Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 196/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_196/2012

Urteil vom 20. April 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
B.________, vertreten durch
Rechtsanwalt und Notar Claude Wyssmann,
Beschwerdeführer,

gegen

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Amthaus 1, 4500 Solothurn,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(unentgeltliche Rechtspflege; kantonales Verfahren),

Beschwerde gegen die Verfügung des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 26. Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1954 geborene B.________ erlitt am 8. Mai 2007 einen Fahrradunfall. Die
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) stellte ihre Leistungen zum 1.
März 2010 ein (Einspracheentscheid vom 13. Oktober 2010). Auf Beschwerde hin
hob das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn diesen Verwaltungsakt auf
und wies die Sache zu weiteren Abklärungen betreffend allfälliger
orthopädischer und ORL-medizinischer Unfallfolgen an die SUVA zurück (Entscheid
vom 16. Mai 2011). Im März 2008 hatte sich B.________ bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons
Solothurn holte u.a. beim Zentrum X.________ eine Expertise ein. Mit
Vorbescheid vom 5. April 2011 teilte sie dem Versicherten mit, es bestehe kein
Anspruch auf berufliche Massnahmen und eine Invalidenrente. Dagegen erhob
B.________ Einwand, wobei er um "volle unentgeltliche Rechtspflege und
Rechtsverbeiständung" ersuchte. Mit Verfügung vom 17. August 2011 wies die
IV-Stelle das Begehren ab. Bezug nehmend auf den Einwand gegen ihren
Vorbescheid und unter Vorlage weiterer ärztlicher Berichte ersuchte sie am 5.
September 2011 das Zentrum X.________ um Stellungnahme.

B.
B.________ liess beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Beschwerde
einreichen und beantragen, die Verfügung vom 27. August 2011 sei aufzuheben und
ihm für das Vorbescheidverfahren die volle unentgeltliche Rechtspflege zu
gewähren sowie eine öffentliche Verhandlung mit zusätzlicher Partei- und
Zeugenbefragung durchzuführen; ebenfalls sei ihm für dieses Verfahren die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Mit Entscheid vom 26. Januar 2012 wies das angerufene Gericht das Gesuch um
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege bzw. Bestellung eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes (Dispositiv-Ziffer 3) und die Anträge, es sei
eine öffentliche Verhandlung mit zusätzlicher Partei- und Zeugenbefragung
durchzuführen (Dispositiv-Ziffer 4), ab.

C.
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, Dispositiv-Ziffer 3 und 4 des Entscheids vom 26. Januar 2012
seien aufzuheben, ihm für das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht
die volle unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zu gewähren,
eventualiter die Sache zum Neuentscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das kantonale Versicherungsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer beantragt auch die Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 4 des
vorinstanzlichen Entscheids, der den Antrag auf Durchführung einer öffentliche
Verhandlung mit zusätzlicher Partei- und Zeugenbefragung abweist. Er äussert
sich indessen mit keinem Wort zu den diesbezüglichen Erwägungen des kantonalen
Gerichts. Insoweit ist daher nicht auf die Beschwerde einzutreten (Art. 41 Abs.
1 und 2 BGG).

2.
Der angefochtene Entscheid verneint den Anspruch des Beschwerdeführers auf
unentgeltliche Rechtspflege, insbesondere das Recht, sich verbeiständen zu
lassen (Art. 61 lit. f ATSG), im Streit um den von der IV-Stelle verneinten
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für das Vorbescheidverfahren (Art. 37
Abs. 4 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG). Dabei handelt
sich um einen selbständig eröffneten Zwischenentscheid, der einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Urteil 8C_679
/2009 vom 22. Februar 2010 E. 1 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 9C_286/2009 vom
28. Mai 2009 E. 1). Auf die Beschwerde ist somit einzutreten, da auch die
übrigen formellen Gültigkeitserfordernisse gegeben sind.

3.
Die Vorinstanz hat die Rechtsprechung zum Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren nach Art. 37 Abs. 4 ATSG richtig
wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Nach Art. 61 lit. f ATSG muss im Verfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht das Recht, sich verbeiständen zu lassen, gewährleistet
sein. Wo die Verhältnisse es rechtfertigen, wird der Beschwerde führenden
Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt. Praxisgemäss setzt die
unentgeltliche Verbeiständung voraus, dass der Prozess nicht aussichtslos
erscheint, die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig
oder doch geboten ist (Urteil 8C_679/2009 vom 22. Februar 2010 E. 1 mit
Hinweis; vgl. auch BGE 125 V 201 E. 4a S. 202).
4.2
4.2.1 Prozessbegehren sind als aussichtslos anzusehen, wenn die
Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren, so dass
sie kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Massgebend ist, ob eine
Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger
Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde (BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135;
128 I 225 E. 2.5.3 S. 236; Urteil 9C_286/2009 vom 28. Mai 2009 E. 2.1). Eine
Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen
würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet (SVR 2006 UV
Nr. 10 S. 37, U 266/04 E. 1.1.2 [nicht publ. in: BGE 131 V 483]).
4.2.2 Ob die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch geboten ist,
beurteilt sich nach den konkreten objektiven und subjektiven Umständen, Es ist
im Einzelfall zu fragen, ob eine nicht bedürftige Partei unter sonst gleichen
Umständen vernünftigerweise eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt
beiziehen würde, weil sie selber zu wenig rechtskundig ist und das Interesse am
Prozessausgang den Aufwand rechtfertigt (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts
I 812/05 vom 24. Januar 2006 E. 4.1 mit Hinweisen).

5.
Die Vorinstanz hat mit folgender Begründung den Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege für das hängige Verfahren verneint: Bis zum Vorbescheid vom 5.
April 2011 habe das Verwaltungsverfahren weder in tatsächlicher noch
rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten aufgewiesen, die eine anwaltliche
Vertretung erheischt hätten. Vielmehr habe die IV-Stelle ihr Vorgehen mit jenem
der SUVA koordiniert, wobei der Beschwerdeführer im UV-Verfahren anwaltlich
vertreten gewesen sei. Die Vorhalte im Einwand gegen den Vorbescheid liessen
sich aufgrund der Stellungnahme des Zentrums X.________ einfach auflösen in dem
Sinne, dass insbesondere die Schwerhörigkeit keine prozentuale Verminderung der
Arbeitsfähigkeit zur Folge habe. Weiter wäre es den zuständigen Behörden der
Sozialhilfe zumutbar, den seit April 2010 bei ihnen gemeldeten Beschwerdeführer
zu unterstützen. Dass sich der Zweckverband Sozialregion Y.________ dazu
ausserstande sähe, sei nicht aktenkundig. Aus der Behauptung, wegen der
Schwerhörigkeit nicht adäquat kommunizieren zu können und der deutschen Sprache
nicht mächtig zu sein, könne der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten
ableiten. Gemäss den Ärzten des Zentrums X.________ verfüge er über eine
befriedigende Hörversorgung; das Erheben der Anamnese in der Umgangssprache sei
problemlos möglich gewesen. Im Übrigen wäre es dem seit 18 Jahren in der
Schweiz lebenden Versicherten im Rahmen der Schadenminderungspflicht zumutbar,
allenfalls fehlende Kenntnisse in der deutschen Sprache mittels entsprechenden
Kursen zu begegnen. Vor diesem Hintergrund und nach einer vorläufigen Prüfung
des Sachverhalts schienen die Aussichten auf eine erfolgreiche Beschwerde
gering zu sein, weshalb der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im
vorliegenden Verfahren zu verneinen sei.

6.
Der Beschwerdeführer rügt, der vorinstanzliche Entscheid beruhe auf
offensichtlich unrichtigen, teilweise aktenwidrigen tatsächlichen Annahmen.

6.1 Das Bundesgericht prüft frei, ob die vorinstanzliche Beschwerde
aussichtslos ist (vgl. BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 136; Urteil 9C_286/2009 vom
28. Mai 2009 E. 2.3). Dagegen ist es an die Sachverhaltsfeststellung der
Vorinstanz gebunden, soweit diese nicht offensichtlich unrichtig sind oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG).

6.2 Vorab ist festzustellen, dass es in dem beim kantonalen Gericht anhängigen
Prozess um die unentgeltliche Verbeiständung für das Vorbescheidverfahren geht.
Ob das Verfahren bis zum Erlass des Vorbescheids vom 5. April 2011
Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht bot, ist somit ohne
Belang. Was nun den zu prüfenden Prozessgegenstand anbelangt, war der Einwand
des beigezogenen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers gegen die in Aussicht
gestellte Verneinung des Anspruchs auf berufliche Massnahmen und eine
Invalidenrente so verfasst, dass die IV-Stelle dadurch veranlasst wurde, bei
den Ärzten der Gutachterstelle unter Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen
eine Stellungnahme einzuholen (Anfrage vom 5. September 2011). Allein dieser
Umstand lässt es als mit dem bundesrechtlichen Begriff der Aussichtslosigkeit
unvereinbar erscheinen, der beschwerdeweise behaupteten Notwendigkeit
anwaltlicher Interessenwahrung im Vorbescheidverfahren die Gewinnchancen bei
dieser Sachlage zum Vornherein als "gering" zu bezeichnen. Die Beschwerde ist
begründet.

7.
Die unterliegende Vorinstanz resp. der Kanton Solothurn hat keine
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 4 BGG), jedoch dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Dessen Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor dem Bundesgericht ist
demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 26. Januar 2012
wird aufgehoben und die Sache an dieses zurückgewiesen, damit es, nach Prüfung
der weiteren Voraussetzungen, über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung im hängigen Beschwerdeverfahren neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Solothurn hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle des Kantons Solothurn und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. April 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler