Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 235/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_235/2012

Urteil vom 5. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Verfahrensbeteiligte
B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Konrad Bünzli,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Swiss Life AG BVG Sammelstiftung,
General Guisan-Quai 40, 8002 Zürich,
AXA Stiftung Berufliche Vorsorge Winterthur, Paulstrasse 9, 8400 Winterthur.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
2. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
B.________ war seit April 1991 bei der S.________ AG als Stanzer tätig. Am 18.
Dezember 2000 meldete er sich unter Hinweis auf Rückenprobleme bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch. Am 10. September 2001
verfügte sie die Zusprechung einer ganzen Rente (bei einem Invaliditätsgrad von
100 %) ab 1. Oktober 2000. In den Jahren 2002 und 2005/06 führte sie
Rentenrevisionsverfahren durch und bestätigte mit Mitteilungen vom 15. Juli
2003 und 9. Oktober 2006 den bisherigen Leistungsanspruch. Im Rahmen eines
weiteren Revisionsverfahrens (eingeleitet im Herbst 2009) veranlasste die
IV-Stelle unter anderem eine Begutachtung bei der Zentrum X.________ Gutachten
vom 11. November 2010). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren, in dessen
Rahmen B.________ Einwände erheben und weitere medizinische Akten einreichen
liess, verfügte die IV-Stelle am 29. März 2011 die Einstellung der
Invalidenrente (bei einem IV-Grad von 24 %) auf Ende des der
Verfügungszustellung folgenden Monats.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des B.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 2. Februar 2012 ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides weiterhin die Zusprechung
einer ganzen Invalidenrente beantragen.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen oder
auf Rüge hin berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

1.2 Die gesetzliche Kognitionsbeschränkung gilt namentlich für die Einschätzung
der gesundheitlichen und leistungsmässigen Verhältnisse (Art. 6 ATSG), wie sie
sich bei der revisionsweisen Anpassung einer Invalidenrente nach Art. 17 ATSG
wegen Tatsachenänderungen (Gesundheitszustand, Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit
usw.) im revisionsrechtlich massgeblichen Vergleichszeitraum (BGE 133 V 108;
Urteil I 692/06 vom 19. Dezember 2006 E. 3.1) entwickelt haben.

2.
2.1 Die Vorinstanz legt die Rechtsgrundlagen zur Invalidität erwerbstätiger
Versicherter (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG), zum Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG) und zur revisionsweisen Anpassung der
Invalidenrente nach Art. 17 ATSG zutreffend dar. Darauf wird verwiesen. Korrekt
ist insbesondere, dass Referenzzeitpunkt für die Prüfung einer
anspruchserheblichen Änderung die letzte rechtskräftige Verfügung bildet,
welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer
Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Ermittlung des Invaliditätsgrades
(bei Anhaltspunkten für eine Änderung in den Auswirkungen der gesundheitlichen
Beeinträchtigung im erwerblichen oder im Aufgabenbereich) beruht (BGE 133 V 108
E. 5.4 S. 114).

2.2 Die am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Änderungen des ersten
Massnahmepakets der 6. IVG-Revision (AS 2011 5659), namentlich die erleichterte
Aufhebung oder Herabsetzung von Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch
unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage
gesprochen wurden und bei welchen die Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeit
(Art. 7 ATSG) nicht erfüllt sind (Schlussbestimmung a Abs. 1), sind auf die
hier streitige Rentenrevision noch nicht anwendbar.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Aufhebung der ab 1. Oktober 2000
zugesprochenen ganzen Invalidenrente rechtmässig erfolgte. Sachverhaltlich
umstritten geblieben sind nur medizinische Aspekte.

3.1 Die Vorinstanz erwog, es sei grundsätzlich gestützt auf das voll
beweiskräftige Gutachten des Zentrums X.________ vom 11. November 2010 davon
auszugehen, dass zum einen eine revisionsrelevante Veränderung des
Gesundheitszustandes eingetreten und zum anderen dem Versicherten eine
leidensangepasste Tätigkeit zumutbar sei. Neu habe die Augenproblematik ein die
Arbeitsfähigkeit beeinflussendes Ausmass erreicht, zusätzlich habe sich die
psychische Situation verbessert. In Würdigung der medizinischen Akten sei eine
leidensangepasste Tätigkeit überwiegend wahrscheinlich zu 80 % zumutbar; von
weiteren Abklärungen habe die Beschwerdegegnerin zu Recht abgesehen.

3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz gehe aktenwidrig und
willkürlich davon aus, dass die Netzhautablösung erst nach der letzten
Rentenzusprache eine anspruchsbegründende Beeinträchtigung bewirkt habe. In
psychischer Hinsicht lasse sich den Akten entnehmen, dass bei der letztmaligen
Rentenzusprache keine psychisch begründete Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe,
weshalb das kantonale Gericht zu Unrecht eine psychische Verbesserung als
Revisionsgrund unterstelle. In somatischer Hinsicht gehe die Vorinstanz zu
Recht nicht von einer wesentlichen Änderung aus, eine solche ergebe sich auch
nicht aus den Akten. Die "bloss nominellen Differenzen diagnostischer Art"
vermöchten keine revisionsweise Rentenaufhebung zu begründen.

4.
4.1 Zu Recht bringt der Beschwerdeführer vor, die gutachterliche Beurteilung,
wonach die seit dem Jahre 2000 ausbezahlte ganze Rente sich nicht auf
ausreichend dokumentierte gesundheitliche Beeinträchtigungen stützen lasse, sei
allein kein Grund für eine revisionsweise Rentenaufhebung. Darin liegt in der
Tat einzig eine revisionsrechtlich unerhebliche andere - wenn auch besser
nachvollziehbare - Beurteilung der damaligen Gesundheitsverhältnisse. Dass bis
zur Begutachtung in dem Zentrum X.________ nie eine fachärztlich schlüssige
Beurteilung der verbleibenden zumutbaren Arbeitsfähigkeit erfolgt war (vgl.
Stellungnahme des RAD-Arztes W.________ vom 18. August 2010) und die
ursprüngliche Leistungsgewährung (Verfügung vom 10. September 2001) auf einer
dürftigen medizinischen Befundlage basierte (während die Orthopäden am Spital
Z.________ rückenschonende Tätigkeiten grundsätzlich für zumutbar erachteten
[wobei der Zustand derzeit noch nicht stabil sei; Bericht vom 1. März 2001],
postulierte die Ärztin des Externen Dienstes Y.________ [Bericht vom 3. Juli
2001], nach zu erwartender Besserung der Depression aus psychischer Sicht sogar
die Rückkehr in die bisherige Tätigkeit; gleichwohl verfügte die IV-Stelle die
Zusprechung einer ganzen Rente ab 1. Oktober 2000 bei einem Invaliditätsgrad
von 100 %), die aus heutiger Sicht wohl für eine Rentenzusprechung nicht mehr
genügte, aber damals nicht unüblich war, ändert nichts. Entscheidend für die
Frage, ob die vorinstanzlich geschützte Rentenaufhebung durch die IV-Stelle vor
Bundesrecht Stand hält ist allein, ob im angefochtenen Entscheid seit der
letztmaligen umfassenden materiellen Überprüfung (im Jahre 2006) zu Recht eine
wesentliche tatsächliche Veränderung bejaht wurde.
4.2
4.2.1 Die Prüfung des Leistungsanspruches im Jahre 2006 stützte sich
insbesondere auf Beurteilungen der Ärzte am Spital Z.________
(neurochirurgische Klinik vom 31. März und 22. April 2005; orthopädische Klinik
vom 9. Juni 2005) sowie des Dr. med. K.________, FMH für Innere Medizin, vom
10. Januar 2006 (mit Bezugnahme auf neurologische Einschätzungen des Dr. med.
P.________, vom 10. August 2005). Diesen Beurteilungen ist zu entnehmen, dass
der Beschwerdeführer in somatischer Hinsicht - weiterhin - an einem chronischen
Zervikobrachialgiesyndrom C7 rechts litt (Berichte des Spitals Z.________,
neurochirugische Klinik, vom 31. März und 22. April 2005). Die Neurochirurgen
hielten in den angeführten Berichten fest, angesichts der multiplen
degenerativen Befunde, die insgesamt das Beschwerdebild nicht zu erklären
vermöchten, könnten sie dem Versicherten mit einer Operation nicht helfen bzw.
die Beschwerden liessen sich aus neurochirurgischer Sicht nicht erklären. Sie
regten eine (erneute) orthopädische Untersuchung an. Diese wurde in der Folge
durchgeführt und ergab unklare Schulterschmerzen rechts bei klinisch fehlenden
Zeichen einer Schultergelenkspathologie (weshalb eine
Schultergelenksinfiltration erfolgte, über deren Wirkungen sich den Akten aber
nichts entnehmen lässt; Operationsbericht vom 15. Juni 2005). Einen neuen
Befund erhob der Neurologe Dr. med. P.________, welcher unter Berücksichtigung
der Anamnese, der Klinik und seiner elektroneurophysiologischen Befunde eine
leichte Läsion des Plexus brachialis rechts ohne Anhalt für eine
Wurzelaffektion diagnostizierte. Die dadurch verursachten Beschwerden konnten
aber unter medikamentöser Therapie deutlich gebessert werden (was RAD-Arzt
W.________ in seiner Beurteilung vom 21. September 2006 ausser Acht liess).
4.2.2 Auch wenn für die Anspruchsprüfung im Jahre 2006 die weitgehende
Amaurosis (Blindheit) links nach Netzhautablösung offenbar keine entscheidende
Rolle spielte, war nach den insoweit zutreffenden Vorbringen des
Beschwerdeführers die Augenproblematik seit Jahren unverändert (vgl. z.B.
Bericht des Spitals Z.________ vom 27. März 2003). Auch dem Gutachten des
Zentrums X.________ ist nicht zu entnehmen, dass sich diesbezüglich eine
Veränderung ergeben hätte. Hingegen kann die vorinstanzliche Feststellung eines
verbesserten Gesundheitszustandes in psychischer Hinsicht weder als
offensichtlich unrichtig noch als willkürlich bezeichnet werden. Zunächst war
die psychische Problematik (depressive Episode mit somatischem Syndrom; Bericht
des Dienstes Y.________ vom 3. Juli 2001 mit undatierter Ergänzung hinsichtlich
der Prognose) für die bisherige Leistungszusprechung entgegen den
diesbezüglichen Einwänden des Beschwerdeführers durchaus relevant als
Mitursache für die seither anerkannte vollständige Arbeitsunfähigkeit; daran
änderte sich bis im Jahre 2006 nichts (vgl. z.B. Stellungnahme des RAD-Arztes
Dr. med. W.________ vom 21. September 2006). Ob die vom Internisten Dr. med.
K.________ diagnostizierte Depression/Angst gemischt, welche sich
offensichtlich nur auf die Schilderungen des Versicherten stützte (Bericht vom
10. Januar 2006), den Anforderungen an eine fachärztlich schlüssig
festgestellte Diagnose genügt, kann offen bleiben. Jedenfalls stellte die das
psychiatrische Teilgutachten des Zentrums X.________ verfassende Dr. med.
R.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, anlässlich ihrer
Untersuchung vom 19. Oktober 2010 fest, es bestünden derzeit keine relevanten
psychopathologischen Funktionseinschränkungen mehr für die Bewältigung des
Alltags oder des Berufslebens. Weil eine sichere retrospektive Beurteilung
nicht möglich und etwaige sozialmedizinische Bewertungen spekulativ wären,
bestehe ab Begutachtungsdatum medizinisch-theoretisch aus psychiatrischer Sicht
eine vollständige Arbeitsfähigkeit. Damit hat die Vorinstanz im Ergebnis kein
Bundesrecht verletzt, wenn sie feststellte, der medizinische Sachverhalt habe
sich in anspruchsrelevanter Weise verändert.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Swiss Life AG BVG Sammelstiftung, dem AXA
Stiftung Berufliche Vorsorge Winterthur, dem Versicherungsgericht des Kantons
Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. September 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle