Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 283/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_283/2012

Urteil vom 28. Juni 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,

gegen

Firma X.________ AG, vertreten durch die Stadt Thun, Abteilung Sicherheit (ZSO
Thun plus),
Beschwerdegegner,

Ausgleichskasse Luzern,
Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern.

Gegenstand
Erwerbsersatz für Dienstleistende (Rückerstattung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
24. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
R.________ war bei der Firma X.________ AG angestellt, als er im Jahr 2007 als
Kaderangehöriger der Zivilschutzorganisation "Thun plus" insgesamt 29
Schutzdiensttage leistete; von diesen entfielen 21 Tage auf Einsätze für die
Gemeinschaft. Die entsprechende Erwerbsausfallentschädigung wurde der
Arbeitgeberin ausbezahlt. Mit Verfügung vom 26. Mai 2010 forderte die
Ausgleichskasse Luzern (nachfolgend: Ausgleichskasse) von der Firma X.________
AG Fr. 2'328.85 zurück. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid
vom 28. Januar 2011 ab mit der Begründung, mangels entsprechender
Dienstbewilligung handle es sich bei den Einsätzen zu Gunsten der Gemeinschaft
in Wirklichkeit um Wiederholungskurse. Davon dürften maximal 14 Tage über die
EO abgerechnet werden; 15 Tage seien daher nicht entschädigungsberechtigt
gewesen.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hiess die Beschwerde der Firma
X.________ AG, soweit es darauf eintrat, mit Entscheid vom 24. Februar 2012 gut
und hob den Einspracheentscheid vom 28. Januar 2011 auf.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der Entscheid vom 24.
Februar 2012 sei aufzuheben.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerdelegitimation des BSV ist gegeben (Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG in
Verbindung mit Art. 62 Abs. 1bis ATSG [SR 830.1], Art. 201 Abs. 1 AHVV [SR
831.101] und Art. 42 EOV [SR 834.11]).

1.1 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente
noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus
einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer
von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134
V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen).

2.
2.1 Personen, die Schutzdienst leisten, haben für jeden ganzen Tag, für den sie
Sold im Sinne von Art. 22 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 2002 über
den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz (BZG; SR 520.1) beziehen, Anspruch
auf eine Entschädigung (Art. 1a Abs. 3 EOG [SR 834.1] in Verbindung mit Art. 23
BZG).

Gemäss Art. 27 Abs. 2 lit. c BZG (in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember
2011 geltenden Fassung; heute Art. 27a Abs. 1 lit. b BZG) können die Kantone
Schutzdienstpflichtige u.a. für Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft aufbieten.
Die Kantone regeln das Aufgebotsverfahren (aArt. 27 Abs. 3 BZG; heute Art. 27a
Abs. 4 BZG) sowie die Bewilligungserteilung für die Gemeinschaftseinsätze auf
kantonaler und kommunaler Ebene (Art. 7 der Verordnung vom 5. Dezember 2003
über Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft [aVEZG; AS 2003 5175] in der bis zum
30. Juni 2008 geltenden Fassung). Gemäss Art. 2 aVEZG können diese erbracht
werden, wenn die Gesuchsteller oder Gesuchstellerinnen ihre Aufgaben nicht mit
eigenen Mitteln bewältigen können (lit. a), der Gemeinschaftseinsatz mit dem
Zweck und den Aufgaben des Zivilschutzes übereinstimmt und der Anwendung des in
der Ausbildung erworbenen Wissens und Könnens dient (lit. b), der
Gemeinschaftseinsatz private Unternehmen nicht übermässig konkurrenziert (lit.
c) und das unterstützte Vorhaben nicht überwiegend dem Ziel der
Geldmittelbeschaffung dient (lit. d).

2.2 Im Kanton Bern können nach Art. 54 lit. c des kantonalen
Bevölkerungsschutz- und Zivilschutzgesetzes vom 24. Juni 2004 (KBZG-BE; BSG
521.1) sowohl der Kanton als auch die Gemeinden Aufgebote für Einsätze zu
Gunsten der Gemeinschaft erlassen. Diese Dienstleistungen werden gemäss Art. 55
Abs. 2 KBZG-BE auf eine Woche pro Jahr beschränkt. Kader sowie Spezialistinnen
und Spezialisten können nach Art. 55 Abs. 3 KBZG-BE zusätzlich bis zu vier Tage
aufgeboten werden. Auf freiwilliger Basis und in Absprache mit der
Arbeitgeberin oder dem Arbeitgeber sind länger dauernde Dienstleistungen
möglich (Art. 55 Abs. 4 KBZG-BE; vgl. zur heutigen Rechtslage Art. 27a Abs. 2
BZG). Dementsprechend konnten im Kanton Bern Schutzdienstpflichtige durch die
Gemeinde oder den Kanton grundsätzlich zeitlich unbegrenzt aufgeboten werden.

Gemäss Art. 7 Abs. 2 lit. h der kantonalen Verordnung vom 27. Oktober 2004 über
den Zivilschutz (KZSV-BE [BSG 521.11]; in der bis am 31. Dezember 2011 gültig
gewesenen Fassung) überprüft das Amt für Bevölkerungsschutz, Sport und Militär
(BSM) des Kantons Bern die Bewilligungen der Einsätze der
Zivilschutzorganisation zu Gunsten der Gemeinschaft anhand der VEZG. Weiter
bestimmt Art. 17 KZSV-BE, dass die Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft die
Vorgaben des VEZG erfüllen und vom BSM des Kantons Bern überprüft werden. Auch
wenn in den dargelegten Bestimmungen von einer "Überprüfung" (resp. in der
französischen Fassung "vérifier" und "contrôler") der Einsätze die Rede ist,
steht ausser Frage, dass das BSM des Kantons Bern letztlich die zuständige
Behörde für die Bewilligungserteilung im Sinne von Art. 7 aVEZG ist. Nichts
anderes ergibt sich aus dem vorinstanzlichen Entscheid und auch von den
Parteien wird nichts Gegenteiliges vorgebracht. Die jeweilige
Zivilschutzorganisation hat die Gemeinschaftseinsätze also vom BSM des Kantons
Bern bewilligen zu lassen. Diese Bewilligung stellt eine Verfügung dar, da sie
die Aufgebote für die Gemeinschaftseinsätze in Übereinstimmung mit der
gesetzlichen Ordnung erlaubt (vgl. Tschannen/Zimmerli/Müller, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2009, N. 1 zu § 44).

2.3 Das BSV hat die Wegleitung zur Erwerbsersatzordnung für Dienstleistende und
Mutterschaft erlassen (WEO; hier relevant ist die ab 1. Juli 2005 bis 31.
Dezember 2010 geltende Fassung), welche sich an die Verwaltung richtet und zwar
das Gericht nicht bindet, aber bei der Entscheidfindung zu berücksichtigen ist
(BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591, 257 E. 3.2 S. 258 f.; je mit Hinweisen). Danach
ist folgender Verfahrensablauf vorgesehen: Nach Absolvierung des Dienstes füllt
der Rechnungsführer oder die Rechnungsführerin des Zivilschutzes (vgl. Art. 62
Abs. 3 BZG) ein bestimmtes Anmeldeformular aus und trägt im Feld "Code der
Dienstleistung" für Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft und für
Wiederholungskurse die Codierung "20" ein (Rz. 1030 WEO). Nachdem die Dienst
leistende Person ihre persönlichen Daten und der Arbeitgeber die Lohnangaben
eingetragen haben, erhält die Ausgleichskasse das Anmeldeformular (Rz. 1033 f.,
1045 und 1049 WEO). Diese prüft das Anmeldeformular. Gegebenenfalls sendet sie
es zur Ergänzung zurück oder verlangt weitere Unterlagen. Die Entschädigung
darf nur ausgerichtet werden, wenn der Anspruch vorschriftsgemäss geltend
gemacht wurde, die Diensttage von der Rechnungsführung bzw. der Vollzugsstelle
bescheinigt worden sind und die Voraussetzungen für den Bezug der zutreffenden
Entschädigung erfüllt sind (Rz. 1050 und 6009-6012 WEO).

3.
3.1 Unrechtmässig ausgerichtete Erwerbsausfallentschädigungen können
zurückgefordert werden (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1
EOG), falls die Voraussetzungen für ein revisions- oder wiedererwägungsweises
Zurückkommmen auf die formlos erfolgte (vgl. Art. 18 Abs. 2 EOG)
Leistungszusprechung gegeben sind (vgl. Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG; BGE 122 V
367 E. 3 S. 368 f.; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 13 zu Art.
25 ATSG).

3.2 Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen gemäss
Art. 53 Abs. 1 ATSG in prozessuale Revision gezogen werden, wenn die
versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche
neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor
nicht möglich war. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der
Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsfeststellung dient. Es bedarf
dazu neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die Entscheidungsgrundlagen als
objektiv mangelhaft erscheinen lassen (BGE 127 V 353 E. 5b S. 358 und SVR 2010
UV Nr. 22 S. 90, 8C_720/2009 E. 5.2; je mit Hinweisen).

3.3 Gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn die
ursprüngliche Leistungszusprechung nach damaliger Sach- und Rechtslage
zweifellos unrichtig war (vgl. BGE 125 V 383 E. 3 S. 389; 119 V 475 E. 1c S.
480 mit Hinweisen; Urteil 8C_769/2010 vom 12. November 2010 E. 2.2) und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Vorausgesetzt ist, dass kein
vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also nur
dieser einzige Schluss denkbar ist (Urteile 9C_418/2010 vom 29. August 2011 E.
3.2; 9C_575/2007 vom 18. Oktober 2007 E. 2.2; je mit Hinweisen). Dieses
Erfordernis ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprache aufgrund
falscher Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht
oder unrichtig angewandt wurden.

4.
Die Vorinstanz hat eine Verwirkung des Rückforderungsanspruches verneint. Sie
ist der Auffassung, mit dem Abstempeln der Dienstpläne durch das zuständige
kantonale Amt seien die Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft bewilligt worden.
Dass sie von Art und Umfang her den bundesrechtlichen Vorgaben von Art. 2 aVEZG
widersprechen sollten, sei nicht dargetan und ersichtlich. Somit sei die
Leistung der Erwerbsausfallentschädigung nicht zweifellos unrichtig gewesen und
die Rückforderung zu Unrecht erfolgt.

Das BSV macht geltend, für die Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft liege keine
gültige Bewilligung vor, da die zuständige kantonale Behörde im Zeitpunkt der
Bewilligungserteilung die materiellen Voraussetzungen gemäss Art. 2 VEZG (E.
2.1) nicht lediglich aufgrund des Dienstkalenders habe beurteilen können.

5.
5.1 Das Beschwerde führende BSV beruft sich nicht auf neue Tatsachen oder
Beweismittel im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG. Solche sind auch sonst nicht
ersichtlich. Deshalb fällt eine prozessuale Revision ausser Betracht.
Nachfolgend ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung
gegeben sind.

5.2 Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 9C_650/2011 vom 18. Juni 2012
entschied das Bundesgericht, dass der Anspruch auf eine Entschädigung des
Erwerbsausfalls nach dem klaren Wortlaut von Art. 1a Abs. 3 EOG ausschliesslich
an die Soldberechtigung anknüpft (a.a.O., E. 5.2). Diese kann in der Regel
nicht in Abrede gestellt werden mit der Begründung, die für den fraglichen
Dienst erforderliche Bewilligung sei ungenügend oder gar nicht vorhanden
(a.a.O., E. 5.3). Selbst wenn mit dem BSV anzunehmen wäre, dass die
Gemeinschaftseinsätze ohne gültige Bewilligung im Sinn von Art. 2 und Art. 8
Abs. 1 VEZG erfolgten, ist kein Grund ersichtlich, bereits daraus auf eine
fehlende Soldberechtigung zu schliessen und folglich einen Anspruch auf
Erwerbsersatz zu verneinen.

5.3 Im konkreten Fall wurde und wird die Soldberechtigung des R.________ für
die 2007 geleisteten Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft nicht in Abrede
gestellt; insbesondere waren für ihn als Kaderangehöriger die umstrittenen
Einsätze für die Gemeinschaft nicht limitiert (E. 2.2). Weiter fehlen
Anhaltspunkte dafür, dass die Ausgleichskasse die formellen Vorgaben gemäss WEO
(E. 2.3) nicht befolgt oder die Erwerbsausfallentschädigung aus einem anderen
Grund zu Unrecht ausgerichtet haben soll. Nach dem Gesagten ist die
Rückforderung der Entschädigung mangels eines Rückkommenstitels (E. 3.1)
ausgeschlossen. Die Beschwerde ist unbegründet.

5.4 Dieses Ergebnis bedeutet indessen nicht, dass die Ausgleichskassen in jedem
Fall die finanziellen Folgen von unbewilligten und somit rechtswidrigen
Einsätzen zu Gunsten der Gemeinschaft zu tragen hätten. Ein entsprechender
Anspruch auf Schadenersatz lässt sich gegebenenfalls mit der Staatshaftung
begründen (vgl. Art. 100 ff. des kantonalen Personalgesetzes vom 16. September
2004 [BSG 153.01]).

6.
Vom BSV als unterliegende Partei sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. Juni 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann