Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 18/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_18/2012

Urteil vom 5. Juli 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
F.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Hochstrasser,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
1. November 2011.

Sachverhalt:

A.
Der 1967 geborene F.________ arbeitete nach einer abgebrochenen Gipserlehre
während einiger Jahre als Maurer und Chauffeur. Im Herbst 1988 trat er in die
Firma Q.________ AG ein, wo er zunächst als Kundenberater, später als
Verkaufskoordinator im Bereich Derivatehandel und schliesslich als Mitglied der
Geschäftsleitung (Head of Investment Consulting) tätig war. Im Herbst 2009
verlor er seine Stelle, weil die betreffende Abteilung geschlossen wurde.

Am 11. September 2009 meldete sich F.________ mit Hinweis auf eine Diskushernie
und eine psychische Erkrankung bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle
des Kantons Aargau klärte den medizinischen und erwerblichen Sachverhalt ab. Am
29. Dezember 2010 erliess die Verwaltung eine Verfügung, mit welcher sie einen
Anspruch auf berufliche Massnahmen (Umschulung) mangels Invalidität verneinte.
Mit Verfügung vom 6. Januar 2011 sprach sie F.________ für die Zeit von März
bis August 2010 eine ganze Rente zu.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen die Verfügung vom 6.
Januar 2011 erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 1. November 2011).

C.
F.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, angefochtener Entscheid und strittige Verfügung seien
aufzuheben und sei ihm über den 31. August 2010 hinaus eine Invalidenrente
zuzusprechen. Eventuell sei die Sache zur Ermittlung des richtigen
medizinischen Sachverhaltes und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen; subeventuell sei über seinen Gesundheitszustand ein Gutachten
zu erstellen.

Erwägungen:

1.
1.1 Das kantonale Gericht stellte massgeblich auf ein Gutachten der Klinik
X.________ vom 17. Mai 2010 (Dr. L.________, Psychiatrie, und Prof. M.________,
Neurologie) ab, gemäss welchem belastende Lebensumstände eine
depressiv-ängstliche Anpassungsstörung hervorgerufen hätten, die inzwischen
vollständig abgeklungen sei; die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers sei
aus psychiatrischer Sicht nicht vermindert. Auch aus einem Gutachten des
Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) gehe hervor, dass die bei der Untersuchung
vom 26. Mai 2010 festgestellte leichte depressive Episode nur noch durch den
Umstand aufrecht erhalten werde, dass der Versicherte über keine Stelle mehr
verfüge, nachdem er diese infolge betrieblicher Restrukturierungsmassnahmen
verloren habe.

1.2 Der Beschwerdeführer begründet einen über August 2010 hinausreichenden
Anspruch auf eine Invalidenrente damit, die vorinstanzliche Beweiswürdigung sei
willkürlich. Das kantonale Gericht habe ausserdem den Untersuchungsgrundsatz
(Art. 61 lit. c ATSG) verletzt. Im Einzelnen macht der Beschwerdeführer
geltend, die Expertise der Klinik X.________ vom 17. Mai 2010, bei welcher es
sich um ein Parteigutachten zuhanden des Taggeldversicherers handle, weise
verschiedene Mängel auf: So sei der mitunterzeichnende Dr. L.________ im
Zeitpunkt der psychiatrischen Exploration sowie der Verfertigung des Gutachtens
nicht Mitarbeiter der betreffenden Klinik gewesen. Angesichts der unter der
Signatur platzierten blossen Angabe "Psychiatrie" sei davon auszugehen, dass
Dr. L.________ keinen Facharzttitel besitze und daher nicht in der Lage sei,
die Berichte des behandelnden Facharztes für Psychiatrie zu beurteilen. Der
ebenfalls als Gutachter fungierende Prof. M.________ sei Neurologe; zudem habe
er den Beschwerdeführer nie gesehen und konsiliarisch beurteilt. Insgesamt
könne nicht von einem - hier erforderlichen - psychiatrischen Gutachten
gesprochen werden. Hinzu kämen Mängel wie derjenige, dass belastende
krankheitsrelevante Faktoren (gesundheitliche Probleme des Beschwerdeführers im
Jahr 2009, Krebserkrankung seiner Ehefrau, Stellenverlust) nicht berücksichtigt
worden seien. Die Gutachter ignorierten nicht nur anamnestische Angaben des
Beschwerdeführers, sondern auch Stellungnahmen zweier Fachärzte der
Psychiatrie, die übereinstimmend eine ernsthafte depressive Störung
mittelgradiger Ausprägung diagnostiziert hätten; ebensowenig hätten die
Gutachter Kontakt zum behandelnden Arzt aufgenommen.

2.
2.1 Im Rahmen der eingeschränkten Sachverhaltskontrolle ist es dem
Bundesgericht regelmässig verwehrt, auf umfassender Würdigung des medizinischen
Dossiers beruhende Feststellungen des kantonalen Gerichts über
Gesundheitsschädigungen und deren funktionelle Folgen durch eigene
Sachverhaltsfestlegungen zu ersetzen. Es kann die Feststellungen der Vorinstanz
allerdings dann von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig oder unvollständig (SVR 2009 IV Nr. 10 S. 21 E. 1,
9C_40/2007) sind oder sonst auf einer Verletzung von Bundesrecht beruhen (vgl.
Art. 97 Abs. 1 und 105 Abs. 2 BGG).

2.2 Mit Blick auf diese Grundsätze kann die unter verschiedenen Gesichtspunkten
strittige Frage offen bleiben, ob die Vorinstanz zu Recht massgebend auf die
vom Beschwerdeführer kritisierte Expertise abgestellt hat. Die IV-Stelle liess
den Beschwerdeführer durch ihren Regionalen Ärztlichen Dienst (Dr. A.________)
psychiatrisch begutachten. Dieser kam im Wesentlichen zu den gleichen
Ergebnissen wie die vom Taggeldversicherer beauftragten Sachverständigen der
Klinik X.________. Der ausführliche Bericht des RAD vom 26. Mai 2010 ist
formell unter keinem Aspekt zu beanstanden (vgl. die Leitlinien der
Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie für die Begutachtung
psychischer Störungen, in: Schweizerische Ärztezeitung [SAeZ] 2004 S. 1048
ff.). Da der - die Qualität eines Gutachtens erreichende - RAD-Bericht auch
inhaltlich überzeugt, ist er uneingeschränkt beweiswertig (SVR 2009 IV Nr. 56
S. 174, 9C_323/2009 E. 4.3), so dass es nicht entscheidend auf das Gutachten
der Klinik X.________ ankommt. Ebenso erübrigen sich die beantragten weiteren
Abklärungen.

2.3 Aus dem RAD-Bericht geht hervor, dass der Beschwerdeführer auf mehrere
Belastungsfaktoren mit einer mittelschweren Depression reagiert hat. Diese habe
sich unter fachärztlicher Behandlung bis hin zur Symptomfreiheit gebessert. Ein
verzögerter Beginn der Umschulung habe indes zu erneuten depressiven Symptomen
geführt. Der Versicherte wisse, dass er heute trotz der langjährigen
Berufserfahrung keine Aussicht mehr auf eine der früheren entsprechende Stelle
habe, weil der einschlägige Berufsabschluss fehle; er sei aber an einer Aus-/
Weiterbildung interessiert, um in einem verwandten Berufsfeld tätig sein zu
können. Wenn der sehr leistungsorientierte Versicherte nicht bald wieder in das
Berufsleben integriert werden könne, bestehe die Gefahr, dass sich das Leiden
verstärke und chronifiziere. Für die psychische Stabilität des Versicherten sei
also entscheidend, dass er wieder eine Zukunftsperspektive entwickeln könne;
dies sei am besten mit beruflichen Massnahmen zu erreichen. Der Versicherte sei
aus ärztlicher Sicht in der Lage, eine solche Weiterbildung und eine spätere
berufliche Tätigkeit ohne Einschränkung zu versehen.

2.4 Die Ausführungen des RAD zeigen, dass das ("reaktive") depressive Geschehen
unmittelbare Folge externer Belastungen war, namentlich der Krebserkrankung der
Ehefrau, der Bandscheibenoperation, dem Arbeitsplatzverlust und den Problemen
im Verlauf der beruflichen Umorientierung. Dafür spricht auch das gute
Ansprechen auf fachärztliche Behandlung. Die weiteren psychiatrischen Berichte
(des Dr. W.________ vom 10. Oktober 2009 und des Dr. R.________ vom 29. März
2010) sehen den Verlauf der Beeinträchtigung ebenfalls vorab an die beruflichen
Perspektiven gebunden und attestieren gute Aussichten auf eine vollständige
berufliche Reintegration. Somit besteht (und bestand) nach einhelliger
medizinischer Beurteilung keine von der Belastungssituation unterscheidbare und
in diesem Sinne verselbständigte psychische Störung. Nach ständiger
Rechtsprechung kann in solchen Fällen kein invalidisierender Gesundheitsschaden
angenommen werden (BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Wenn der RAD-Psychiater Dr.
A.________ von einem "eigenständigen" depressiven Geschehen spricht, erfolgt
dies zur Abgrenzung von der früher (durch Dr. W.________) gestellten Diagnose
einer Anpassungsstörung.

2.5 Das Fehlen eines invalidisierenden Gesundheitsschadens ergibt sich - im
Umkehrschluss - auch insoweit aus dem RAD-Bericht vom 26. Mai 2010, als (erst)
im Falle einer fortwährenden Ungewissheit über die berufliche Zukunft eine
chronifizierende, die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende depressive Störung
einzutreten drohe. Der Ausschluss einer Invalidität im Hinblick auf den
Rentenanspruch ist im Übrigen nicht per se auf die Eingliederungsfrage
übertragbar. Angesichts des wiederholt beschriebenen engen Zusammenhangs
zwischen den beruflichen Perspektiven und dem gesundheitlichen Geschehen sowie
der Chronifizierungsgefahr ist bei der Prüfung der Voraussetzungen für einen
Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen (vgl. Verfügung der IV-Stelle vom 29.
Dezember 2010, paralleles vorinstanzliches Verfahren VBE 2010.91) zu beachten,
dass auch schon von der Invalidität bedrohte Versicherte gegebenenfalls
Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen haben können (Art. 8 Abs. 1 IVG und Art.
1novies IVV; Silvia Bucher, Eingliederungsrecht der Invalidenversicherung, S.
73 Rz. 116 ff.).

2.6 Nach dem Gesagten besteht die vorinstanzliche Schlussfolgerung, beim
Beschwerdeführer habe bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens (vgl. BGE 132
V 215 E. 3.1.1 S. 220) keine rentenbegründende Invalidität vorgelegen, zu
Recht.

3.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Juli 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub