Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 259/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_259/2012

Urteil vom 11. April 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Advokat W.________,
Gesuchsteller,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt,
Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Gesuchsgegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Gesuch um Wiederherstellung der Frist
betreffend Urteil 9C_132/2012
vom 20. Februar 2012.

Sachverhalt:
Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde des K.________ vom 2. Februar 2012
gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom
5. Oktober 2011 nicht ein; die gesetzliche Rechtsmittelfrist war bereits mit
dem 1. Februar 2012 abgelaufen (Urteil 9C_132/2012 vom 20. Februar 2012).
Der Rechtsvertreter und dessen Substitutin reichen namens des Versicherten ein
Gesuch um Wiederherstellung der Frist zur Beschwerdeeinreichung ein. Beantragt
wird die Aufhebung des Urteils vom 20. Februar 2012; die Beschwerde vom 2.
Februar 2012 sei materiell zu beurteilen. Für die Prozesskosten sei der
Kostenerlass zu gewähren. Auf die Begründung des Gesuchs wird, soweit
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Erwägungen:

1.
1.1 Ist eine Partei oder ihr Vertreter beziehungsweise ihre Vertreterin durch
einen anderen Grund als die mangelhafte Eröffnung unverschuldeterweise
abgehalten worden, fristgerecht zu handeln, so wird die Frist
wiederhergestellt, sofern die Partei unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen
nach Wegfall des Hindernisses darum ersucht und die versäumte Rechtshandlung
nachholt (Art. 50 Abs. 1 BGG).

1.2 Nach Art. 50 Abs. 2 BGG kann die Fristwiederherstellung auch nach Eröffnung
des Urteils bewilligt werden; wird sie bewilligt, so wird das Urteil
aufgehoben. Der Umstand, dass das Bundesgericht mit Urteil 9C_132/2012 vom 20.
Februar 2012 auf die Beschwerde vom 2. Februar 2012 zufolge verspäteter
Beschwerdeerhebung nicht eingetreten und der Prozess mithin bereits
abgeschlossen ist, steht einer Behandlung des Gesuchs nicht entgegen. Wenn das
Gesuch begründet sein sollte, führt es - gleich einem erfolgreichen
Revisionsgesuch - zur Aufhebung des rechtskräftigen Bundesgerichtsentscheids
(Urteil 4F_6/2009 vom 1. Juli 2009 E. 1.3; vgl. Urteil H 44/05 vom 11. April
2005 E. 1.3).

1.3 Die dreissigtägige Frist zur Einreichung des Gesuchs ist eingehalten, da
der Rechtsvertreter vor Eröffnung des bundesgerichtlichen
Nichteintretensentscheids am 28. Februar 2012 glaubhaft keine Kenntnis von der
Nichteinhaltung der Rechtsmittelfrist hatte.

2.
2.1
2.1.1 Der Rechtsvertreter des Versicherten hat die Bearbeitung der Beschwerde
an das Bundesgericht wenigstens teilweise an eine juristische Mitarbeiterin
delegiert ("Rahmenvertrag für Arbeit auf Abruf" vom 16./17. Januar 2012). Im
Gesuch wird ausgeführt, diese Mitarbeiterin leide an einer nicht
generalisierten sozialen Phobie (spezifische Prüfungsangst). Im Auftrag des -
damals noch nicht um diese gesundheitliche Problematik wissenden -
Rechtsvertreters habe sie gleich nach Übernahme der Dossierbearbeitung Mitte
Januar 2012 den Fristenlauf bestimmt. Das Versehen bei der Fristberechnung
könne im Nachhinein nur durch krankheitsbedingte Blackouts erklärt werden. Das
geltend gemachte Leiden der Mitarbeiterin ist durch einen Verlaufsbericht der
Klinik X.________ vom 17. Februar 2012 belegt; die Betroffene nahm dort seit
Ende Oktober 2011 im Hinblick auf Anwaltsprüfungen eine kognitiv-behaviorale
Psychotherapie wahr, unter anderem um panikähnliche Angstanfälle,
Konzentrationsschwächen und Blackouts, die namentlich in Prüfungssituationen
auftreten, zu bekämpfen.
Nachdem sie die mündlichen Anwaltsprüfungen im Dezember 2011 nicht bestanden
hatte - so weiter die Gesuchsteller -, habe sich die Mitarbeiterin bei der
Auseinandersetzung mit der beim Bundesgericht einzureichenden Beschwerde
wiederum mit einer prüfungsähnlichen Situation konfrontiert gesehen. Die
demzufolge aufgetretene Symptomatik habe sie zunächst mit den nur kurze Zeit
zurückliegenden mündlichen Anwaltsprüfungen in Verbindung gebracht. Aufgrund
des Denkfehlers, wie er zum Fristversäumnis geführt habe, und weiteren bei der
Einreichung der Beschwerdeschrift vom 2. Februar 2012 aufgetretenen Aussetzern
habe sie die zuvor vermeintlich erfolgreich abgeschlossene Therapie im Februar
2012 wieder aufgenommen.
2.1.2 In rechtlicher Hinsicht machen der Rechtsvertreter und seine Substitutin
geltend, das für die Wiederherstellung der versäumten Frist erforderliche
unverschuldete Hindernis für ein fristgerechtes Handeln liege in den Symptomen
der sozialen Phobie, deren konkrete Folge (unrichtiges Vorgehen bei der
Fristberechnung) der betroffenen Mitarbeiterin nicht bewusst gewesen sei. Dem
Rechtsvertreter sei keine mangelhafte Organisation, Instruktion oder
Beaufsichtigung der beigezogenen qualifizierten Mitarbeiterin, einer Juristin
mit Berufserfahrung, vorzuwerfen, zumal er von deren gesundheitlichen Problemen
zu diesem Zeitpunkt nichts gewusst und sich auch nicht habe veranlasst sehen
müssen, an der Zusicherung seiner Mitarbeiterin zu zweifeln, der Fristablauf
sei korrekt ermittelt.

2.2 Ein Krankheitszustand bildet, wenn und solange er jegliches auf die
Fristwahrung gerichtete Handeln verunmöglicht, ein unverschuldetes, zur
Wiederherstellung führendes Hindernis (vgl. BGE 119 II 86; 112 V 255).
Entscheidend für die Frage des unverschuldeten Hindernisses ist, ob das Leiden
sich derart auf die Konzentrationsfähigkeit ausgewirkt hat, dass ein Vorwurf
der mangelnden Aufmerksamkeit bei der Fristberechnung entfallen müsste (Urteil
6S.54/2006 vom 2. November 2006 E. 2.2.2).
Es muss offenbleiben, ob die dargelegten Symptome grundsätzlich geeignet sein
können, ein unverschuldetes Hindernis für fristgerechtes Handeln annehmen zu
lassen. Denn aufgrund des konkreten Hergangs fehlt es am kausalen Zusammenhang
zwischen den gesundheitlichen Problemen der juristischen Mitarbeiterin und der
fehlerhaften Fristberechnung. Mit Blick auf den Verlaufsbericht der Klinik
X.________ ist es zwar nachvollziehbar, dass unter dem Zeitdruck, wie er bei
Abschluss der Rechtsschrift vorhanden gewesen sein mag, Blackouts aufgetreten
sind. Jedoch erfolgten die Fristberechnung und die Festlegung des
Einreichungstermins schon zu Beginn der Bearbeitung der Beschwerdeschrift.
Hätte sich die Symptomatik bereits zu diesem Zeitpunkt in der geltend gemachten
Intensität ausgewirkt, so wäre die Substitutin in der Folge kaum in der Lage
gewesen, die Beschwerdesache weitgehend selbständig materiell zu bearbeiten.
Unter diesen Umständen ist nicht nachvollziehbar, inwiefern das Versehen in der
Fristberechnung gleichsam unausweichlich gewesen sein sollte.

2.3 Fehlt es am Nachweis, dass das psychische Leiden bzw. eine durch dieses
hervorgerufene Konzentrationsstörung für die fehlerhafte Fristberechnung
ursächlich war, so besteht keine durch Art. 50 BGG abgedeckte Rechtfertigung,
die Frist wiederherzustellen.

3.
Abgesehen von dem in E. 2 Gesagten kommt eine Wiederherstellung auch deswegen
nicht in Betracht, weil der angeblich zur Nichteinhaltung der Beschwerdefrist
führende Umstand weder den Versicherten selber noch den ordnungsgemäss
bevollmächtigten Rechtsvertreter (vgl. die im Verfahren 9C_132/2012 aufgelegte
Anwaltsvollmacht vom 13. April 2011) betrifft.

4.
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber verzichtet (Art. 66
Abs. 1 zweiter Satz BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Das Gesuch um Wiederherstellung der Frist wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. April 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub