsmissbräuchlich. Ein
Rückkommen auf die Rückvergütung von der AHV bezahlten Beiträgen mit der Folge
der Aufhebung des Einspracheentscheids vom 22. März 2010 erfordert
unbestrittenermassen die Rückerstattung der bereits ausbezahlten Fr. 5'400.45.
Dass der Beschwerdegegner dazu einmal in der Lage sein könnte, ist höchst
ungewiss, wenn nicht unwahrscheinlich.

4.1 Vorab erscheint aufgrund der Unsicherheit in Bezug auf den Erwerb der
Aufenthaltsbewilligung die (Wieder-)Ausrichtung einer Altersrente fraglich.
Abgesehen davon würde die von der Vorinstanz erwähnte Verrechnung mit den
monatlichen Rentenbetreffnissen durch das betreibungsrechtliche Existenzminimum
begrenzt (BGE 136 V 286 E. 6.1 S. 291 mit Hinweisen). Die im Zeitraum von
Januar 2009 bis ........ bezogene Altersrente betrug Fr. 1'274.- im Monat, lag
somit deutlich darunter (vgl. beispielsweise Kreisschreiben der
Schuldbetreibungs- und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Aargau
betreffend Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen
Existenzminimums [Notbedarf] nach Art. 93 SchKG [Fassung vom 21. Oktober
2009]). Unter diesen Umständen muss die Rückerstattung der bereits ausbezahlten
Rückvergütung von Fr. 5'400.45 durch Verrechnung mit künftigen Rentenleistungen
der AHV als illusorisch bezeichnet werden.

4.2 Es kommt dazu, dass die Rückvergütung mangels einer Verfügungsgrundlage
(vorinstanzlich aufgehobener Einspracheentscheid) nicht gestützt auf Art. 25
Abs. 1 ATSG zurückgefordert werden könnte, wie die Beschwerdeführerin richtig
vorbringt. Eine auch im Sozialversicherungsrecht (subsidiär) in Betracht
fallende Rückforderung aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 62 ff. OR; BGE
110 V 145 E. 4a S. 154, 105 V 309 E. I.1 S. 313) dürfte daran scheitern, dass
der Ausgleichskasse der Nachweis, sich im Zeitpunkt der Rückvergütung in einem
Irrtum über die Schuldpflicht befunden zu haben, wohl kaum gelingen würde (vgl.
E. 3.3 Abs. 2 vorne; Art. 63 Abs. 1 OR; BGE 124 II 570 E. 4d S. 579). Im
Übrigen unterliegen Forderungen aus ungerechtfertiger Bereicherung einer
relativen einjährigen Verjährungsfrist, laufend ab Kenntnis vom Anspruch (Art.
67 Abs. 1 OR; BGE 129 III 503 E. 3.4 S. 506).

5.
Nach dem Gesagten verletzt die Aufhebung des Einspracheentscheids vom 22. März
2010 durch die Vorinstanz Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).

6.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Bundesverwaltungsgerichts vom 1. März 2012 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. September 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler