Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 278/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_278/2012 {T 0/2}     

Urteil vom 19. Juni 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Borella,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
N.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Tomas Poledna,
Beschwerdeführerin,

gegen

Progrès Versicherungen AG,
Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 14. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
Im Jahre 2003 wurde bei der 1942 geborenen N.________ paroxysmale nächtliche
Hämoglobinurie (PNH) diagnostiziert. Seit 2005 erhält sie das Medikament
Soliris, welches in der Schweiz seit dem 4. Januar 2010 heilmittelrechtlich
zugelassen ist.
Von September 2005 bis April 2008 erfolgte die Therapie im Rahmen einer
internationalen Studie und anschliessend im Status "Compassionate Use" mit
Sonderbewilligung des Schweizerischen Heilmittelinstituts (Finanzierung durch
den Entwickler und Hersteller des Medikaments).
Am 8. Mai 2009 erteilte die Progrès Versicherungen AG (nachfolgend: Progrès),
bei welcher N.________ grundversichert ist, erstmals Gutsprache für die Kosten
der Behandlung mit Soliris für die Dauer von drei Monaten.
Auf Begehren der Versicherten erliess die Progrès am 16. April 2010 eine
Verfügung, in welcher sie einen (weiteren) Leistungsanspruch zu Lasten der
Grundversicherung verneinte. Die von N.________ dagegen erhobene Einsprache
hiess die Progrès in dem Sinne teilweise gut, als sie die Kosten für die
Behandlung bis zum Zeitpunkt der Zulassung von Soliris am 4. Januar 2010
übernahm. Im weitergehenden Umfang lehnte sie die Einsprache ab (Entscheid vom
24. Juni 2010).

B.
Beschwerdeweise liess die Versicherte beantragen, der Einspracheentscheid sei
insoweit aufzuheben, als die Einsprache abgewiesen worden sei, und es seien
alle Kosten der Behandlung mit dem Medikament Soliris ab 4. Januar 2010 durch
die Progrès zu übernehmen. Mit Entscheid vom 14. Februar 2012 wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.

C.
N.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Progrès
zu verpflichten, die Kosten der Behandlung mit dem Arzneimittel Soliris für die
Zeit vom 4. Januar 2010 bis zum 28. Februar 2011 zu übernehmen.
Mit Vernehmlassung vom 28. Januar 2013 beantragt die Progrès die Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) enthält sich in seiner
Vernehmlassung vom 19. März 2013 eines formellen Antrages. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG), prüft indessen - unter Beachtung der Begründungspflicht in
Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) - grundsätzlich nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind. Es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich
stellenden Fragen, also auch solche, die vor Bundesgericht nicht mehr
aufgeworfen werden, zu untersuchen (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2.
Das Medikament Soliris ist seit dem 4. Januar 2010 heilmittelrechtlich
zugelassen zur Behandlung paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie (PNH;
Swissmedic Journal 1/2010 S. 25). Entsprechend dieser Indikation wird es bei
der Beschwerdeführerin eingesetzt. Seit 1. Februar 2012 steht Soliris zudem auf
der Spezialitätenliste (SL).

3.
Streitig und zu prüfen ist die Übernahme des Medikaments Soliris zu Lasten der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung in der Zeit vom 4. Januar 2010, als
das Präparat heilmittelrechtlich zugelassen wurde, bis zum 28. Februar 2011.
Für die davor und danach liegende Zeit hat die Progrès eine Leistungspflicht
aus der Grundversicherung demgegenüber bejaht (Einspracheentscheid vom 24. Juni
2010 und an die Versicherte gerichtetes Schreiben der Progrès vom 11. Juli
2011).

4.

4.1. Die soziale Krankenversicherung gewährt Leistungen unter anderem bei
Krankheit (Art. 3 ATSG; Art. 1a Abs. 2 lit. a KVG). Im Rahmen der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung dürfen die Versicherer keine anderen
Kosten als diejenigen für die Leistungen nach den Art. 25-33 KVG übernehmen
(Art. 34 Abs. 1 KVG). Dazu zählen auch die Kosten für die Leistungen, die der
Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs.
1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem die ärztlich verordneten
Arzneimittel (Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG). Voraussetzung für eine
Kostenübernahme ist die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der
Behandlung, wobei die Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen
sein muss (Art. 32 Abs. 1 KVG). Die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die
Wirtschaftlichkeit der Leistungen werden periodisch überprüft (Art. 32 Abs. 2
KVG).

4.2. Die Vergütungspflicht erstreckt sich nach Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG
grundsätzlich nur auf Arzneimittel, die in der SL aufgeführt sind. Die SL zählt
die pharmazeutischen Spezialitäten und konfektionierten Arzneimittel im Sinne
einer Positivliste abschliessend auf (BGE 136 V 395 E. 5.1 S. 398 f.; 134 V 83
E. 4.1 S. 85 ff.; 131 V 349 E. 2.2 S. 351; Gebhard Eugster, Die obligatorische
Krankenversicherung [nachfolgend: Krankenversicherung], in: Soziale Sicherheit,
SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 513 Rz. 346). Aufgenommen werden nur
Spezialitäten, für welche die Pharmahersteller oder Importeure einen Antrag
stellen ( Eugster, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum KVG [nachfolgend:
Rechtsprechung], 2010, N. 3 zu Art. 52 KVG).

4.3. Kassenpflichtig sind pharmazeutische Spezialitäten des Weitern nur im
Rahmen von Indikationen und Anwendungsvorschriften, die in Swissmedic
registriert sind (BGE 130 V 532 E. 5.2 S. 541 f.). Die Anwendung eines
Arzneimittels ausserhalb der registrierten Indikationen und
Anwendungsvorschriften macht dieses zu einem solchen "ausserhalb der Liste"
bzw. zu einem "Off-Label-Use" und damit grundsätzlich zur Nichtpflichtleistung
(BGE 136 V 395 E. 5.1 S. 398 f.; 130 V 532 E. 3.2.2 S. 538 und E. 3.4 S. 540;
 Eugster, Rechtsprechung, N. 35 zu Art. 25 KVG; zum Ganzen: Loris Magistrini,
L'utilisation hors étiquette de médicaments et son remboursement par
l'assurance-maladie, Jusletter vom 31. Januar 2011 [zit.: Jusletter vom 31.
Januar 2011]).

4.4. Nach der Rechtsprechung sind ausnahmsweise auch die Kosten von nicht in
der SL aufgeführten Arzneimitteln und von Arzneimitteln der SL ausserhalb der
registrierten Indikationen und Anwendungsvorschriften zu übernehmen.
Voraussetzung ist, dass ein sogenannter Behandlungskomplex vorliegt oder dass
für eine Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder
schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, wegen
fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame Behandlungsmethode
verfügbar ist; diesfalls muss das Arzneimittel einen hohen therapeutischen
(kurativen oder palliativen) Nutzen haben (BGE 136 V 395 E. 5.2 S. 399; 131 V
349 E. 2.3 S. 351; 130 V 532 E. 6.1 S. 544 f.; Magistrini, Jusletter vom 31.
Januar 2011, Rz. 112 ff.). Ein wichtiger Anwendungsbereich für Ausnahmen von
der Listenpflicht sind Medikamente gegen Krankheiten, die so selten sind, dass
sich für die Hersteller das Zulassungsverfahren nicht lohnt (sog. Orphan Use
bzw. Orphan Diseases; BGE 136 V 395 E. 5.2 S. 399; Eugster,
Krankenversicherung, S. 515 Rz. 354). Als Orphan Drugs gelten Arzneimittel, die
in der Schweiz (noch) nicht zugelassen sind und gegen seltene Krankheiten
eingesetzt werden, die zur Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines Leidens
bestimmt sind, das lebensbedrohlich ist oder bei Nichtbehandlung eine
chronische Invalidität oder ein schweres chronisches Leiden hervorruft und
nicht mehr als 5 von 10'000 Personen betrifft (vgl. Handbuch des BAG betreffend
die Spezialitätenliste in der ab 1. Februar 2008 gültig gewesenen Fassung Rz.
811 [vgl. auch Rz. I.4.1 in der ab 1. September 2011 geltenden Fassung]; vgl.
auch EU-Verordnung Nr. 141/2000 vom 16. Dezember 1999; Peter Braunhofer,
Arzneimittel im Spannungsfeld zwischen HMG und KVG aus der Sicht des
Krankenversicherers, in: Eichenberger/Poledna [Hrsg.], Das neue
Heilmittelgesetz, 2004, S. 103 ff., 106 f.; Valérie Junod, Accès aux
médicaments, Les conditions du remboursement dans l'assurance-maladie
obligatoire, in: Le droit de la santé: aspects nouveaux, Guillod/Wessner
[Hrsg.], 2010, S. 83 ff., 117 ff.).
Die Frage, ob ein für die Kostenübernahme vorausgesetzter hoher therapeutischer
Nutzen vorliegt, ist sowohl in allgemeiner Weise als auch bezogen auf den
konkreten Einzelfall zu beurteilen (BGE 136 V 395 E. 6.4 und 6.5 S. 401 f.).

5.

5.1. Die Vorinstanz erwog, da das Medikament Soliris bei der Beschwerdeführerin
entsprechend der Zulassung zur Behandlung von PNH eingesetzt werde, liege kein
Off-Label-Use vor. Demnach falle eine Ausnahme vom Grundsatz der Listenpflicht
unter diesem Aspekt ausser Betracht. Weiter prüfte sie, ob das Medikament als
Orphan Drug zu übernehmen sei. Sie verneinte die Frage mit der Begründung, die
Anerkennung als Orphan Drug sei ein Instrument zur Förderung der Entwicklung
eines Arzneimittels gegen seltene Krankheiten, für die sich ein
Zulassungsverfahren ansonsten nicht lohne. Aus diesem Grunde fielen
ausschliesslich Arzneimittel in Betracht, die über keine Zulassung verfügten.
Auf diesen Umstand beziehe sich die von der Rechtsprechung zugelassene Ausnahme
von der Listenpflicht. Eine andere Frage sei, ob das Arzneimittel zu Lasten der
Grundversicherung abgerechnet werden könne. Dafür sei unter anderem die Frage
massgebend, ob eine Behandlung mit dem betreffenden Arzneimittel dem
Wirtschaftlichkeitsgebot des Art. 32 Abs. 1 KVG standhalte. Sei neben den
übrigen Voraussetzungen auch die Wirtschaftlichkeit gegeben, erfolge die
Aufnahme in die SL. Praxisgemäss seien Ausnahmen von der Listenpflicht nur
restriktiv zulässig, da zu verhindern sei, dass durch eine extensive Praxis der
ordentliche Weg der Listenaufnahme durch Einzelfallbeurteilungen ersetzt und
dadurch die mit der SL verbundene Wirtschaftlichkeitskontrolle umgangen werde.
Dies bedeute vorliegend, dass seit der Marktzulassung von Soliris und bis zur
Klärung der Frage, ob das Präparat in die SL aufzunehmen sei, die
Grundversicherung nicht mehr für die Behandlung aufzukommen habe. Mit der
Marktzulassung von Soliris sei das mit der Orphan-Drug-Regelung angestrebte
Ziel erreicht; denn gefördert werden solle die Entwicklung und Marktzulassung
von Medikamenten gegen seltene Krankheiten, nicht die Aufnahme solcher Arzneien
in die SL. In der Phase seit der Marktzulassung bis zur Aufnahme in die SL
bestehe keine Rechtfertigung mehr für eine Privilegierung gegenüber anderen
Patienten, deren Medikament auch noch nicht in die SL aufgenommen worden sei.
Im Übrigen könne die Versicherte die Behandlung mit Soliris zu 90 % über ihre
Zusatzversicherung abrechnen.

5.2. Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung für die Ausnahmen von der Listenpflicht im Einzelfall sowohl
beim Off-Label-Use als auch in denjenigen Fällen, in denen das Medikament als
solches noch nicht in die SL aufgenommen worden sei, auf die fehlende Nennung
in der SL, verbunden mit den übrigen Voraussetzungen abgestellt werde. Die
Frage der Zulassung durch die Swissmedic sei nie zum Thema gemacht worden.
Ihrer Auffassung nach würde eine andere Argumentation zu absurden Zuständen
führen: Vor der Zulassung von Soliris würde eine Kostenübernahme aus der OKP
als Orphan Drug gewährt, die nach der Zulassung und während des daran
anschliessenden Prüfungsverfahrens beim BAG wieder wegfallen würde, um dann im
Falle der Aufnahme des Arzneimittels in die SL wieder aufzuleben.

5.3. Die Beschwerdegegnerin gibt zu bedenken, dass Ausnahmen von der
Listenpflicht nur sehr restriktiv zulässig seien, da verhindert werden müsse,
dass durch eine extensive Auslegung der ordentliche Weg der Listenaufnahme und
der damit verbundenen Wirtschaftlichkeitskontrolle umgangen werde. Dies könne
nur bedeuten, dass der Grundversicherer die Therapie ab Zulassung durch die
Swissmedic bis zur SL-Aufnahme nicht zu vergüten habe.

5.4. Das BAG stellt sich auf den Standpunkt, im Zeitraum vor der
Swissmedic-Zulassung bis zur Aufnahme in die SL habe eine Vergütung über die
OKP nur erfolgen können, wenn die mit Wirkung auf den 1. März 2011 in Art. 71a
Abs. 1 KVV verankerten bundesgerichtlichen Kriterien erfüllt waren
(Behandlungskomplex; tödlicher oder schwerer und chronischer Verlauf; keine
Behandlungsalternative; hoher therapeutischer Nutzen). In casu sei Art. 71b KVV
massgebend, da Soliris in dieser Zeit nicht in der SL aufgeführt gewesen,
jedoch innerhalb der Fachinformation von Swissmedic angewendet worden sei. Bei
der Vergütung von nicht in die SL aufgenommenen Arzneimitteln erfolge immer
eine Einzelfallbeurteilung. Eine solche vorzunehmen sei nicht Aufgabe des BAG.
Vielmehr sei es die Aufgabe der Krankenversicherer, nach vorgängiger
Konsultation des Vertrauensarztes zu prüfen, ob die vorstehend dargelegten
Voraussetzungen zur Kostenübernahme durch die OKP erfüllt sind. Könne die
Wirksamkeit, mithin der grosse therapeutische Nutzen von Arzneimitteln, die
nicht in der SL aufgelistet seien, bejaht werden, seien auch die Kriterien der
Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Dabei sei vor allem in Bezug
auf die Wirtschaftlichkeit dem Verhältnismässigkeitsprinzip und dem Prinzip der
Rechtsgleichheit Rechnung zu tragen. Wenn ein Missverhältnis zwischen Aufwand
und Heilerfolg bestehe, könne eine Leistungsverweigerung durch den Versicherer
erfolgen. Seien jedoch die in Art. 71b KVV erwähnten Voraussetzungen erfüllt,
wäre die Krankenversicherung im vorliegenden Einzelfall leistungspflichtig.

6.

6.1. Verwendungsfertige Arzneimittel dürfen (unter Vorbehalt hier nicht weiter
interessierender internationaler Abkommen über die Anerkennung von Zulassungen)
nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie vom schweizerischen Heilmittelinstitut
Swissmedic zugelassen sind (Art. 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 15. Dezember
2010 über Arzneimittel und Medizinprodukte [Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21]).
Die Zulassungspflicht dient als Instrument der präventiven Produktekontrolle
der Verwirklichung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit und von Treu und
Glauben auf dem Arzneimittelmarkt ( Eichenberger/Jaisli/richli [Hrsg.], Das
Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte, 2006, N. 3 zu Art. 9 HMG;
vgl. auch Ueli Kieser, Die Zulassung von Arzneimitteln im Gesundheits- und
Sozialversicherungsrecht, AJP 2007 S. 1042 ff., 1043 f.). In diesem Sinne
sollen nach der Zweckumschreibung in Art. 1 Abs. 1 HMG nur qualitativ
hochstehende, sichere und wirksame Arzneimittel in Verkehr gebracht werden.

6.2. In die SL aufgenommen werden kann ein Arzneimittel, wenn es über eine
gültige Zulassung des Instituts verfügt (Art. 65 Abs. 1 KVV). In diesem Sinne
ist die Zulassung durch das Heilmittelinstitut die primär zu erfüllende
Voraussetzung für die Aufnahme in die SL (vgl. Art. 65 Abs. 1 KVV; Art. 30a
Abs. 1 lit. a KLV; Braunhofer, a.a.O., S. 104). Das vorangehende, mit einem
positiven Entscheid abgeschlossene heilmittelrechtliche Zulassungsverfahren ist
für den Bereich der Krankenversicherung insofern bedeutsam, als es jedenfalls
für die Prüfung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit eines Arzneimittels den
Prüfungsrahmen absteckt (vgl. BGE 131 V 349 E. 3.1 S. 351 f.; Kieser, a.a.O.,
S. 1048). Die beiden Kriterien werden bei der Aufnahme in die SL gestützt auf
die Unterlagen beurteilt, welche für die Registrierung durch das
Heilmittelinstitut massgebend waren (Art. 32, Art. 33 Abs. 2 KLV). Die Aufnahme
in die SL erfolgt mithin nach einer doppelstufigen Zulassungsprüfung:
Vorausgesetzt wird vorab die heilmittelrechtliche Zulassung. Hinzu kommt die
krankenversicherungsrechtliche Zulassung, wobei die Kriterien der Wirksamkeit
und Zweckmässigkeit erneut überprüft werden und als weiteres Kriterium die
Wirtschaftlichkeit herangezogen wird ( Kieser, a.a.O., S. 1049).

6.3. Dass nun aber eine Kostenübernahme auf den Zeitpunkt der
heilmittelrechtlichen Zulassung zu verweigern wäre, wie die Vorinstanz
dafürhält, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Vielmehr wurde in BGE
136 V 395, in welchem Fall es ebenso um ein - im vereinfachten Verfahren als
wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten im Sinne von Art. 14 Abs. 1 lit.
f HMG - zugelassenes Arzneimittel ging, ausdrücklich festgehalten, dass die
arzneimittelrechtliche Zulassung für die Kassenpflichtigkeit nicht
ausschlaggebend ist (vgl. BGE 136 V 395 E. 4.2 S. 398 mit Hinweis auf Pascal
Lachenmeier, Die Anwendung "nicht zugelassener" Arzneimittel in der
Krebstherapie nach schweizerischem Recht ["off-label-use"], Jusletter vom 11.
Mai 2009, Rz. 56; vgl. die für zugelassene und nicht zugelassene, nicht in die
SL aufgenommene Arzneimittel gleichermassen mögliche Kostenübernahme gemäss
Art. 71b Abs. 1 und 2 KVV [in Kraft ab 1. März 2011]).

7.

7.1. Die Versicherte hat im Einspracheverfahren dargelegt, dass die
Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten des Medikamentes Soliris aus der
Grundversicherung (vgl. E. 4.4 hiervor) bei ihr erfüllt sind, da die Krankheit
PNH bei ihr schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen
kann, wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame
Behandlungsmethode als Soliris verfügbar ist und dass ein hoher therapeutischer
Nutzen vorliegt.

7.2. Die Progrès hat aufgrund der von der Versicherten im Einspracheverfahren
eingereichten Unterlagen (unter anderem Schreiben und Kurzbericht des Dr. med.
B.________, Leitender Arzt Hämatologie FMH, Spital X.________, vom 27. August
2009 und 1. April 2010; Informationsbroschüren Alexion; Auszug aus der
Zeitschrift Blood vom 1. Dezember 2007, Volume 110, Number 12, S. 4123 ff.
[Effect of the complement inhibitor eculizumab on thromboembolism in patients
with paroxysmal nocturnal hemoglobinuria]) die Voraussetzungen für eine
Kostenübernahme des Medikaments Soliris bejaht, dies vorab bis zum (wie gesehen
allerdings irrelevanten [vgl. E. 6.3]) Datum der heilmittelrechtlichen
Zulassung (Einspracheentscheid vom 24. Juni 2010). Weiter hat sie die Kosten
des Arzneimittels mit Wirkung ab 1. März 2011 (rückwirkend) gestützt auf Art.
71b KVV übernommen (Schreiben der Progrès an die Versicherte vom 11. Juli
2011).

7.3. Kann die Kostenübernahme - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - nicht
mit der Begründung, das Medikament sei nun heilmittelrechtlich zugelassen,
verweigert werden (E. 6.3), ist die Progrès über den 4. Januar 2010 hinaus
verpflichtet, die streitigen Kosten zu übernehmen, weil sämtliche von ihr
bejahten Voraussetzungen dafür unverändert erfüllt sind. Der Vollständigkeit
halber ist zu ergänzen: Der vorausgesetzte hohe therapeutische Nutzen (BGE 136
V 395 E. 6.4 und 6.5 S. 401 f.) ist in Bezug auf das den Wirkstoff
"Eculizumabum" enthaltende Medikament Soliris nicht nur im konkreten Fall,
sondern aufgrund der im von der Beschwerdeführerin eingereichten
Zeitschriftenauszug beschriebenen Studie (Blood vom 1. Dezember 2007, Volume
110, Number 12, S. 4123 ff. [Effect of the complement inhibitor eculizumab on
thromboembolism in patients with paroxysmal nocturnal hemoglobinuria]) auch in
allgemeiner Weise zu bejahen. Die Voraussetzung eines angemessenen
Kosten-Nutzen-Verhältnisses schliesslich ist hier im Einzelfall zu prüfen und
nicht mit der generellen Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäss Art. 34 ff. KLV im
Rahmen der Aufnahme in die SL gleichzusetzen (vgl. BGE 136 V 395 E. 7.1 S. 406
f.). Soweit die Beschwerdegegnerin die Unwirtschaftlichkeit dennoch daraus
ableitet, dass das Medikament Soliris vor der Aufnahme in die SL am 1. Februar
2012 zu einem um 30 % höheren Preis verrechnet wurde, kann ihr nicht gefolgt
werden. Denn allgemeinen übergangsrechtlichen Regeln zufolge (vgl. BGE 122 V
405 E. 3b/aa S. 408 f.) kann der Aufnahme in die SL keine rückwirkende
Bedeutung zukommen. Andere Anhaltspunkte, aus welchen auf Unwirtschaftlichkeit
geschlossen werden könnte, werden nicht vorgebracht und ergeben sich auch nicht
aus den Akten. Bei dieser Sachlage erübrigen sich Weiterungen.

7.4. Zusammenfassend ergibt sich, dass in der streitigen Zeit sämtliche
Voraussetzungen für eine Kostenübernahme zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung erfüllt sind. Demnach hat die Progrès, wie von der
Versicherten beantragt, die Kosten der Behandlung mit Soliris auch in der Zeit
vom 4. Januar 2010 bis zum 28. Februar 2011 zu übernehmen.

8.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat der anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführerin zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 14. Februar 2012 und der Einspracheentscheid der Progrès
Versicherungen AG vom 24. Juni 2010, soweit dieser eine Kostenübernahmepflicht
über den 4. Januar 2010 hinaus verneint, werden aufgehoben. Die Progrès
Versicherungen AG wird verpflichtet, die Kosten für die Behandlung mit dem
Arzneimittel Soliris in der Zeit vom 4. Januar 2010 bis zum 28. Februar 2011
aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat die Parteientschädigung
für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Juni 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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