Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 271/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_271/2012

Urteil vom 3. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Braun,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 22. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1952 geborene B.________ ist von Beruf Möbelschreiner. Am 10. Juni 2004
meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach
Abklärungen in erwerblicher Hinsicht und Beizug einer polydisziplinären
Expertise des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ vom 20. Januar
2006 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen B.________ ab 1. April 2006
bei einem Invaliditätsgrad von 40 % eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zu (Verfügung vom 5. April 2006). Mit weiteren
Verfügungen vom 11. Januar 2007 gewährte die IV-Stelle dem Versicherten auch
für den Zeitraum vom 1. Juni 2003 bis 31. März 2006 eine Viertelsrente, woran
sie mit Einspracheentscheid vom 2. März 2007 festhielt. Die von B.________
hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen in dem Sinne teilweise gut, dass es den Einspracheentscheid vom 2. März
2007 aufhob und die Sache zu weiteren Abklärungen und neuer Verfügung an die
IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 18. September 2008). In der Folge holte die
IV-Stelle wiederum ein Gutachten des medizinischen Begutachtungsinstituts
X.________ (vom 27. August 2009) ein. Mit vier Verfügungen vom 7. Oktober 2010
sprach sie B.________ bei einem Invaliditätsgrad von 40 % ab 1. Juni 2003
erneut eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zu.

B.
Der Versicherte liess Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung
der Verfügungen der IV-Stelle vom 7. Oktober 2010 sei ihm rückwirkend ab 1.
Juni 2003 mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. Mit Entscheid vom
22. Februar 2012 hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die
Verfügungen vom 7. Oktober 2010 in Gutheissung der Beschwerde auf und sprach
B.________ rückwirkend ab 1. Juni 2003 anstelle der Viertels- eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zu.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
Während B.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Umfang des
Invalidenrentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG), die Bedeutung ärztlicher
Auskünfte für die Belange der Invaliditätsschätzung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261)
sowie den behinderungsbedingten Abzug vom Invalideneinkommen (BGE 126 V 75 E.
5b/aa-cc S. 79 f.) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen
ist, dass gemäss Art. 28a Abs. 1 IVG für die Bemessung der Invalidität von
erwerbstätigen Versicherten Art. 16 ATSG anwendbar ist. Danach wird für die
Bestimmung des Invaliditätsgrades das Erwerbseinkommen, das die versicherte
Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen
Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare
Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung
gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid
geworden wäre.

3.
In medizinischer Hinsicht steht aufgrund des Gutachtens des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ vom 27. August 2009 fest, dass der
Beschwerdeführer in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 50 % arbeitsunfähig
wäre. Zu prüfen sind die erwerblichen Auswirkungen dieser Einschränkung in der
Arbeitsfähigkeit anhand eines Einkommensvergleichs, wobei das hypothetische
Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) streitig ist.

3.1 Die Vorinstanz zog für die Festsetzung des Valideneinkommens die
Tabellenlöhne gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE)
heran, weil der Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen nie in der Lage
gewesen sei, Einkünfte zu erzielen, die dem Einkommen eines gelernten
Möbelschreiners entsprochen hätten. In seinem erlernten Beruf hätte er im Jahre
2003 ein Einkommen von Fr. 64'163.- verdient. Aufgrund seiner psychischen
Störungen sei es indessen nie zu einer Anstellung mit einer entsprechenden
Entlöhnung gekommen. Aus diesem Grund habe sich der Schritt in die
Selbstständigkeit für den Versicherten geradezu aufgedrängt. Ab 1996 habe er
die T.________ GmbH geführt, dabei aber nur bescheidene Einkünfte
erwirtschaftet. Anhaltspunkte für einen freiwilligen Einkommensverzicht lägen
nicht vor; für die Festlegung des Valideneinkommens bestünden somit keine
repräsentativen Grundlagen, weshalb die Durchschnittlöhne gemäss LSE als Basis
zu dienen hätten.

3.2 Die IV-Stelle macht geltend, der Beschwerdeführer habe bis etwa zum Jahr
2000 mit den Mitmenschen keine Schwierigkeiten gehabt. Zur Aufnahme einer
selbstständigen Erwerbstätigkeit sei er nicht aus gesundheitlichen Gründen
gezwungen gewesen; vielmehr dürfte es sich bei der Tätigkeit als selbstständig
Erwerbender um die Verwirklichung eines lange gehegten Berufswunsches gehandelt
haben. Der Versicherte habe sich seit 1988 im Haupterwerb als selbstständig
Erwerbender betätigt und sich dabei mit unterdurchschnittlichen Einkünften
begnügt. Ohne Gesundheitsschaden hätte er diese Erwerbstätigkeit trotz des
unzureichenden Einkommens weiterhin ausgeübt. Unter den gegebenen Umständen sei
es gerechtfertigt, für die Bestimmung des Valideneinkommens vom Durchschnitt
der im individuellen Konto verbuchten Einkommen der Jahre 1996 bis 2000
auszugehen. Damit resultiere nach Anpassung an die Nominallohnentwicklung ein
Betrag von Fr. 39'197.- im Jahr.

3.3 Den Darlegungen des kantonalen Gerichts ist beizupflichten. Die Vorbringen
der Beschwerdeführerin erschöpfen sich im Wesentlichen in einer im Rahmen der
gesetzlichen Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 1 hievor) unzulässigen
Kritik an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung. Die Folgerungen, welche das
kantonale Gericht insbesondere aus dem Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ vom 27. August 2009 und dem Austrittsbericht
der psychiatrischen Klinik Y.________ vom 11. Februar 2006 gezogen hat, können
nicht als offensichtlich unrichtig bezeichnet werden.
3.3.1 Die Beschwerdeführerin lässt es zu einem wesentlichen Teil dabei
bewenden, ihre eigene Meinung der Auffassung der Vorinstanz gegenüberzustellen
und aus der von ihr selbst vorgenommenen Beweiswürdigung auf eine
offensichtlich unrichtige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts im
angefochtenen Entscheid zu schliessen. Einzig in einem Punkt macht die
IV-Stelle geltend, das kantonale Gericht habe den Sachverhalt qualifiziert
unrichtig und insoweit für das Bundesgericht nicht verbindlich dargelegt. Es
betrifft dies die Feststellungen, dass Hospitalisationen wegen übermässigen
Alkoholkonsums und fehlender Erfolg bei der Stellensuche aus gesundheitlichen
Gründen den Versicherten zur Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit
bewogen hätten. Zur Begründung ihres Standpunktes, dass die Vorinstanz insoweit
den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt habe,
beruft sich die Beschwerdeführerin auf die erste Expertise des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ vom 20. Januar 2006. Aus dem Entscheid vom
18. September 2008, mit welchem das kantonale Gericht die Sache in teilweiser
Gutheissung einer (ersten) Beschwerde des Versicherten zur Einholung eines
ergänzenden psychiatrischen Gutachtens an die IV-Stelle zurückgewiesen hatte,
ist indessen ersichtlich, dass das Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ insoweit keine ausreichende
Entscheidungsgrundlage gebildet hat. Damit ist dieses von geringem Beweiswert
für die seitens der IV-Stelle im vorliegenden Verfahren vertretene Auffassung
und nicht geeignet, zu einem abweichenden Ergebnis zu führen. Im zweiten
Gutachten des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________ (vom 27. August
2009) wird unter Bezugnahme auf einen Bericht der psychiatrischen Klinik
Y.________ vom 8. Dezember 2004 alsdann erwähnt, dass der Beschwerdegegner Ende
der 70er-Jahre fünfmal kurzfristig wegen aggressiver Auseinandersetzungen bei
übermässigem Alkoholkonsum hospitalisiert war, was die Ansicht der Verwaltung,
vor Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit habe der Versicherte keine
gesundheitlichen Probleme gehabt, ebenfalls nicht stützt. Gleiches gilt im
Übrigen für die anamnestischen Angaben im ersten Gutachten des medizinischen
Begutachtungsinstituts X.________ vom 20. Januar 2006, wonach der
Beschwerdegegner nach Absolvierung der Rekrutenschule und zweier
Wiederholungskurse psychiatrisch (vom Militärdienst) frei gestellt worden sei.
3.3.2 Soweit der Beschwerdegegner bei der psychiatrischen Untersuchung im
medizinischen Begutachtungsinstitut X.________ am 21. Dezember 2005 erklärt
hat, er habe bis etwa ins Jahr 2000 mit seinen Mitmenschen keine
Schwierigkeiten gehabt, sei anerkannt und eine Autorität gewesen, wobei es zu
keinen Konflikten mit Vorgesetzten gekommen sei, sind seine Aussagen mit
Zurückhaltung zu würdigen. Ein erheblicher Beweiswert kann ihnen nicht
beigemessen werden, da der Versicherte zu Schönfärberei neigt, wie die
Vorinstanz - für das Bundesgericht verbindlich (E. 1 hievor) - festgehalten
hat.
3.3.3 Auch wenn sich der Versicherte möglicherweise freiwillig mit einem
niedrigen Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit begnügt hat und die
Tatsache, dass er eine Existenz als selbstständig Erwerbender aufgebaut hat,
von der Vorinstanz nur anhand verschiedener Indizien auf einen
Gesundheitsschaden, welcher einer Tätigkeit als Arbeitnehmer entgegengestanden
hat, zurückgeführt werden kann, vermag die IV-Stelle nichts vorzubringen, was
die Sachverhaltsfeststellung des kantonalen Gerichts als bundesrechtwidrig
erscheinen lassen könnte. Dass die Beweiswürdigung der Beschwerdeführerin
ebenso plausibel erscheint wie diejenige der Vorinstanz, ist mit Blick auf Art.
97 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG irrelevant (BGE 134 II
124 E. 4.1 S. 133).

4.
Das ebenfalls in Anwendung von Tabellenlöhnen gemäss LSE festgelegte
Invalideneinkommen samt leidensbedingtem Abzug von 20 % wird von der
Beschwerdeführerin zu Recht nicht in Frage gestellt. Dementsprechend bleibt es
bei dem von der Vorinstanz ermittelten Invaliditätsgrad von 60 % mit der Folge,
dass der Beschwerdegegner ab 1. Juni 2003 anstelle der ihm von der Verwaltung
zugesprochenen Viertelsrente Anspruch auf eine Dreiviertelsrente der
Invalidenversicherung hat.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. September 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer