Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 27/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_27/2012 {T 0/2}

Urteil vom 13. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen, Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
S._________, vertreten durch Rechtsanwalt Reto Zanotelli,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Erwerbstätigkeit),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 14. November 2011.

Sachverhalt:

A.
a. S._________, der eigenen Angaben zufolge sich im Ausland zum Juristen
ausgebildet, in Philosophie promoviert und ein Diplom als
"Gerichtssachverständiger "erlangt hatte, trat seit vielen Jahren als
Selbständiger auf, namentlich seit 1. Februar 1994 in Form einer
"Rechtskanzlei" (in einer untergemieteten Liegenschaft), sodann unter dem
Firmenzug "X.________". Früher in R._________, wohnt er heute in D.________, wo
ihn die Sozialhilfebehörde unterstützt. Gegenüber der Alters- und
Hinterlassenenversicherung (AHV) hat er seine Beitragspflicht seit 1992 als
Nichterwerbstätiger erfüllt.
b. Der Versicherte litt in den letzten Jahren zunehmend an multiplen
Krankheiten und Beschwerden: Sehbehinderung nach Katarakt, fortgeschrittener
Scheuermann, vermutete Polyneuropathie und ischämische Apoplexie bei
Gangunsicherheit, Schwankschwindel und nachgewiesenen hirnorganischen
Veränderungen, rezidivierende mittelgradige Depressionen, reaktiv auf
episodischen Alkoholmissbrauch u.a.m. Er erhielt wegen diesen gesundheitlichen
Beeinträchtigungen von der Invalidenversicherung medizinische
Eingliederungsmassnahmen (Kataraktoperationen) und Hilfsmittel (Duschhocker,
Rollator).
c. Sein Rentengesuch vom 8./10. September 2008 lehnte die IV-Stelle des Kantons
Zürich, nach medizinischen und erwerblichen Abklärungen (Individuelles Konto;
Bericht für Selbständigerwerbende vom 9. Juni 2010) und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens, trotz eines "IV-relevanten Gesundheitsschaden(s)"
mangels Erwerbseinbusse ab: es sei zwar anzuerkennen, dass der Versicherte "in
einem Vollpensum tätig war"; jedoch werde er "seit dem Jahre 1992 als
Nichterwerbstätiger geführt"; Buchhaltungsunterlagen über eine selbständige
Erwerbstätigkeit seien nicht vorhanden. In Anbetracht dieser seit vielen Jahren
andauernden Verhältnisse sei anzunehmen, dass er sich "auch im Gesundheitsfalle
weiterhin mit einem bescheidenen bzw. keinem Einkommen begnügt" hätte
(Verfügung vom 1. September 2010).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich im Wesentlichen aus den gleichen Gründen ab (Entscheid vom 14.
November 2011).

C.
Der Versicherte lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid
aufzuheben und ihm eine Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid - ohne dies in Frage zu stellen -
die Auffassung der Beschwerdegegnerin wiedergegeben, wonach "ein IV-relevanter
Gesundheitsschaden, welcher die bisherige Tätigkeit des Beschwerdeführers als
selbständiger Jurist sowie auch eine der Behinderung angepasste Tätigkeit nicht
mehr zumutbar mache, ausgewiesen sei". Darin ist eine für das Bundesgericht
verbindliche Feststellung des kantonalen Gerichts über die Arbeitsunfähigkeit
als Entscheidung über eine Tatfrage (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 3.2
S. 397 unten f.) zu erblicken, zumal keine Anhaltspunkte für offensichtliche
Unrichtigkeit (Art. 105 Abs. 2 BGG) bestehen, im Gegenteil, lässt sich doch dem
Feststellungsblatt für den Beschluss der Beschwerdegegnerin vom 22. Juli 2010,
S. 5, entnehmen: "Anhand der Aktenlage ist bei dem 58-jährigen multimorbiden
Versicherten eine 100%-ige Arbeitsunfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit als
Anwalt und in angepasster Tätigkeit ausgewiesen."

2.
Aus dem in E. 1 Gesagten ergibt sich - falls der Beschwerdeführer für die
Belange der Invaliditätsbemessung als Erwerbstätiger zu qualifizieren ist (dazu
E. 3) - ohne weiteres ein Invaliditätsgrad von 100%, woraus der Anspruch auf
eine ganze Invalidenrente resultiert (Art. 28 Abs. 2 IVG). Denn bei einem
zufolge vollständiger Arbeitsunfähigkeit auch in Verweisungstätigkeiten (Art. 6
ATSG) nicht erzielbaren Einkommen (= Invalideneinkommen von Fr. 0.--) führt der
Einkommensvergleich (Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG) zu einem
Erwerbsausfall von 100%, dies ungeachtet der Höhe, auf welche sich das
Valideneinkommen beläuft.

3.
Der Ausgang des Verfahrens hängt damit - entgegen dem, wovon die
Verfahrensbeteiligten ausgehen - nicht davon ab, wie hoch das Valideneinkommen
zu veranschlagen ist, sondern einzig und allein davon, ob der Beschwerdeführer
überhaupt als Erwerbstätiger zu qualifizieren ist. Wenn diese Frage bejaht
wird, ist damit gleichzeitig gesagt, dass er im Gesundheitsfall ein
Valideneinkommen erzielen würde, dessen Höhe jedoch in Anbetracht der
ausgewiesenen vollen Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) offen bleiben kann.

3.1
Das kantonale Gericht verweist zunächst auf die Parallelisierung der
IV-rechtlich massgebenden hypothetischen Vergleichseinkommen mit den
AHV-rechtlich beitragspflichtigen Einkommen gemäss Art. 25 Abs. 1 IVV und der
dazu ergangenen Rechtsprechung (Urteil 8C_576/2008 vom 10. Februar 2009 E. 6.2
mit Hinweisen, SVR 2009 IV Nr. 28 S. 79). Die beitragsrechtliche Behandlung als
Nichterwerbstätiger seit 1992 lasse "vermuten, dass kein Erwerbseinkommen
erzielt" worden sei. "Für die Annahme des Gegenteils" seien aussagekräftige
Beweismittel notwendig. Auf glaubhaft gemachte Ausgaben (Berechnung des
Existenzminimums, eingereichte Mietverträge) könne nicht abgestellt werden,
zumal der Beschwerdeführer eigenen Angaben zufolge (Schreiben vom 25. Februar
2005 an das Steueramt) massiv durch seine Familie unterstützt worden sei. Die
offerierten Zeugenaussagen könnten die Erzielung eines Erwerbseinkommens auch
nicht belegen, sowenig wie die steuerbaren Einkünfte, welche u.a. auch
Wertschriftenertrag sowie Einnahmen aus privaten Rentenversicherungen enthalten
würden, zumal die Einschätzung für das Jahr 2006 (und meistens auch für die
vorangegangenen Jahre) nach pflichtgemässem Ermessen erfolgt und somit ohnehin
nicht aussagekräftig sei; für das Jahr 2007 lägen keine Steuerzahlen bei den
Akten. Wie der Beschwerdeführer selber angegeben habe, seien die "Steuerakten
wegen der konsequent betriebenen Steueroptimierung wenig aussagekräftig", was
auch für die "Minimierung der Sozialversicherungsabgaben" gelte. Es gehe nicht
an, gegenüber der Sozialversicherung Beiträge einzusparen, um sie dann im
Versicherungsfall wieder geltend zu machen (Hinweis auf das Urteil 8C_31/2011
vom 6. April 2011 E. 4.3.1). Darüber hinaus lege der Beschwerdeführer weder
Geschäftsabschlüsse noch Buchhaltungsunterlagen noch Kontenauszüge vor, wobei
er aber trotz der geltend gemachten Entsorgung dieser Unterlagen bei der
Räumung seiner zuletzt benutzten Kanzlei bemerkenswerterweise in der Lage
gewesen sei, sämtliche Lohnausweise und Spesenbestätigungen seiner ehemaligen
Mitarbeiterin in der Kanzlei lückenlos von 1995 bis 2005 wie auch den
Mietvertrag seiner zuletzt benutzten Kanzleiräumlichkeiten einzureichen. Das
kantonale Gericht lehnte weitere Abklärungen ab und schloss auf
Beweislosigkeit, welche sich hier zulasten des Beschwerdeführers auswirke.

3.2
Diese Auffassung des kantonalen Gerichts verletzt, wie die Beschwerde insoweit
richtig vorträgt, in mehrfacher Hinsicht bezüglich der Begründung und
jedenfalls im Ergebnis Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Zunächst ist die
Berufung auf die beiden erwähnten Urteile nicht einschlägig: Wenn das
Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung gemäss Urteil 8C_576/2008 vom 10.
Februar 2009 E. 6.2 davon ausgeht, das Valideneinkommen von
Selbständigerwerbenden könne grundsätzlich nach den IK-Einträgen bestimmt
werden, so ist das eine Regel für die IV-rechtliche Bemessung der
beitragspflichtigen Einkünfte aus selbstständiger Erwerbstätigkeit, namentlich
bei schwankenden Einkommenserzielungen. Auch nichts mit der hier zu
entscheidenden Frage hat das Urteil 8C_31/2011 vom 6. April 2011 E. 4.3.1 zu
tun, worin allein dem Bestreben eine Absage erteilt wurde, als Spesen (und
damit als beitragsfreie Bezüge) deklarierte Entgelte später, im Zuge der
Invaliditätsbemessung (bei der Festlegung des Valideneinkommens), in
Lohnbestandteile umzudeuten. Auch nicht angängig ist es, der AHV-rechtlichen
Qualifizierung als Nichterwerbstätiger für die Belange der
Invaliditätsschätzung die Bedeutung einer - nur dem Beweis des Gegenteils
weichenden - Rechts- oder Gesetzesvermutung zuzumessen. Die
AHV-beitragsrechtliche Behandlung ist ein blosses Indiz, das - zusammen mit
allen anderen steuerlichen, geschäftlichen, beruflichen usw. Aspekten des
konkreten Einzelfalles - in eine gesamthafte Würdigung einzubeziehen ist. In
dieser - rechtlich gebotenen - Sichtweise ist es unhaltbar, dem
Beschwerdeführer den IV-rechtlichen Status einer erwerbstätigen Person
abzusprechen, weil die aus den Akten hervorgehenden tatsächlichen
wirtschaftlichen Gegebenheiten (Betrieb einer Rechtskanzlei, Auftritt am Markt,
Miete von Geschäftsräumlichkeiten, Beschäftigung einer Schreibkraft usw.) ihn
klar als solchen ausweisen. Wenn die Vorinstanz den Beschwerdeführer auf seiner
Geschäftspolitik betriebener Steuer- und Beitragsoptimierung durch Absprechung
des Erwerbstätigenstatus' im Invaliditätsfall behaften will, verliert sie aus
den Augen, dass - womit kein Werturteil über die Tätigkeit des
Beschwerdeführers ausgesprochen wird - gegebenenfalls auch eine widerrechtliche
oder unsittliche Erwerbstätigkeit die Versicherungs- und Beitragspflicht
begründet (BGE 115 V 1, 107 V 193). Ebenso wenig ist im Verhalten des
Beschwerdeführers ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch zu erblicken (BGE 108 V
84 S. 88; THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, Zürich 2005,
S. 515 f.). Vielmehr knüpft das Gesetz an ein Geschäftsgebaren, wie es der
Beschwerdeführer an den Tag legte, eine Rechtsfolge hinsichtlich der
Leistungshöhe: Bei einem bisher während mehr als 30 Beitragsjahren total
verabgabten Einkommen von lediglich 255'462 Franken (Auszug aus dem
individuellen Konto vom 1. Oktober 2010) wird der Beschwerdeführer nach den
AHV-rechtlichen Berechnungsvorschriften (Art. 29bis ff. AHVG) nur eine sehr
tiefe Invalidenrente erhalten. Darin liegt das gesetzliche Korrektiv
beitragsmindernden Verhaltens, nicht in der Aberkennung des Versichertseins als
erwerbstätige Person.

4.
Was den Rentenbeginn anbelangt, ist einerseits von den Feststellungen der
Beschwerdegegnerin auszugehen (Einschränkung der Arbeitsunfähigkeit und Beginn
der Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG am 24. Juli 2008;
Abklärungsbericht für Selbständigerwerbende vom 9. Juni 2010, S. 7);
andererseits ist die Anmeldung zum Rentenbezug vom 8./10. September 2008
rechtzeitig (Art. 29 Abs. 1 IVG) erfolgt, was zum Rentenbeginn am 1. Juli 2009
führt.

5.
Die Gerichtskosten sind bei diesem Verfahrensausgang der Beschwerdegegnerin zu
überbinden (Art. 66 BGG). Sie schuldet dem obsiegenden Beschwerdeführer für das
letztinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 14. November 2011 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Zürich vom 1. September 2010 werden aufgehoben. Es wird festgestellt,
dass der Beschwerdeführer ab 1. Juli 2009 Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Dezember 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer