Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 30/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_30/2012

Urteil vom 5. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Mattias Dolder,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 1. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
K.________ (geboren 1955) meldete sich im Dezember 2005 zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Nach Eingang eines polydisziplinären
Gutachtens des Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 6. Dezember
2007 stellte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen der Versicherten mit
Vorbescheid vom 15. Januar 2008 die Ablehnung des Anspruchs auf eine
Invalidenrente in Aussicht. Daraufhin reichte die Versicherte einen Bericht des
Dr. med. W.________ vom 25. Februar 2008 und einen Bericht des Dr. med.
A.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Klinik X.________, vom 10. März
2008 ein. Nachdem sich die Versicherte gegen eine Verlaufsbegutachtung beim ZMB
gestellt hatte, holte die IV-Stelle ein Gutachten der psychiatrischen Klinik
Y.________ vom 6. Mai 2009 ein. Nach Eingang weiterer ärztlicher Unterlagen
eröffnete die IV-Stelle der Versicherten mit Verfügung vom 27. August 2009,
dass sie bei einem Invaliditätsgrad von 0 % keinen Anspruch auf eine
Invalidenrente habe.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 1. Dezember 2011 ab.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der
Verwaltungsverfügung vom 27. August 2009 sei die Sache an die IV-Stelle,
eventualiter an die Vorinstanz, zurückzuweisen, damit diese nach formgerecht
durchgeführtem Verfahren und ergänzender Abklärung, insbesondere nach einer
neuen interdisziplinären (rheumatologischen, neurologischen,
ophthalmologischen, psychiatrischen) Begutachtung, über den Rentenanspruch neu
verfüge.

D.
Mit Eingabe vom 6. Februar 2012 lässt die Beschwerdeführerin einen Bericht des
Dr. med. L.________, Facharzt FMH für Urologie, spez. operative Urologie, vom
25. Januar 2012 einreichen.

Erwägungen:

1.
1.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2
BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat die
Beschwerde führende Person genau darzulegen. Dazu genügt es nicht, einen von
den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu
behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern (BGE 137 II 353 E. 5.1
S. 356; SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44, 9C_779/2010 E. 1.1.2 [nicht publ. in: BGE
137 V 446]).
Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig,
wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I
8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_967/2008 vom 5. Januar 2009 E. 5.1). Diese Grundsätze
gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung (Urteile 9C_999/2010 vom
14. Februar 2011 E. 1 und 9C_735/2010 vom 21. Oktober 2010 E. 3; SVR 2012 BVG
Nr. 11 S. 44, 9C_779/2010 E. 1.1.1).

1.2 Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die
geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und
Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen begründet sind (BGE 125 V
351 E. 3a S. 352). Der Arzt muss über die notwendigen fachlichen
Qualifikationen verfügen (Urteil 9C_736/2009 vom 26. Januar 2010 E. 2.1).
Untersuchungsberichte regionaler ärztlicher Dienste können, sofern sie diesen
Anforderungen genügen, einen vergleichbaren Beweiswert wie ein Gutachten haben
(Art. 49 Abs. 2 IVV; BGE 137 V 210 E. 1.2.1 S. 219; 135 V 254 E. 3.3.2 S. 257;
Urteil 9C_999/2010 vom 14. Februar 2011 E. 5.1.2).

1.3 Dem Sachgericht steht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher
Ermessenspielraum zu (BGE 120 Ia 31 E. 4b). Das Bundesgericht greift auf
Beschwerde hin nur ein, wenn das Sachgericht diesen missbraucht, insbesondere
offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder
solche willkürlich ausser Acht lässt (BGE 132 III 209 E. 2.1; zum Begriff der
Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 mit Hinweisen). Inwiefern das kantonale Gericht sein
Ermessen missbraucht haben soll, ist in der Beschwerde klar und detailliert
aufzuzeigen (BGE 130 I 258 E. 1.3). Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss
allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das
Bundesgericht nicht ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 mit Hinweis).

2.
2.1 Das kantonale Gericht ist in Würdigung der medizinischen Akten zum Schluss
gelangt, die Beschwerdeführerin sei in einer angepassten Tätigkeit 100 %
arbeitsfähig. In der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Raumpflegerin hätte sie
im Jahr 2006 mit einem ganztägigen Pensum ein Einkommen von Fr. 57'131.-
erzielt und somit nur unwesentlich mehr als eine Hilfsarbeiterin gemäss den
Tabellenlöhnen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE Tabelle TA1 2006
Total Anforderungsniveau 4). Da selbst unter Gewährung eines höchstzulässigen
Abzugs vom Tabellenlohn von 25 % ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad
resultiere, sei der Rentenanspruch der Beschwerdeführerin zu Recht abgelehnt
worden. Dabei hat die Vorinstanz in somatischer Hinsicht auf das Gutachten des
ZMB vom 6. Dezember 2007 und in psychiatrischer Hinsicht auf das Gutachten der
psychiatrischen Klinik Y.________ vom 6. Mai 2009 abgestellt. Mit Bezug auf das
ZMB-Gutachten, das aus einer rheumatologischen, einer neurologischen, einer
ophthalmologischen und einer psychiatrischen Untersuchung besteht, ging es
davon aus, dass die Gutachter sich explizit mit anderslautenden Vorakten,
insbesondere der Einschätzung des Hausarztes, auseinandergesetzt und
diesbezüglich ausgeführt hätten, dass die Diskrepanz in der Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit wahrscheinlich darauf zurückgehe, dass die invaliditätsfremden
Faktoren nicht mitberücksichtigt worden seien. Die psychosozialen Belastungen
würden zweifellos bestehen, hätten aber nicht zu einer eigenständigen, davon
abgrenzbaren Krankheit geführt. Im Weiteren seien die Urgeinkontinenz sowie die
arterielle Hypertonie als Nebendiagnose erfasst und somit berücksichtigt
worden. Ebenfalls sei dem ZMB-Gutachten zu entnehmen, dass die Polyarthrose und
die Daumenwurzel- und Daumengrundgelenksarthrose beidseits explizit in die
Leistungseinschätzung miteinbezogen worden seien. Die Gutachter führten sodann
bezüglich der erhobenen Befunde nachvollziehbar aus, dass es sich
zusammengefasst um ein generalisiertes Schmerzsyndrom handle. Aus somatischer
Sicht sei die Beschwerdeführerin auch bei Kenntnis dieser Befundlage für eine
leichte bis mittelschwere Arbeit ohne Zwangshaltung, ohne repetitive
Überkopfarbeit und ohne das Heben und Tragen von schweren Lasten vollschichtig
arbeitsfähig. In psychiatrischer Hinsicht stellte das kantonale Gericht mit der
IV-Stelle auf das Gutachten der psychiatrischen Klinik Y.________ vom 6. Mai
2009 ab. Dieses Gutachten beruhe auf einer umfassenden eigenständigen
psychiatrischen Abklärung und integriere die somatischen Aspekte gemäss der
Beurteilung im ZMB-Gutachten ausreichend. Die relevanten Vorakten, insbesondere
auch der Bericht des Dr. med. A.________ vom 10. März 2008 und das
ZMB-Gutachten, würden hinreichend berücksichtigt. Zur abweichenden Beurteilung
des Dr. med. A.________ werde explizit Stellung genommen. Die Gründe für die
unterschiedlichen Diagnoseerhebungen würden im Gutachten der psychiatrischen
Klinik Y.________ nachvollziehbar und überzeugend dargelegt. Aufgrund dieser
unterschiedlichen Beurteilungen sei auch nachvollziehbar, dass sich dies auf
die Arbeitsfähigkeitseinschätzung auswirken müsse. Hinsichtlich der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung werde im Gutachten der psychiatrischen Klinik
Y.________ ausgeführt, dass diese im Verlauf der letzten 15 Jahre zu einer
Chronifizierung der Schmerzsymptomatik, zur Aufgabe der Arbeitstätigkeit mit
mittlerweile vierjähriger Arbeitslosigkeit und zu einem völlig passiv
abwartenden Lebensstil geführt habe, und dadurch einen wesentlichen Einfluss
auf die Verminderung der Leistungsfähigkeit zeitige. Das Gutachten leuchte in
der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der
medizinischen Situation ein. Auf die darin enthaltenen Schlussfolgerungen,
insbesondere die 100%ige Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit, könne
somit abgestellt werden. Der Bericht des Dr. med. A.________ vom 10. Juli 2009
vermöge daran nichts zu ändern. Mit den von ihm nach wie vor aufgeführten
Diagnosen hätten sich die Gutachter der psychiatrischen Klinik Y.________
bereits hinreichend auseinandergesetzt und die Abweichung nachvollziehbar
erklärt. Die medizinische Aktenlage vermittle genügend Klarheit über den
rechtserheblichen Sachverhalt, weshalb von der Einholung eines
interdisziplinären Gutachtens abzusehen sei.

2.2 Zu Unrecht rügt die Beschwerdeführerin eine willkürliche
Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung sowie Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes durch die Vorinstanz. Zum einen übt sie weitgehend
appellatorische Kritik an der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung und
Beweiswürdigung. Wenn das kantonale Gericht in somatischer Hinsicht auf das
ZMB-Gutachten abgestellt hat, welches u.a. auch die Urgeinkontinenz als
Nebendiagnose erwähnt und sich mit sämtlichen damaligen medizinischen
Unterlagen befasst, so lässt dies nicht schon den Schluss auf willkürliche
Beweiswürdigung zu. Das Gleiche gilt für das Gutachten der psychiatrischen
Klinik Y.________ vom 6. Mai 2009, welches ebenfalls alle zum damaligen
Zeitpunkt vorhandenen Arztberichte, namentlich auch die Beurteilung des Dr.
med. A.________ im Bericht vom 10. März 2008, berücksichtigte. Entgegen aller
Einwendungen in der Beschwerde ist festzuhalten, dass die beiden von der
Vorinstanz als massgebend betrachteten Gutachten taugliche und schlüssige
Beweismittel sind. Ferner legt die Beschwerdeführerin nicht dar, inwiefern die
gestützt auf die beiden Gutachten getroffene Feststellung, wonach die
Beschwerdeführerin in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig
ist, offensichtlich unrichtig sein soll. Sie sind somit für das Bundesgericht
verbindlich. Dass Dr. med. A.________ in seinen Berichten vom 10. März 2008 und
10. Juli 2009 zu einer andern Beurteilung gelangt, macht die vorinstanzliche
Beweiswürdigung nicht willkürlich oder sonst wie bundesrechtswidrig, zumal sie
sich mit den unterschiedlichen Auffassungen auseinandersetzt.

2.3 Das kantonale Gericht hat auch zu Recht und ohne Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes von Beweisweiterungen abgesehen. Das trifft namentlich
auch in Bezug auf den Einfluss der Urgeinkontinenz auf die Arbeitsfähigkeit zu.
Das kantonale Gericht hat sich damit auseinandergesetzt und für das
Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin dadurch
nicht zusätzlich in der Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Da in zeitlicher
Hinsicht der Zeitpunkt des Verfügungserlasses (27. August 2009) massgebend ist,
kann die Beschwerdeführerin aus der Entwicklung ihres seitherigen
Gesundheitszustandes nichts zu ihren Gunsten ableiten. Der mit Schreiben vom 6.
Februar 2012 eingereichte Bericht des Urologen Dr. med. L.________ vom 25.
Januar 2012 ist zum einen ein unzulässiges neues Beweismittel im Sinne von Art.
99 Abs. 1 BGG, zum andern hält er den gesundheitlichen Zustand der
Beschwerdeführerin im Januar 2012 fest.

3.
Die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung ist weiter nicht bestritten. Es
besteht kein Anlass zu einer näheren Prüfung (BGE 125 V 413 E. 1b und 2c S. 415
ff.; 110 V 48 E. 4a S. 53).

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es hat damit auch mit der vorinstanzlichen
Verlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung sein Bewenden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer