Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 250/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_250/2012 {T 0/2}

Urteil vom 29. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

T.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Gemperli,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 14. März 2012.

Sachverhalt:

A.
T.________, geboren 1951, arbeitete zuletzt seit 1990 als Maschinenführer
Metallbearbeitung in der Firma A.________ AG. Er meldete sich am 3. Oktober
2007 bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen zum Bezug von Leistungen der
Invalidenversicherung an (berufliche Massnahmen, Rente). Im Rahmen der
medizinischen Abklärung beauftragte diese das Zentrum X.________ mit einer
orthopädischen und psychiatrischen Begutachtung (vom 4./15. September 2008).
Mit Vorbescheid vom 23. Februar 2009 teilte die IV-Stelle T.________ zunächst
die Abweisung des Rentenbegehrens mit. Auf seinen Einwand hin holte sie beim
Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) einen interdisziplinären
rheumatologisch-psychiatrischen Bericht (vom 9. November 2009) ein. Nach
Durchführung eines neuen Vorbescheidverfahrens sprach die IV-Stelle dem
Versicherten mit Verfügung vom 18. Juni 2010 ab 1. Juli 2010 eine Viertelsrente
zu (Invaliditätsgrad von 46 %). Ergänzend verfügte sie am 14. Juli 2010
denselben Anspruch für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 30. Juni 2010. Mit
Verfügung vom 15. Juli 2010 korrigierte sie den am 18. Juni 2010 festgesetzten
Rentenbetrag (Fr. 405.- statt Fr. 409.-).

B.
Gegen die Verfügungen vom 18. Juni 2010, 14. Juli 2010 und 15. Juli 2010
reichte T.________ am 9. August 2010 Beschwerde beim Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen ein. Er beantragte die Zusprechung einer halben
Invalidenrente. Mit Verfügung vom 22. September 2010 zog die IV-Stelle die
Verfügung vom 15. Juli 2010 in Wiedererwägung und setzte die Viertelsrente nach
einer Neuberechnung auf Fr. 419.- fest. Das Versicherungsgericht hiess die
Beschwerde mit Entscheid vom 14. März 2012 gut. Es sprach T.________ ab 1. Juli
2007 eine Viertels- und ab 1. Januar 2009 eine halbe Rente zu.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids soweit, als ab 1. Januar
2009 eine halbe Rente zugesprochen wurde; es sei festzustellen, dass ab 1.
Januar 2009 weiterhin der Anspruch auf eine Viertelsrente bestehe.

Das kantonale Gericht und T.________ schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Soweit der angefochtene Entscheid dem Beschwerdegegner mehr zugesprochen hat
als die Beschwerdeführerin verfügte, ist auf die Beschwerde einzutreten (BGE
138 V 339 E. 2.3.2.2 S. 342 erster Absatz in fine). Vorinstanzlich bildete die
Verfügung vom 22. September 2010 das Anfechtungsobjekt. Die Beschwerde richtet
sich gegen die Gewährung einer halben statt der Viertelsrente ab 1. Januar
2009. Nicht angefochten ist hingegen die Zusprechung einer Viertelsrente
bereits ab 1. Juli 2007.

2.
Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art.
82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl.
auch Art. 97 Abs. 1 BGG).
Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand sowie die aufgrund
der medizinischen Untersuchungen gerichtlich konstatierte Arbeits(un)fähigkeit
betreffen Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398), welche sich nach der
gesetzlichen Regelung der Kognition einer freien Überprüfung durch das
Bundesgericht entziehen und die es seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat.
Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (132 V 393 E. 3.2
und 4 S. 397 ff.), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden
Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE
133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1
BGG).

3.
3.1 Nach dem Gutachten des Zentrums X.________ vom 4./15. September 2008 (Dr.
med. univ. J.________, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Arzt für
psychotherapeutische Medizin, Psychosomatik und Psychosoziale Medizin und Dr.
med. N.________, Spezialarzt Orthopädische Chirurgie FMH, Sportmedizin SGSM)
bestand beim Beschwerdegegner in körperlich adaptierten Tätigkeiten eine
Arbeitsfähigkeit von 85 %. Es konnte keine psychiatrische Diagnose mit
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt werden.

3.2 Laut dem am 9. November 2009 nach persönlicher Exploration des Versicherten
vom RAD erstatteten psychiatrisch-rheumatologischen Gutachten der Psychiaterin
Frau G.________ und des Dr. med. W.________, Facharzt für Rheumatologie,
Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Innere Medizin, lag aus
psychiatrischer Sicht seit Oktober 2008 in der angestammten und in adaptierten
Tätigkeiten eine 30%ige Arbeitsunfähigkeit vor. Die Psychiaterin
diagnostizierte eine leichte bis mittelgradige depressive Episode mit
somatischen Symptomen (ICD-10 F32.11) (reaktive Genese) und ein chronisches
Schmerzsyndrom. Dr. med. W.________ erhob einen seit der Zentrum Begutachtung
des Zentrums X.________ unveränderten Gesundheitszustand.

4.
4.1 Für die Vorinstanz bestand kein Grund, an der Richtigkeit der in der
psychiatrischen Beurteilung voneinander abweichenden Gutachten zu zweifeln. Sie
schloss, der psychische Gesundheitszustand des Beschwerdegegners habe sich erst
nach der Begutachtung des Zentrums X.________ verschlechtert. Dazu hielt sie
fest, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die diagnostizierte leicht-
bis mittelgradige depressive Episode vermutungsweise keine Arbeitsunfähigkeit
bewirke. Sie befand, in einer adaptierten Erwerbstätigkeit sei der Versicherte
bis September 2008 zu 85 % und ab Oktober 2008 nur noch zu 70 % arbeitsfähig
gewesen. Aufgrund der Neubemessung des Invaliditätsgrades (mit Erhöhung des
Tabellenlohnabzuges auf 15 %) führte dies zur Zusprache einer halben Rente auf
1. Januar 2009.

4.2 Die Beschwerdeführerin hält dagegen, nach den Ausführungen der RAD-Ärzte im
Bericht vom 9. November 2009 hätten die Zunahme der körperlichen Beschwerden,
der soziale Abstieg und die fehlende Bestätigung durch die Arbeit zu der
depressiven Entwicklung geführt. Die psychiatrische Diagnose sei somit
ausschliesslich aus psychosozialen Faktoren und dem chronischen Schmerzsyndrom
abgeleitet worden. Psychosoziale Faktoren begründeten jedoch nach der
Rechtsprechung für sich allein keine Invalidität. Eine leicht- bis
mittelgradige depressive Episode sei darum in der Regel nicht invalidisierend.
Es liege kein von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbarer
verselbstständigter und pathologischer Gesundheitsschaden vor. Auch andere mit
einer psychischen Komorbidität vergleichbare Faktoren, die die zumutbare
Willensanstrengung für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit behindern könnten,
lägen nicht in der geforderten Intensität vor. Den im Wesentlichen einzig
beschriebenen aetiologisch-pathogenetisch unerklärlichen (recte: unklaren)
syndromalen Leidenszuständen komme infolge der fehlenden Objektivierbarkeit in
der Regel keine invalidisierende Wirkung zu. Gemäss der seit BGE 130 V 352
gefestigten Praxis sei in psychischer Hinsicht von voller Arbeitsfähigkeit
auszugehen. In einer rheumatologisch adaptierten Tätigkeit sei der
Beschwerdegegner - wie berücksichtigt - zu 85 % arbeitsfähig.

5.
Nach der Rechtsprechung stellen leichte bis mittelgradige depressive Episoden
grundsätzlich keine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare
andauernde Depression im Sinne eines verselbstständigten Gesundheitsschadens
dar, die es der betroffenen Person verunmöglichten, trotz der Schmerzstörung
eine angepasste Tätigkeit auszuüben. Leichte bis höchstens mittelschwere
psychische Störungen depressiver Natur gelten grundsätzlich als therapeutisch
angehbar (Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1 mit Hinweisen). Der
Beschwerdegegner legt dar, bei seinem psychischen Leiden handle es sich nicht
um eine blosse Begleiterscheinung zu einer Schmerzstörung, sondern es seien
chronische körperliche Begleiterkrankungen mit mehrjährigem Krankheitsverlauf
bei progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission festgestellt
worden. Dies ändert für den hier massgebenden Sachverhalt bis zum Erlass der
Verfügungen nichts; denn zwischen den Gutachten des Zentrums X.________ vom
Herbst 2008 und demjenigen des RAD, das ein Jahr später verfast wurde, bestand
keine unterschiedliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit aus orthopädischen
Gründen. Der Umstand, dass der Beschwerdegegner im Oktober 2008 nach
Begutachtung des Zentrums X.________ die bis heute weitergeführte
psychotherapeutische Behandlung antrat, bedeutet nicht, dass er ab jenem
Zeitpunkt nicht mehr über genügende psychische Ressourcen verfügte, die es ihm
erlaubten, trotz seinen Schmerzen einem den orthopädischen Einschränkungen
angepassten Erwerb nachzugehen (BGE 130 V 352 E. 2.2.4 S. 355; 127 V 294 E. 5a
S. 299 unten). Weitere Abklärungen dazu sind nicht notwendig. Ob sich die
organischen bzw. psychischen Leiden verschlechtert haben, ist, wie in der
Vernehmlassung vorgebracht, Gegenstand eines laufenden Revisionsverfahrens.

6.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungs-gerichts des
Kantons St. Gallen vom 14. März 2012 wird aufgehoben, soweit damit dem
Beschwerdegegner ab 1. Januar 2009 eine halbe Invalidenrente statt der
Viertelsrente zugesprochen worden ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. November 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Schmutz