Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 262/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_262/2012

Urteil vom 3. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
I.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Arbeitsunfähigkeit),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 26.
Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
I.________ meldete sich im Dezember 2007 unter Hinweis auf eine Endometriose
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und
Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle Zug mit
Verfügung vom 10. Mai 2011 mangels eines invalidisierenden Gesundheitsschadens
einen Rentenanspruch.

B.
Die Beschwerde der I.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit
Entscheid vom 26. Januar 2012 ab.

C.
I.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegeheiten führen und
beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 26. Januar 2012 sei die
IV-Stelle zu verpflichten, ihr eine halbe Invalidenrente zu entrichten;
eventualiter sei sie durch einen in Endometriose spezialisierten Facharzt zu
begutachten.

Die IV-Stelle und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit dem als Beweisantrag formulierten Rechtsbegehren wird, entsprechend der
Beschwerdebegründung (Anwaltsrevue 2009 8 S. 393, 9C_251/2009 E. 1.3 mit
Hinweisen; Ulrich Meyer/Johanna Dormann, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 2a und 7 zu Art. 107 BGG), eventualiter
die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu neuer Entscheidung über den
Rentenanspruch beantragt.

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.
Die Vorinstanz hat dem interdisziplinären Gutachten der MEDAS vom 8. Dezember
2010, wonach die Versicherte "seitens Rheumatologie als vollschichtig
arbeitsfähig einzustufen" ist und eine "psychiatrische Störung mit
eigenständigem Krankheitswert (...) infolge der geklagten Schmerzen nicht
festgestellt werden" konnte, Beweiskraft beigemessen. Gestützt darauf hat sie
festgestellt, es bestehe keine Gesundheitsschädigung mit Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit. Folglich hat sie einen Rentenanspruch verneint.

Die Beschwerdeführerin stellt die Beweiskraft des MEDAS-Gutachtens in Abrede
und verweist für die Arbeitsfähigkeit auf den Abklärungsbericht der Beruflichen
Abklärungsstelle (BEFAS) vom 8. Januar 2009.

4.
4.1
4.1.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze
zum Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG) und
zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG) zutreffend dargelegt.
Richtig sind auch die Ausführungen über die Aufgabe ärztlicher Fachleute (BGE
125 V 256 E. 4 S. 261) sowie den Beweiswert und die Beweiswürdigung
medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Darauf wird
verwiesen.
4.1.2 Zu ergänzen ist Folgendes: Zur Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher
Leistungsansprüche bedarf es verlässlicher medizinischer Entscheidgrundlagen (
BGE 134 V 231 f. E. 5.1). Der Beweiswert einer spezialärztlichen Expertise
hängt u.a. davon ab, ob die begutachtende Person über die entsprechende
Fachausbildung verfügt. Ihre fachliche Qualifikation spielt für die
richterliche Würdigung einer Expertise eine erhebliche Rolle. Bezüglich der
medizinischen Stichhaltigkeit eines Gutachtens müssen sich Verwaltung und
Gerichte auf die Fachkenntnisse der Expertin oder des Experten verlassen können
(SVR 2008 IV Nr. 13 S. 37, I 211/06 E. 5.4.1; Urteile 9C_547/2010 vom 26.
Januar 2011 E. 2.2; 8C_65/2010 vom 6. September 2010 E. 3.1; 9C_270/2008 vom
12. August 2008 E. 3.3).

4.2 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das
Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 2). Die konkrete
Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung
des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 E. 4
mit Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden
Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE
133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1
BGG). Der Verzicht der Vorinstanz auf weitere Abklärungen oder Rückweisung der
Sache an die IV-Stelle zu diesem Zwecke ist grundsätzlich zulässig
(antizipierende Beweiswürdigung; vgl. BGE 137 V 64 E. 5.2 S. 69; 136 I 229 E.
5.3 S. 236; Urteil 8C_682/2011 E. 3.2.4). Er verletzt aber insbesondere dann
Bundesrecht, wenn eine entscheidwesentliche Tatfrage, wie namentlich
Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person, auf
unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet wird (SVR 2011 IV Nr. 2 S. 7,
9C_904/2009 E. 3.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_547/2010 vom 26. Januar 2011 E.
1.2).

4.3 Die Vorinstanz hat im Rahmen der Beweiswürdigung verbindlich (E. 2)
festgestellt, die Versicherte werde durch die Bauchschmerzsymptomatik
behindert. Die Schmerzursache habe nicht eindeutig eruiert werden können, liege
aber mutmasslich in den abdominalen Verwachsungen infolge zahlreicher
Operationen. Daneben stehe eine psychogene Komponente im Raum. Soweit sie
daraus - und aufgrund der früher erfolgten neurologischen Abklärung durch Dr.
med. A.________ - den Schluss zieht, mit der Begutachtung in psychiatrischer
und rheumatologischer Hinsicht sei der gesundheitlichen Beeinträchtigung
genügend Rechnung getragen worden, kann ihr indessen nicht beigepflichtet
werden.

So steht fest, dass die Versicherte seit Jahren an einer Endometriose (ICD-10:
N80) mit Verwachsungen im Darmbereich leidet, die verschiedene Operationen
erforderlich machte. Zunächst liegt ein Widerspruch darin, dass die Vorinstanz
und die Experten trotz des anerkannten Zusammenhangs der Schmerzen mit der
abdominalen Problematik, mithin unter Annahme eines organischen Korrelates,
ohne weitere Begründung diesbezüglich von einer uneingeschränkten
Arbeitsfähigkeit ausgegangen sind. Weiter ist das Leiden der Versicherten laut
ICD-10 als Krankheit des Urogenitalsystems resp. des weiblichen Genitaltraktes
zu klassifizieren. Die auf die Auffassung des Regionalen Ärztlichen Dienstes
gestützte (vgl. SVR 2010 IV Nr. 46 S. 143, 9C_1063/2009 E. 4.2.3 mit Hinweis)
Argumentation, es handle sich um ein Schmerzsyndrom der Leiste, also eines
Bestandteils der Bauchwand, die als anatomisch und physiologisch integraler
Teil des Bewegungsapparates von einem Rheumatologen zuverlässig zu beurteilen
sei, zielt daher ins Leere. Zudem diagnostizierte der Neurologe Dr. med.
A.________ im Bericht vom 15. Februar 2007 eine Neuropathie multipler
Inguinalnerven, die er mit den "bekannten Verwachsungen im Unterbauch"
begründete. Auf dieser Basis lässt sich weder die Annahme einer genügenden
Untersuchung begründen, noch eine relevante gesundheitliche Einschränkung
verneinen, zumal der behandelnde Gynäkologe eine Arbeitsunfähigkeit von 50 %
attestierte und der Neurologe dem nichts entgegensetzte. Wie es sich mit der
Arbeitsfähigkeit bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung am 10. Mai 2011
tatsächlich verhielt, lässt sich daher dem MEDAS-Gutachten nicht in
nachvollziehbarer Weise entnehmen.

4.4 Das kantonale Gericht hat dem Abklärungsbericht der BEFAS vom 8. Januar
2009 keine Beweiskraft beigemessen. Inwiefern dies offensichtlich unrichtig
sein oder auf einer Verletzung von Bundesrecht beruhen soll (E. 2), ist nicht
ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht. Insbesondere liegt solchen
Berichten in der Regel nicht eine umfassende medizinische Untersuchung, sondern
eine berufspraktische Beurteilung zugrunde, weshalb für die Beantwortung der
Frage nach einem organischen Korrelat der Schmerzen und der daraus
resultierenden Einschränkungen nicht darauf abgestellt werden kann.

4.5 Nach dem Gesagten ist in Bezug auf die Endometriose und die damit
verbundenen Beeinträchtigungen eine fachärztliche Stellungnahme zum
Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit unerlässlich. Die Verwaltung wird
entsprechende Abklärungen zu treffen haben. Zudem hat sie auch die weitere
gesundheitliche Entwicklung bis zum Erlass einer neuen Verfügung zu
berücksichtigen (SVR 2009 IV Nr. 57 S. 177, 9C_149/2009 E. 4.4; Urteile 9C_235/
2009 vom 30. April 2009 E. 3.3; 9C_301/2010 vom 21. Januar 2011 E. 3.2).

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 26. Januar 2012 und die Verfügung der
IV-Stelle Zug vom 10. Mai 2011 werden aufgehoben. Die Sache wird an die
IV-Stelle Zug zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen, über den Rentenanspruch der Beschwerdeführerin neu verfüge. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. August 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann