Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 321/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_321/2012

Urteil vom 11. Juli 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
T.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. André Largier,
Beschwerdeführerin,

gegen

Stadt Dietikon,
Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV, Bremgartnerstrasse 22,
8953 Dietikon,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV
(Prozessvoraussetzung),

Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 12. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1989 geborene, bei ihrer Mutter wohnhafte T.________ begann im August 2009
die dreijährige Ausbildung zur Tourismusfachfrau HF an der Schule X.________.
Das Amt für Zusatzleistungen zur AHV/ IV der Stadt Zürich richtete ihr ab
diesem Monat Ergänzungsleistungen (EL) zur Kinderrente der
Invalidenversicherung aus (Verfügungen vom 9. November und 1. Dezember 2009).
Nach dem Wegzug ihres Vaters nach Dietikon war ab Mai 2010 neu die dortige
Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV zuständig für die
Berechnung der EL. Nachdem die Amtsstelle mit unangefochten gebliebener
Verfügung vom 25. Juni 2010 die Leistungen ab 1. Juli 2010 eingestellt hatte,
lehnte sie mit Verfügung vom 20. Dezember 2011 die Ausrichtung von Leistungen
ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 24. Januar 2012 fest.

B.
Auf die hiegegen erhobene Beschwerde der T.________ trat das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 12. März 2012
nicht ein.

C.
T.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der Entscheid vom 12. März 2012 sei aufzuheben und die
Vorinstanz sei zu verpflichten, auf die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 24. Januar 2012 einzutreten, unter Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die Durchführungsstelle für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Dietikon
verzichtet auf eine Stellungnahme. Das kantonale Sozialversicherungsgericht und
das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist
somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der Argumentation der
Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit
Hinweisen; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).

2.
Die Vorinstanz hat ihr Nichteintreten auf die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 24. Januar 2012 damit begründet, eine Drittauszahlung
von EL-Leistungen an das mündige Kind sei gesetzlich nicht vorgesehen. Wie die
IV-Kinderrente sollen die Zusatzleistungen dem invaliden Elternteil
ermöglichen, seiner zivilrechtlichen Unterhaltspflicht nachzukommen. Der
Anspruch stehe somit dem Rentenempfänger zu, ohne die Rechtsstellung des
unterhaltsberechtigten mündigen Kindes zu präjudizieren. Es bestehe daher kein
hinreichendes "Berührtsein" der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 59 ATSG,
um die Verfügung anzufechten, mit der über den laufenden
Ergänzungsleistungsanspruch ihres Vaters entschieden worden sei.

3.
Nach Art. 59 ATSG ist zur Beschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene
Verfügung oder den Einspracheentscheid berührt ist und ein schutzwürdiges
Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. Der Begriff des schutzwürdigen
Interesses für das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht ist gleich
auszulegen wie derjenige nach Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG für das Verfahren der
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vor dem Bundesgericht. Ein
schutzwürdiges Interesse liegt somit vor, wenn die tatsächliche oder rechtliche
Situation des oder der Rechtsuchenden durch den Ausgang des Verfahrens
beeinflusst werden kann. Dabei wird verlangt, dass die Beschwerde führende
Person durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Verfügung oder
Einspracheentscheid) stärker als jedermann betroffen ist und in einer
besonderen, beachtenswerten, nahen Beziehung zur Streitsache steht (BGE 136 V 7
E. 2.1 S. 9 mit Hinweisen; Urteil 9C_822/2011 vom 3. Februar 2012 E. 3.1).

3.1 Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben u.a. Personen (mit Wohnsitz und
gewöhnlichem Aufenthalt [Art. 13 ATSG] in der Schweiz), wenn sie Anspruch auf
eine Rente der Invalidenversicherung haben (Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG). Die
Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung ist in den Art. 9 ff. ELG und Art.
1 ff. ELV geregelt. Hat die EL-ansprechende oder -beziehende Person Kinder, die
einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen, gilt insbesondere
Folgendes: Lebt das Kind nicht bei den Eltern oder lebt es bei einem
Elternteil, der nicht rentenberechtigt ist und für den auch kein Anspruch auf
eine Zusatzrente besteht, so ist die Ergänzungsleistung gesondert zu berechnen.
Dabei ist das Einkommen der Eltern soweit zu berücksichtigen, als es deren
eigenen Unterhalt und den der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen übersteigt (Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV in
Verbindung mit Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG). Vorliegend geht es um einen
Anwendungsfall gesonderter Berechnung der Ergänzungsleistung im Sinne dieser
Verordnungsregelung.

3.2 Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben, sofern die übrigen Voraussetzungen
gegeben sind, nur Personen, die einen selbständigen (originären) Anspruch auf
eine IV-Rente haben. Kinder, für die ein Anspruch auf eine Kinderrente nach
Art. 35 Abs. 1 IVG besteht, können keinen eigenen Anspruch auf
Ergänzungsleistungen begründen. Das gilt auch bei gesonderter Berechnung der
Ergänzungsleistung gestützt auf Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV. Die
betreffenden Kinder können auch nicht, etwa aufgrund einer wirtschaftlichen
Betrachtungsweise, als Destinatäre eines Teils der Ergänzungsleistungen
angesehen werden mit der Folge, dass ihnen ein separat ausgeschiedener Teil
davon auszurichten wäre (SVR 2012 EL Nr. 2 S. 4, 9C_371/2011 E. 2.3 und E.
2.4.2; FamPra.ch 2010 S. 135, 8C_624/2007 E. 5.2).

Mangels Anspruch aus eigenem Recht kann die Beschwerdeführerin nicht direkt,
sondern nur als Dritter "pro Adressat" beschwerdeberechtigt sein.

4.
Im Interesse einer anderen Person ein Rechtsmittel zu ergreifen, erfordert ein
- wie auch immer geartetes - besonderes eigenes Berührtsein (BGE 137 III 67 E.
3.5 S. 74). Der Dritte muss ein selbständiges, eigenes Rechtsschutzinteresse an
der Beschwerdeführung haben, was voraussetzt, dass ihm aus dem streitigen
Verwaltungsakt ein unmittelbarer Nachteil erwächst; bloss mittelbare, faktische
Interessen an dessen Aufhebung oder Änderung reichen nicht aus (SVR 2010 BVG
Nr. 22 S. 86, 9C_918/2009 E. 4.3.1 mit Hinweisen).

4.1 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist sie von der Verfügung und vom
Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin besonders berührt, weil es um die
gesonderte Berechnung ihres Bedarfs gehe und die Ergänzungsleistung bisher -
letztmals für Juni 2010 - ihr und nicht dem nicht in häuslicher Gemeinschaft
lebenden rentenberechtigten Vater ausbezahlt worden sei.
4.2
4.2.1 ELG und ELV enthalten keine Vorschriften über die Drittauszahlung. Der
kraft Art. 1 Abs. 1 ELG anwendbare Art. 20 ATSG regelt unter dem Titel
"Gewährleistung zweckgemässer Verwendung" die Auszahlung an einen Dritten oder
eine Behörde, der oder die der berechtigten Person gegenüber gesetzlich oder
sittlich unterstützungspflichtig ist oder diese dauernd fürsorgerisch betreut.
Um einen solchen Tatbestand geht es hier jedoch nicht. Gemäss der Wegleitung
des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die Ergänzungsleistungen zur AHV
und IV (WEL, in der ab 1. April 2011 gültigen Fassung) wird der gesondert
berechnete EL-Anteil für das Kind [Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV]
grundsätzlich an dieselbe Person oder Zahlstelle ausgerichtet wie die
Kinderrente (Rz. 4240.01). Mündige Kinder können [analog Art. 71ter Abs. 3
AHVV] die Auszahlung ihres gesondert berechneten EL-Anteils an sich verlangen
(Rz. 4240.02).
Art. 71ter Abs. 3 AHVV, in Kraft seit 1. Januar 2011, lautet wie folgt: Wird
das Kind volljährig, so ändert sich an der vorher praktizierten Auszahlung [der
Kinderrente an den rentenberechtigten oder an den nicht rentenberechtigten
Elternteil nach Abs. 1] nichts, es sei denn, das volljährige Kind verlange die
Auszahlung an sich selber. Abweichende vormundschaftliche oder
zivilrichterliche Anordnungen bleiben vorbehalten. Diese Vorschrift ist nach
Art. 82 IVV (in Verbindung mit Art. 35 Abs. 4 Satz 3 IVG) sinngemäss auf
Kinderrenten der Invalidenversicherung anwendbar. Sie wurde als Folge von BGE
134 V 15 erlassen (vgl. SVR 2010 IV Nr. 22 S. 26, 9C_326/2009 E. 3.5).
4.2.2 Es kann offenbleiben, ob Art. 71ter Abs. 3 AHVV sinngemäss auch im
EL-Bereich anwendbar ist und Rz. 4240.01 und 4240.02 WEL gesetzmässig sind oder
ob von einem qualifizierten Schweigen des Gesetz- und Verordnungsgebers
auszugehen ist in dem Sinne, dass eine Auszahlung der für das mündige Kind nach
Art. 7 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 ELV gesondert berechneten Ergänzungsleistung
unzulässig ist, was keinen Raum für eine richterliche Lückenfüllung liesse (BGE
138 II 1 E. 4.2 S. 3). Selbst wenn die Beschwerdeführerin - anders lautende
vormundschaftliche oder zivilrichterliche Anordnungen vorbehalten - Anspruch
darauf hätte, dass die für sie berechnete Ergänzungsleistung ihr und nicht
ihrem Vater oder ihrer Mutter ausgerichtet wird, ergäbe sich daraus nicht ohne
weiteres die den grundsätzlichen und umfangmässigen Leistungsanspruch als
solchen betreffende Beschwerdebefugnis (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts
I 226/04 vom 11. Oktober 2004 E. 4.2).
4.3
4.3.1 Die Berechtigung, einen bundessozialversicherungsrechtlichen Anspruch auf
dem Rechtsmittelweg geltend zu machen, steht in einem engen Zusammenhang mit
der Befugnis, die versicherte Person zum Bezug der entsprechenden Leistung
anzumelden. Nach dem Grundsatz der Einheit des Prozesses vermittelt das dafür
erforderliche Rechtsschutzinteresse bereits den Anspruch auf Erlass einer
Verfügung. Ist eine Person berechtigt, die Anmeldung vorzunehmen, kommt ihr
deshalb regelmässig auch die Legitimation zu, den streitigen Anspruch im
Verwaltungsprozess selbständig zu verfolgen (BGE 130 V 560 E. 4.3 S. 568 mit
Hinweis).
4.3.2 Gemäss Art. 20 Abs. 1 ELV wird der Anspruch auf eine jährliche
Ergänzungsleistung durch eine schriftliche Anmeldung geltend gemacht. Artikel
67 Absatz 1 AHVV ist sinngemäss anwendbar. Nach Satz 2 dieser Bestimmung sind
zur Geltendmachung des Anspruchs auf eine Rente oder Hilflosenentschädigung der
AHV u.a. auch die Kinder des Berechtigten befugt. Die Beschwerdeführerin ist
somit berechtigt, ihren Vater bei der EL anzumelden. Daraus ergibt sich
unmittelbar ihre Legitimation zur Einsprache gegen die Verfügung vom 20.
Dezember 2001 und zur Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 24. Januar
2012. Der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid verletzt somit Bundesrecht
(Art. 95 lit. a BGG).

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Deren Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 12. März 2012 wird aufgehoben. Die Sache wird an die
Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie die Beschwerde gegen den
Einspracheentscheid vom 24. Januar 2012 materiell behandle.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Juli 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler