Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 295/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_295/2012

Urteil vom 6. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

I.________ GmbH, vertreten durch
Rechtsanwalt Adrian S. Müller,
Beschwerdegegnerin,

Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes, Brunnmattstrasse 45, 3007 Bern.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 1.
März 2012.

Sachverhalt:
Mit durch Einspracheentscheid vom 13. April 2011 bestätigter Verfügung vom 11.
Februar 2011 stellte die Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes fest, die
Maklertätigkeit für die I.________ GmbH gelte als unselbstständige
Erwerbstätigkeit mit der Folge, dass die Firma über die paritätischen Beiträge
abzurechnen habe.
Auf Beschwerde der I.________ GmbH hin kam das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 1. März 2012
zum Schluss, es liege selbstständige Erwerbstätigkeit vor, und hob den
Einspracheentscheid auf, ohne die betroffenen Maklerinnen und Makler beigeladen
zu haben.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache an das kantonale Gericht
zurückzuweisen, damit dieses den mit der I.________ GmbH vertraglich
verbundenen Maklerinnen und Makler Gelegenheit gebe, sich am Verfahren zu
beteiligen und hernach neu zu entscheiden. Eventuell sei der
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes vom 13.
April 2012 (recte 2011) zu bestätigen.
Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Ausgleichskasse
des Schweizerischen Gewerbes schliesst auf Gutheissung der Beschwerde im Sinne
der Anträge des BSV. Die I.________ GmbH lässt die Abweisung der Beschwerde
beantragen, soweit darauf einzutreten ist.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E.
1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S.
140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Rüge- und Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von
Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (
BGE 134 IV 36 E. 1.4.1 S. 39). Die entsprechende Rüge prüft das Bundesgericht
nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert
begründet worden ist.

2.
2.1
2.1.1 Erlässt eine Ausgleichskasse im Gebiet der paritätischen Beiträge eine
Verfügung, so stellt sie eine Beitragsschuld sowohl des Arbeitgebers wie des
Arbeitnehmers fest (Art. 4 und 5 sowie Art. 12 und 13 AHVG). Arbeitgeber und
Arbeitnehmer sind in gleicher Weise betroffen, weshalb die Verfügung im
Hinblick auf die Wahrung des rechtlichen Gehörs grundsätzlich beiden zu
eröffnen ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nach der Rechtsprechung
indessen dort zugelassen, wo der Ausgleichskasse aus praktischen Gründen die
Zustellung von Verfügungen an die Arbeitnehmenden nicht zugemutet werden kann.
Dies trifft beispielsweise zu, wenn es sich um eine grosse Zahl von
Arbeitnehmenden handelt, wenn sich der Wohnsitz der Beschäftigten im Ausland
befindet oder wenn es sich lediglich um geringfügige Beiträge handelt (BGE 113
V 1 E. 2 S. 3 mit Hinweisen). Diese Grundsätze gelten nicht nur, wenn das
Beitragsstatut oder die Natur einzelner Zahlungen streitig ist, sondern auch
bei nachträglichen Lohnerfassungen, wenn umstritten ist, ob bestimmte
Vergütungen zum massgebenden Lohn im Sinne von Art. 5 Abs. 2 AHVG gehören (BGE
113 V 1 E. 3a S. 4).
2.1.2 Ist eine Beitragsverfügung nur dem Arbeitgeber eröffnet worden und hat
dieser Beschwerde erhoben, so hat das erstinstanzliche Gericht - ausser in den
genannten Ausnahmefällen - entweder den Arbeitnehmenden beizuladen oder die
Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit diese durch Zustellung der
Beitragsverfügung an den oder die betroffenen Arbeitnehmenden deren
Verfahrensrechte wahrt (BGE 113 V 1 Erw. 4a S. 5).

2.2 Das beschwerdeführende BSV geht davon aus, der kantonale Gerichtsentscheid
sei eine Feststellungsverfügung über das Beitragsstatut der mit der als
beitragspflichtig erklärten Firma vertraglich verbundenen Maklerinnen und
Makler, welche vom Erkenntnis ebenfalls betroffen seien. Es ist der Auffassung,
die Vorinstanz hätte die vertraglich verbundenen Maklerinnen und Makler zum
Verfahren beiladen und ihnen den kantonalen Gerichtsentscheid eröffnen müssen.
Das Urteil der Vorinstanz sei deshalb aufzuheben und an diese zurückzuweisen,
damit sie den mit der Firma vertraglich verbundenen Maklerinnen und Makler
Gelegenheit gebe, sich am Verfahren zu beteiligen, und hernach die Sache neu zu
beurteilen.

2.3 Die Beschwerdegegnerin stellt sich auf den Standpunkt, das BSV nenne weder
ausdrücklich noch sinngemäss, welche Bestimmung das kantonale Gericht mit der
unterlassenen Beiladung verletzt haben soll. Zwar wende das Bundesgericht das
Recht grundsätzlich von Amtes wegen an (Hinweis auf Art. 106 Abs. 1 BGG). Die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem Recht prüfe das Bundesgericht
jedoch nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Die Frage der Beiladung und
Eröffnung richte sich in erster Linie nach dem kantonalen Verfahrensrecht (Art.
61 ATSG in Verbindung mit Art. 14 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege
des Kantons Bern). Im Zusammenhang mit der Frage, ob mit der angeblich
unterbliebenen Beiladung der Makler, deren verfassungsrechtlicher Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt worden sei, erwähne das BSV den Anspruch auf
rechtliches Gehör in der Beschwerde mit keinem Wort. Es zeige nicht im
Entferntesten auf, in wiefern die angeblich unterbliebene Beiladung
verfassungswidrig wäre, ja es erwähne die Verfassung oder deren Verletzung
nicht mit einem einzigen Wort. Im Übrigen seien die betroffenen Makler sowohl
über das Einspracheverfahren wie auch über das Beschwerdeverfahren in Kenntnis
gewesen. Falls sie an einer Teilnahme am Verfahren interessiert gewesen seien,
hätten sie folglich ohne Weiteres selbst ein Beiladungsbegehren stellen können.

2.4 Bei der Verfügungseröffnung an Arbeitgeber und -nehmer handelt es sich,
entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin, um einen in Art. 49 ATSG
enthaltenen bundesgesetzlichen Anspruch, wonach die Verfügung der betroffenen
Person zu eröffnen ist (vgl. auch Art. 14 Abs. 3 AHVG). Er unterliegt daher im
bundesgerichtlichen Verfahren nicht einer qualifizierten Rügepflicht. Die
Begründung in der Beschwerde ist daher rechtsgenüglich. Aus den Akten ergibt
sich ferner, dass die Ausgleichskasse den Einspracheentscheid und die
Feststellungsverfügung den betroffenen Maklerinnen und Maklern nicht direkt
eröffnet hat, sondern die als Arbeitgeberin ins Recht gefasste Firma beauftragt
hat, die beiden Entscheide den Betroffenen weiter zu leiten. Bereits diese
Eröffnung war fehlerhaft (BGE 133 I 201 E. 2.1 S. 204). Das kantonale Gericht
hat die betroffenen Maklerinnen und Makler ebenfalls nicht ins Verfahren
einbezogen. Zu Recht rügt daher das BSV eine Verletzung von Bundesrecht. Die
Sache geht daher an das kantonale Gericht zurück, damit sie die betroffenen
Maklerinnen und Makler zum Beschwerdeverfahren beilade.

3.
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat
die Beschwerdegegnerin, die als beitragspflichtige Arbeitgeberin bei der
vorliegenden Verfahrenskonstellation, bei welcher das BSV als Aufsichtsbehörde
anstelle der Ausgleichskasse Beschwerde führt, als Gegenpartei die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; vgl. auch Urteil H 226/98 vom 30.
November 1999). Da das kantonale Gericht die Arbeitnehmenden für das kantonale
Verfahren hätte beiladen müssen, kann entgegen der Auffassung der
Beschwerdegegnerin nicht gesagt werden, die Ausgleichskasse habe die Kosten für
das bundesgerichtliche Verfahren unnötig verursacht (Art. 66 Abs. 3, Art. 68
Abs. 4 BGG). Dem kantonalen Gericht könnten die Verfahrenskosten nur bei einer
Verletzung der Pflicht zur Justizgewährleistung auferlegt werden (BGE 129 V 335
E. 4 S. 342; SZS 2009 S. 397, 9C_867/2008 E. 8), wovon hier nicht gesprochen
werden kann.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der vorinstanzliche Entscheid vom 1. März
2012 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre und neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der I.________ auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse des Schweizerischen
Gewerbes und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. August 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer