Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 311/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_311/2012

Urteil vom 23. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin,

gegen

R.________,
vertreten durch Advokat Daniel Olstein,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Invaliden-einkommen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversiche-rungsgerichts Basel-Stadt vom
10. Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 10. August 2011 verneinte die IV-Stelle Basel-Stadt den
Anspruch von R.________ auf eine Rente der Invalidenversicherung.

B.
In Gutheissung der Beschwerde des R.________ hob das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 10. Januar 2012 die Verfügung vom 10.
August 2011 auf und wies die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung im Sinne
der Erwägungen (Anspruch auf eine Dreiviertelsrente ab 1. Dezember 2009) an die
IV-Stelle zurück.

C.
Die IV-Stelle Basel-Stadt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 10. Januar 2012 sei
aufzuheben und R.________ eine Viertelsrente seit 1. Dezember 2009
zuzusprechen, eventualiter die Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

R.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid spricht dem Beschwerdegegner eine Dreiviertelsrente
ab 1. Dezember 2009 zu und weist die Sache zum Erlass einer entsprechenden
Verfügung an die Beschwerde führende IV-Stelle zurück. Diese bestreitet wie
schon in der vorinstanzlichen Vernehmlassung, wozu sie berechtigt ist (Art. 89
Abs. 1 und Art. 90 BGG; vgl. SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007 E. 1.1),
dass Anspruch auf mehr als eine Viertelsrente besteht.

2.
2.1 Die IV-Stelle rügt eine Verletzung der aus ihrem Gehörsanspruch (Art. 29
Abs. 2 BV) abgeleiteten Begründungspflicht der Vorinstanz (Art. 61 lit. h ATSG
und Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG). Sie macht indessen - zu Recht - nicht geltend,
es sei ihr nicht möglich gewesen, den Entscheid des kantonalen
Sozialversicherungsgerichts im betreffenden Punkt sachgerecht anzufechten,
weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist (vgl. Urteil 9C_261/2012 vom 12.
Juni 2012 E. 3.1).

2.2 Der Beschwerdegegner hat zwei medizinische Berichte vom 22. und 28. März
2012 eingereicht, die eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes belegen
sollen. Diese Unterlagen haben aufgrund des Novenverbots (Art. 99 Abs. 1 BGG)
sowie der Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten
Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) und der Beschränkung der Prüfung in
tatsächlicher Hinsicht auf die in Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG
festgelegten Beschwerdegründe unbeachtet zu bleiben (Urteil 9C_889/2011 vom 8.
Februar 2012 E. 1).

3.
Die Vorinstanz hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit
Art. 28a Abs. 2 IVG) einen Invaliditätsgrad von 60 % ermittelt, was Anspruch
auf eine Dreiviertelsrente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Das Valideneinkommen (Fr.
77'014.-) ist unbestritten. Das Invalideneinkommen (Fr. 30'656.-) hat das
kantonale Gericht auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung
2008 des Bundesamtes für Statistik (vgl. dazu BGE 124 V 321) bestimmt. Dabei
ist es vom monatlichen Bruttolohn für Männer für einfache und repetitive
Tätigkeiten (Anforderungsniveau 4 des Arbeitsplatzes) im Bereich "Persönliche
Dienstleistungen" (Fr. 3'774.-; Tabelle TA1 S. 26) ausgegangen und hat im Sinne
von BGE 126 V 75 einen Abzug vom Tabellenlohn von 20 % vorgenommen.

4.
Die IV-Stelle rügt, es verletze Bundesrecht, auf den Tabellenlohn für
"Persönliche Dienstleistungen" abzustellen und zugleich einen leidensbedingten
Abzug von 20 % vorzunehmen.

4.1 Für die Bestimmung des Invalideneinkommens auf der Grundlage der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik kann -
ausnahmsweise - der Lohn eines einzelnen Sektors ("Produktion" oder
"Dienstleistungen") oder gar einer bestimmten Branche hergezogen werden, wenn
es als sachgerecht erscheint, um der im Einzelfall zumutbaren erwerblichen
Verwertung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit Rechnung zu tragen, namentlich
bei Personen, die vor der Gesundheitsschädigung lange Zeit im betreffenden
Bereich tätig gewesen waren und bei denen eine Arbeit in anderen Bereichen kaum
in Frage kommt (SVR 2008 IV Nr. 20 S. 63, 9C_237/2007 E. 5.1).
4.1.1 Die Vorinstanz hat - nicht offensichtlich unrichtig und somit für das
Bundesgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) - festgestellt, der
Versicherte sei in seiner angestammten Tätigkeit als Techniker vollständig
arbeitsunfähig; einen anderen Beruf habe er nie ausgeübt. Weiter hat sie
erwogen, es sei plausibel, dass er seine Arbeitskraft, wie von der IV-Stelle in
ihrer Vernehmlassung angenommen, am ehesten im Rahmen einer persönlichen
Dienstleistung verwerten könne - welche Annahme ebenfalls nicht qualifiziert
unrichtig ist -, weshalb der durchschnittliche Lohn des betreffenden
Wirtschaftszweiges massgebend sei.
4.1.2 Damit hat die Vorinstanz von ihrem Beurteilungsspielraum bei der
Umschreibung der zumutbarerweise noch in Betracht fallenden Tätigkeiten und der
entsprechenden Wahl des massgebenden Ausgangslohnes keinen rechtsfehlerhaften
Gebrauch gemacht. Daran ändert das Vorbringen der IV-Stelle nichts, dass es im
Bereich "Persönliche Dienstleistungen" auch Tätigkeiten gibt, die nicht auf das
Anforderungsprofil des Beschwerdegegners zugeschnitten sind. Von
diesbezüglichen Abklärungen sind keine neuen Erkenntnisses zu erwarten, und es
ist folglich davon abzusehen.

4.2 Mit dem Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 soll der Tatsache Rechnung
getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass
der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder
Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad (vgl. LSE 94 S. 51) Auswirkungen
auf die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323) und je nach
Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit
auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem
erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80; Urteil
9C_481/2011 vom 30. September 2011 E. 3.1.1). Die Höhe des (im konkreten Fall
grundsätzlich angezeigten) Abzugs ist eine Ermessensfrage und somit
letztinstanzlich nur bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder
-unterschreitung korrigierbar (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 39; Urteil 9C_382/2012
vom 25. Juni 2012 E. 3.1).
4.2.1 Es ist unbestritten, dass unter dem Titel "leidensbedingte Einschränkung"
(BGE 126 V 75 E. 5b/aa-bb S. 79 f.; vgl. Urteil 9C_399/2010 vom 13. Juli 2010
E. 2.2) ein Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist. Es bestehen multiple
Behinderungen, welche die erwerbliche Verwertung der verbliebenen
Arbeitsfähigkeit an einem konkreten Arbeitsplatz verglichen mit gesunden
Versicherten ganz erheblich erschweren. Das zeigt sich an dem aus medizinischer
Sicht folgenden Anforderungsprofil: Kein Heben, Stossen und Ziehen mit den
Händen von mehr als 2 kg; keine feinmotorische Arbeiten; im Spitzgriff
erheblich eingeschränkt, sodass keine feinen Gegenstände aufgehoben werden
können; keine Arbeit über Tischhöhe mit der linken oberen Extremität; kein
dauerndes Arbeiten mit inklinierter oder reklinierter Halswirbelsäule; kein
Heben, Stossen und Ziehen über 7,5 kg; kein dauerndes Vornüberbeugen und kein
repetitives Bücken; Sitzdauer von etwa 30 Minuten, Gehstrecke am Stück auf
maximal 20 Minuten beschränkt mit der Möglichkeit, danach eine Pause zu machen.
In ihrer vorinstanzlichen Vernehmlassung hielt die IV-Stelle denn auch selber
fest, das Profil einer Verweistätigkeit sei sehr beschränkt wegen der
polyformen Beschwerden. Namentlich die Einschränkungen an den Fingern erlaubten
es dem Versicherten nicht, feinmotorische Arbeiten (z.B. jegliche
Sortierarbeit, Arbeiten am Computer [Verwaltung, Administration] und in der
Produktion) zu verrichten. Gemäss dem Abklärungsbericht Selbständigerwerbende
vom 13. April 2010 seien Faustschluss oder Händedruck zur Begrüssung nicht
mehr, Computerarbeit infolge des Taubheitsgefühls in den Fingern kaum mehr
möglich. Eine Flasche Wasser könne nur mit beiden Händen gehalten werden.
Autofahren sei nicht mehr möglich, da der Versicherte das Lenkrad nicht
umklammern könne.
4.2.2 In Anbetracht der zahlreichen Einschränkungen kann ein Abzug vom
Tabellenlohn von 20 % nicht als rechtsfehlerhafte Ermessensausübung bezeichnet
werden. In diesem Zusammenhang hat die Vorinstanz zu Recht festgehalten, dass
es an sich Sache der IV-Stelle gewesen wäre, ein konkretes mögliches
Arbeitsfeld zu benennen, was diese denn auch nicht bestreitet. Dass weitere
Abklärungen in dieser Richtung eine zuverlässigere oder gar genauere
Quantifizierung der bestehenden funktionalen Einschränkungen ergeben hätten als
die vorinstanzliche Festlegung des Abzugs auf 20 %, ist indessen unter den
gegebenen Umständen unwahrscheinlich, weshalb der Verzicht auf Beweisvorkehren
Art. 61 lit. c ATSG nicht verletzt (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 137 V 64
E. 5.2 S. 69, 136 I 229 E. 5.3 S. 236).

4.3 Die Beschwerde ist somit unbegründet.

5.
Mit dem sofortigen Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.

6.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
ist somit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Basel-Stadt auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Basel-Stadt hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. August 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler