Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 216/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_216/2012

Urteil vom 18. Dezember 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
L.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser,
Beschwerdeführerin,

gegen

EGK-Gesundheitskasse,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungs-gerichts des Kantons Thurgau vom
1. Februar 2012.

Sachverhalt:

A.
L.________ (geb. 1940) wurden infolge einer Pneumokokken-Sepsis beide Hände
sowie ein Fuss amputiert. Mit Schreiben vom 13. Januar 2011 garantierte die
EGK-Gesundheitskasse die Kostenübernahme für verschiedene Prothesen gemäss
Mittel- und Gegenstände-Liste (MiGeL) Ziff. 24.03, lehnte hingegen eine
Kostenübernahme für zwei i-Limb-Handprothesen ab, da für diese Prothesen nicht
der SVOT-Tarif verwendet worden sei. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid
vom 6. September 2011 fest.

B.
Hiegegen liess L.________ Beschwerde erheben mit dem Antrag, in Aufhebung des
Einspracheentscheids seien ihr die Kosten für das beanspruchte Hilfsmittel in
Form von zwei i-Limb-Handprothesen zu vergüten. Eventuell seien ihr zumindest
diejenigen Kosten für die i- Limb-Handprothesen zu vergüten, die ohnehin
anfallen würden. Mit Entscheid vom 1. Februar 2012 hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau die Beschwerde im Sinne des Eventualantrags teilweise gut.

C.
L.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei insofern teilweise
aufzuheben, als die Krankenkasse zu verpflichten sei, ihr das beanspruchte
Hilfsmittel in Form von zwei i-Limb-Handprothesen zu vergüten. Eventuell sei
eine Rückweisung an die Vorinstanz vorzunehmen zum erneuten Entscheid bezüglich
der Austauschbefugnis.
Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Krankenkasse und
Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E.
1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S.
140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Rüge- und Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von
Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (
BGE 134 IV 36 E. 1.4.1 S. 39). Die entsprechende Rüge prüft das Bundesgericht
nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert
begründet worden ist.

2.
2.1 Gemäss Art. 25 Abs. 1 KVG übernimmt die obligatorische
Krankenpflegeversicherung die Kosten für jene Leistungen, die der Diagnose oder
Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen. Darunter fallen nach Art.
25 Abs. 2 lit. a KVG die von Ärzten durchgeführten Untersuchungen, Behandlungen
und Pflegemassnahmen; sie gelten vermutungsweise als wirksam, zweckmässig und
wirtschaftlich (Art. 32 Abs. 1 KVG) und sind kostenvergütungspflichtig, sofern
sie nicht in der vom Bundesrat respektive vom Eidgenössischen Departement des
Innern (EDI) erstellten, abschliessenden Negativliste von der Leistungspflicht
ausgenommen sind (Art. 33 Abs. 1 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. a KVV
[SR 832.102]; Art. 1 KLV [832.112.31] in Verbindung mit Anhang 1 zur KLV; BGE
136 V 84 E. 2.1 S. 86, 129 V 167 E. 3.2 S. 170; 125 V 21 E. 5b S. 28).

2.2 Die Übernahmepflicht umfasst sodann gemäss Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG die
ärztlich verordneten Analysen, Arzneimittel und die der Untersuchung oder
Behandlung dienenden Mittel und Gegenstände. Hinsichtlich der - hier
interessierenden - Mittel und Gegenstände im Sinne von Art. 25 Abs. 2 lit. b
KVG ist nebst den allgemeinen, hier unstrittig erfüllten Voraussetzungen nach
Art. 32 Abs. 1 KVG verlangt, dass sie auf der vom EDI gestützt auf Art. 52 Abs.
1 lit. a Ziff. 3 KVG und Art. 33 lit. e KVV erstellten Mittel- und
Gegenstände-Liste (MiGeL; Art. 20a Abs. 1 KLV in Verbindung mit Anhang 2 zur
KLV) aufgeführt sind, andernfalls keine obligatorische Leistungspflicht besteht
(RKUV 2002 Nr. KV 196 S. 7, K 157/00 E. 3b/aa). Diese (Positiv-) Liste ist
abschliessend (BGE 136 V 84 E. 2.2 S. 86, 134 V 83 E. 4.1 S. 86 mit Hinweisen);
die darin aufgeführten Mittel und Gegenstände dürfen höchstens zu dem Betrag
vergütet werden, der in der Liste für die entsprechende Art von Mitteln und
Gegenständen angegeben ist (Art. 24 Abs. 1 KLV).
Ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Nichtaufnahme eines Gegenstands oder
Mittels in die MiGeL vor Gesetz und Verfassung standhält, hat sich das
Bundesgericht praxisgemäss grösste Zurückhaltung zu auferlegen (BGE 136 V 84 E.
2.2 S. 86 f.; RKUV 2002 Nr. KV 196 S. 7, K 157/00 E. 3c/bb mit weiteren
Hinweisen; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 101/03 vom 22. Juli 2004,
E. 4.2).

3.
Streitig ist die Leistungspflicht für die i-Limb-Handprothesen und
insbesondere, ob die MiGeL einen Höchstvergütungsbetrag aufweist.

3.1 Das kantonale Gericht ging davon aus, dass die MiGeL für Prothesen der
Extremitäten keinen Höchstbetrag nenne, sondern diesbezüglich auf den
Tarifvertrag mit dem Schweizerischen Verband der Orthopädie-Techniker (SVOT)
verweise (Position 24.03.01.00.1 MiGeL). Der dem SVOT-Tarif zugrunde liegende
Tarifvertrag sei per 30. Juni 2011 gekündigt worden. Nachdem die aktualisierte
MiGeL jedoch nach wie vor auf den SVOT-Tarif verweise, seien die dort
aufgeführten Höchstvergütungsbeträge trotz vertragslosen Zustands nach wie vor
massgebend. Hiervon gehe offensichtlich auch der Bundesrat aus, habe er doch im
Rahmen der an ihn gerichteten Interpellation Nr. 11.3807 betreffend
"zeitgemässe und zweckmässige Prothesenversorgung" am 9. Dezember 2011
festgehalten, der SVOT-Tarif stelle für die Krankenversicherung einen
Höchstvergütungsbetrag dar. Daraus, dass der Höchstvergütungsbetrag für
Prothesen der Extremitäten nicht in der MiGeL selbst, sondern im SVOT-Tarif
festgehalten sei, vermöge die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten
abzuleiten, werde in der MiGeL doch ausdrücklich auf diesen Tarif verwiesen. Da
im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung eine betragsmässige
Begrenzung der Kosten für Hilfsmittel von Gesetzes wegen explizit vorgesehen
sei und die von der Versicherten beanspruchten i-Limb-Handprothesen den
vorgesehenen Höchstbetrag unbestrittenermassen überstiegen, habe die
Krankenkasse die Kostenübernahme zu Recht abgelehnt. Hingegen bejahte das
kantonale Gericht die Voraussetzungen für eine Austauschbefugnis und
verpflichtete die Krankenkasse, der Beschwerdeführerin die gemäss SVOT-Tarif
für Handprothesen geschuldeten Kosten von Fr. 47'307.60 zu vergüten.

3.2 Die Beschwerdeführerin bringt vor, eine Überprüfung, ob der im SVOT-Tarif
aufgeführte Höchstbetrag überhaupt die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen
vermöge, habe die Vorinstanz unterlassen. Sie behaupte, die Versicherte mache
keine Gesetzes- resp. Verfassungswidrigkeit der MiGeL geltend. Einerseits werde
dies insofern bestritten, als dargelegt worden sei, dass es auf Grund der
Kündigung des SVOT-Tarifvertrags gar keinen geltenden Höchstbetrag mehr gebe,
somit sich die Notwendigkeit einer solchen Behauptung nicht gestellt habe,
andererseits sei die Vorinstanz auf Grund des geltenden
Untersuchungsgrundsatzes selber verpflichtet gewesen, dies zu überprüfen. Als
Voraussetzungen für Hilfsmittel, die vom Krankenversicherer zu übernehmen
seien, würden von Gesetzes wegen die Wirtschaftlichkeit, Wirksamkeit und
Zweckmässigkeit gelten. Hinsichtlich der Zweckmässigkeit seien gerade beim
vorliegenden Fall besondere Aspekte zu beachten. In der Einsprache seien
ausführlich die Nachteile der nach SVOT-Tarif zu entschädigenden Otto
Bock-Prothese dargelegt worden. Relevant seien insbesondere das eingeschränkte
Griffmuster, aber auch die fehlende Möglichkeit der Dosierung der Greifkraft
oder die mangelnde Griffsicherheit. Diese Einschränkungen seien verkraftbar,
wenn nur eine Handprothese notwendig sei. Die Anforderungen an die
Zweckmässigkeit stellten sich aber völlig anders bei einer zweihändigen
Versorgung. Die Prothese habe dann nicht nur Hilfs- und Stützfunktion, sondern
sie müsse möglichst ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten bieten, um nur
schon den Alltag zu bewältigen. Eine zweckmässige Versorgung sei aber nur mit
der i-Limb-Handprothese gewährleistet. Der vom SVOT-Tarif vorgegebene
Höchstbetrag schliesse eine solche Versorgung aus, weshalb das Gericht befugt
sei, diesen Betrag zu überprüfen und für die Ausgangslage einer beidhändigen
Versorgung speziell festzulegen. Bestritten werde, dass die SVOT-Tarife nach
wie vor Gültigkeit hätten trotz des vertragslosen Zustandes. Es sei vielmehr im
Einzelfall die gemäss den Voraussetzungen Wirtschaftlichkeit, Wirksamkeit und
Zweckmässigkeit beste Lösung zu suchen. Da im Moment noch Unklarheiten darüber
bestünden, ob im Kostenvoranschlag effektiv alle Positionen aufgeführt seien,
sei die Sache eventualiter an die Vorinstanz zur Abklärung der Höhe der
Austauschbefugnis zurückzuweisen.

4.
Auszugehen ist davon, dass die kassenpflichtigen Mittel und Gegenstände gemäss
Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG in Anhang 2 KLV (MiGeL) nach Arten und
Produktegruppen in einer abschliessenden Positivliste aufgezählt sind. Die
MiGeL ist eine abschliessende Aufzählung der Mittel und Gegenstände, die von
den Versicherten direkt oder allenfalls unter Beizug von nicht-medizinischen
Hilfspersonen angebracht und/oder verwendet werden können. Gemäss Art. 24 Abs.
1 KLV werden die Mittel und Gegenstände höchstens zu dem Betrag vergütet, der
in der Liste für die entsprechende Art von Mitteln und Gegenständen angegeben
ist. Es gilt somit eine Festbetragsregelung (Art. 52 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 KVG;
Art. 24 Abs. 1 KLV; BGE 136 V 84 E. 2.3.1 S. 87) im Sinne einer
Höchstvergütung. Anspruch auf Kostenerstattung besteht nur für eine einfache
und zweckmässige Ausführung. Wer ein teureres Produkt wählt, hat für die
Kostendifferenz selber aufzukommen (Art. 24 Abs. 2 KLV; zum Ganzen: Gebhard
Eugster, Krankenversicherung, in: Meyer [Hrsg.], Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl. 2007, S. 606 ff.
Rz. 626). Trotz Kündigung des SVOT-Tarifs ist dieser in der Fassung vom 25.
März 2002 samt Zusatzvereinbarung weiterhin im Rahmen der MiGeL für die
Bestimmung der Höchstvergütung massgebend, wie dies in Positions-Nr.
24.03.01.00.1 der MiGeL klar festgehalten wird (vgl. auch MiGeL in der Fassung
vom 1. Januar 2012). Anders verhält es sich unter anderem für Mittel und
Gegenstände, die in den Körper implantiert werden. Sie sind in der MiGeL nicht
aufgeführt (Art. 20a Abs. 2 KLV), damit sie von der Festbetragsregelung gemäss
Art. 24 Abs. 1 KLV ausgeklammert sind (Eugster, a.a.O., S. 606 Rz. 626; BGE 136
V 84 E. 2.3.1 S. 87). Angesichts dieser gesetzgeberisch gewollten
Festbetragsregelung steht es in Einklang mit dem Bundesrecht, wenn das
kantonale Gericht auch nach Kündigung des SVOT-Tarifes dessen Höchstbetrag für
die Abgabe von Prothesen angewendet hat. In der Höchstvergütungsbetragsregelung
liegt auch der Unterschied zur rechtlichen Situation in der
Invalidenversicherung. Nicht streitig und gestützt auf die Austauschbefugnis
(vgl. Art. 24 Abs. 1 KLV) zu übernehmen sind die Kosten, welche ohnehin nach
Ziff. 24.03 MiGeL angefallen wären. Die Krankenkasse wird diese Kosten, sobald
sie feststehen, zu übernehmen haben, da sie selbst den kantonalen Entscheid
nicht angefochten hat (vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG). Die Krankenkasse wird, sofern
der zu entschädigende Betrag umstritten sein sollte, hierüber neu verfügen. Es
besteht daher kein Anlass, die Sache zur Festlegung des genauen Betrages an das
kantonale Gericht zurückzuweisen.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Dezember 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer