Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 315/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_315/2012

Urteil vom 18. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Peter Kaufmann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern,
Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; Invalideneinkommen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 13. März 2012.

Sachverhalt:

A.
Die 1974 geborene S.________ meldete sich im November 2007 unter Hinweis auf
Brustkrebs bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nachdem ihr
Hilfsmittel zugesprochen worden waren, ersuchte sie im September 2009 um eine
Rente. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihr
die IV-Stelle Bern bei einem Invaliditätsgrad von 100 resp. 55 % vom 1. August
2008 bis 30. September 2010 eine ganze und ab 1. Oktober 2010 eine halbe
Invalidenrente zu (Verfügungen vom 16. November 2011).

B.
Die Beschwerde der S.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit
Entscheid vom 13. März 2012 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 13. März 2012 und der
Verfügung vom 16. November 2011 betreffend den Rentenanspruch ab 1. Oktober
2010 sei die IV-Stelle zu verurteilen, ihr eine Dreiviertelsrente auszurichten.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat eine vollständige Arbeitsunfähigkeit von August 2007
bis Juni 2010 und eine Einschränkung von 50 % ab Juli 2010 festgestellt. Für
den auf das Jahr 2010 bezogenen Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) hat es das
Valideneinkommen auf Fr. 78'000.- festgesetzt. Bei der Ermittlung des
Invalideneinkommens von Fr. 32'169.45 hat es den Tabellenlohn der
Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE 2010, Tabelle TA1,
Sektor 3 Dienstleistungen, Frauen, Anforderungsniveau 3) herangezogen und die
betriebsübliche Wochenarbeitszeit sowie die um 50 % reduzierte
Leistungsfähigkeit einberechnet, hingegen auf die Vornahme eines Abzugs vom
Tabellenlohn (BGE 126 V 75 E. 5b S. 79 f.; 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.)
verzichtet. Bei einem resultierenden Invaliditätsgrad von 59 % hat es den
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente ab 1. August 2008 und deren Herabsetzung
auf eine halbe Rente ab 1. Oktober 2010 bestätigt.
Die Versicherte beanstandet einzig die Festsetzung des Invalideneinkommens:
Einerseits decke die Arbeitsfähigkeit täglich vier Stunden und nicht ein halbes
durchschnittliches Arbeitspensum ab. Anderseits sei ein Abzug vom Tabellenlohn
angezeigt.

3.
3.1 Was den Umfang der Arbeitsfähigkeit anbelangt, so ist die entsprechende
vorinstanzliche Feststellung nicht offensichtlich unrichtig (E. 1); dies wird
auch nicht geltend gemacht. Im - vom psychiatrischen Experten
mitunterzeichneten - interdisziplinären MEDAS-Gutachten vom 9. November 2010
wurde denn auch angegeben, die Arbeitsfähigkeit sei "um 50 % vermindert" und
angepasste Tätigkeiten seien "4 - 5 Stunden pro Tag" zumutbar. Unter diesen
Umständen ist nicht zu beanstanden, dass das kantonale Gericht die um 50 %
reduzierte Arbeitsfähigkeit auf die betriebsübliche Wochenarbeitszeit von 41,7
Stunden und nicht auf eine 40-Stunden-Woche bezogen hat, was der gängigen
Praxis entspricht. Zudem macht die zeitliche Differenz zwischen der
vorinstanzlichen Annahme und dem behaupteten Umfang der Leistungsfähigkeit
täglich nur gerade 0,17 Stunden, d.h. rund zehn Minuten aus. Angesichts des
Charakters einer Schätzung, wie sie die ärztliche Bezifferung der
Arbeitsfähigkeit darstellt, könnte die Betrachtungsweise des kantonalen
Gerichts auch dann nicht als unhaltbar (vgl. BGE 135 II 145 E. 8.1 S. 153;
Urteile 8C_5/2010 vom 24. März 2010 E. 1.2; 9C_368/2008 vom 11. September 2008
E. 4.2) bezeichnet werden, wenn die Experten explizit und ausschliesslich eine
tägliche Arbeitsfähigkeit von vier Stunden angegeben hätten.
3.2
3.2.1 Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen
Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert
(Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen
werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der
Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie
und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V
321 E. 3b/aa S. 323) und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die
verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit
unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/
aa in fine S. 80). Der Abzug ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall
nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen. Er darf 25 % nicht
übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80). Die
Frage, ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug
vorzunehmen sei, ist eine Rechtsfrage (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f. mit
Hinweis; Urteil 8C_652/2008 vom 8. Mai 2009 E. 4 in fine, nicht publiziert in:
BGE 135 V 297).
3.2.2 Die Vorinstanz ist der Auffassung, den behinderungsbedingten
Einschränkungen sei bereits im Rahmen des medizinisch-theoretischen
Zumutbarkeitsprofils umfassend Rechnung getragen worden. Hinzu komme, dass eine
Tätigkeit im berücksichtigten Dienstleistungssektor keine unzumutbaren,
körperlich schweren Arbeiten erfordere. Auch die übrigen persönlichen Umstände
wie Alter, Dienstjahre oder Staatsangehörigkeit gäben keinen Anlass für die
Annahme einer Lohnbenachteiligung.
3.2.3 Gemäss Beurteilung im MEDAS-Gutachten besteht aus somatischer Sicht keine
Beschränkung der Arbeitsfähigkeit, sofern es sich um "leichte bis gelegentlich
mittelschwere körperliche Tätigkeiten, ohne Überkopfarbeiten" handelt.
Inwiefern darüber hinaus mit Blick auf Wechselpositionen besondere
Anforderungen bestehen, die üblicherweise nicht erfüllt sein sollen bei einer
Arbeitsstelle der Dienstleistungsbranche im Anforderungsniveau 3, ist nicht
ersichtlich und wird auch nicht dargelegt. Der hier zur Diskussion stehende
Sachverhalt ist denn auch nicht vergleichbar mit jenem, der dem Urteil 8C_548/
2010 vom 23. Dezember 2010 (vgl. a.a.O. E. 5.2.2) zugrunde lag: Dort wurde
explizit auf die Bedingung der Wechselbelastung verwiesen und für entsprechende
Arbeiten - im Vergleich zu schweren Tätigkeiten - eine um 5 % höhere
Arbeitsfähigkeit attestiert. Zudem gab dieses Erfordernis nicht für sich
allein, sondern zusammen mit weiteren Umständen Anlass für einen Abzug. Weiter
ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Vermeidung von Stress und
verantwortungsvollen Entscheidungen in der konkret berücksichtigten
Validentätigkeit zusätzliche Lohneinbussen bewirken soll. Sodann bedarf die
Beschwerdeführerin laut MEDAS-Gutachten zwar weiterhin intensiver
psychiatrischer Behandlung, dies indessen in der Erwartung einer Verbesserung
der Beeinträchtigungen. In Bezug auf das Mammakarzinom wird zwar ein
"erhebliches Rezidivrisiko" konstatiert, ein konkreter Hinweis auf eine
(erneute) Manifestation des Krebsleidens konnte aber nicht festgestellt werden.
Diese konkreten Umstände weichen erheblich von jenen im Urteil 9C_68/2009 vom
9. Dezember 2009 (vgl. a.a.O. E. 3.3) ab, so dass sich daraus nichts für die
Beschwerdeführerin ableiten lässt. Schliesslich ist nicht erkennbar, dass die
notwendigen medizinischen Massnahmen über die attestierte Arbeitsunfähigkeit
hinaus Abwesenheiten vom Arbeitsplatz erfordern sollten. Diese Gegebenheiten
lassen die (implizite) vorinstanzliche Feststellung, wonach die Versicherte
aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen keine zusätzlichen
Konkurrenznachteile in Kauf zu nehmen hat, nicht als offensichtlich unrichtig
erscheinen (E. 1).
Die Frage, ob eine lange Abwesenheit vom Arbeitsmarkt in jedem Fall mit einem
Abzug vom Tabellenlohn zu berücksichtigen ist (vgl. Urteile 9C_524/2008 vom 15.
Juli 2009 E. 4 und 4.2; 9C_617/2010 vom 10. Februar 2011 E. 4.3), kann offen
bleiben. Die Beschwerdeführerin war bis Ende Mai 2007 erwerbstätig. Im Rahmen
der Ausbildung zur Hörgeräte-Akustikerin trat sie am 1. August 2007 erneut eine
Arbeitsstelle an, die sie infolge der gegen Ende des gleichen Monats
diagnostizierten Erkrankung aufgab. Im Juli 2010 konnte daher ohnehin noch
nicht von einer dermassen langen Arbeitskarenz gesprochen werden, dass sich
dieser Umstand lohnmindernd hätte auswirken können.
Ein Abzug vom Tabellenlohn ist nur für solche Faktoren zu gewähren, die sich
nach der allgemeinen Lebenserfahrung lohnmindernd auswirken. Die Annahme,
wonach die Teilzeitarbeit von Männern im Allgemeinen proportional geringer
entlöhnt wird als Vollzeitbeschäftigung, ergibt sich nicht von vornherein aus
der allgemeinen Lebenserfahrung, sondern nur insofern, als die Resultate
statistischer Erhebungen für einen solchen Zusammenhang sprechen (vgl. SVR 2010
IV Nr. 28 S. 87, 9C_708/2009 E. 2.1.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_399/2011 vom 11.
Juli 2011 E. 2.2). Das Bundesgericht stützt sich dafür regelmässig auf die
Tabelle T der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für
Statistik, die Auskunft gibt über den standardisierten monatlichen Bruttolohn
"nach Beschäftigungsgrad, Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes und
Geschlecht". Indessen weist die Statistik 2010 wie in früheren Jahren bei
Frauen im Anforderungsniveau 3 für Teilzeitarbeit durchwegs höhere Löhne als
für Vollbeschäftigung aus. Auch wenn sich der Lohnunterschied nicht auf die nur
teilzeitige Arbeitstätigkeit zurückführen lässt (vgl. PHILIPP GEERTSEN, Der
Tabellenlohnabzug, in: Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2012, S. 146 ff.),
steht - in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung - nicht fest, dass
Frauen wegen eines reduzierten Beschäftigungsgrades Lohneinbussen in Kauf zu
nehmen haben. Ein Abzug vom Tabellenlohn lässt sich daher auch damit nicht
begründen.
3.2.4 Andere Gründe für einen Tabellenlohnabzug sind nicht ersichtlich und
werden auch nicht geltend gemacht. Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche
Invaliditätsbemessung rechtens. Die Beschwerde ist unbegründet.

4.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. September 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann