Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 177/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_177/2012

Urteil vom 3. Juli 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
E.________,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 15. November 2011.

Sachverhalt:

A.
Die 1927 geborene, an hochgradiger Sehschwäche leidende E.________ lebt in
einer Alterswohnung, welche zum Seniorenzentrum W.________ gehört. Mit
Verfügung vom 31. März 2011 lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Zürich das
Gesuch der Versicherten um Zusprechung einer Hilflosenentschädigung ab, woran
sie auf Einsprache hin mit Entscheid vom 19. April 2011 festhielt.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher E.________ die Zusprechung
einer Entschädigung der AHV für leichte Hilflosigkeit beantragen liess, wies
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 15.
November 2011 ab.

C.
E.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und
des Einspracheentscheides sei die Sache zu ergänzenden Abklärungen und neuer
Verfügung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 43bis Abs. 1 Satz 1 AHVG in der seit 1. Januar 2011 in Kraft
stehenden Fassung haben Bezüger von Altersrenten oder Ergänzungsleistungen mit
Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die in schwerem, mittlerem
oder leichtem Grad hilflos sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Nach
Art. 43bis Abs. 1bis AHVG, in Kraft seit 1. Januar 2011, entfällt der Anspruch
auf die Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grades bei einem
Aufenthalt im Heim. Als Heim im Sinne von Art. 43bis Abs. 1bis AHVG gilt jede
Einrichtung, die von einem Kanton als Heim anerkannt wird oder über eine
kantonale Betriebsbewilligung als Heim verfügt (Art. 66bis Abs. 3 AHVV). Gleich
umschrieben wird der Begriff Heim in Rz. 8118.3 des Kreisschreibens des BSV
über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung in der seit 1.
Januar 2012 geltenden Fassung.

2.
Nach den Feststellungen der Vorinstanz ist die hochgradige Sehschwäche der
Beschwerdeführerin ausgewiesen, welche eine Hilflosigkeit leichten Grades
begründet. Streitig ist hingegen, ob die Alterswohnung der Versicherten, die
zum Seniorenzentrum W.________ gehört, als Heim zu qualifizieren ist. Während
die Vorinstanz zur Auffassung gelangt ist, der Aufenthalt in der Alterswohnung
habe als Aufenthalt in einem Heim nach Art. 43bis Abs. 1bis AHVG zu gelten,
vertritt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen unter Hinweis auf Art. 66bis
Abs. 3 AHVV und die von ihr durchgeführten Abklärungen die gegenteilige
Ansicht.

3.
Ob ein Heimaufenthalt im Sinne von Art. 43bis Abs. 1bis AHVG vorliegt,
beurteilt sich gemäss dem klaren Wortlaut von Art. 66bis Abs. 3 AHVV, von
welchem bei der Gesetzesauslegung in erster Linie auszugehen ist (BGE 136 V 216
E. 5.1 S. 217, 135 V 153 E. 4.1 S. 157), nach formellen Kriterien. Massgebend
ist einzig, ob die Einrichtung, in welcher sich die versicherte Person aufhält,
von einem Kanton als Heim anerkannt wird oder über eine kantonale
Betriebsbewilligung als Heim verfügt. Angesichts dieser klaren und
unmissverständlichen Definition auf Verordnungsstufe, die auch in Einklang mit
den Ausführungen in der Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die
Neuordnung der Pflegefinanzierung vom 16. Februar 2005 (BBl 2005 2079) steht,
wonach die Entschädigung für leichte Hilflosigkeit nur Personen gewährt werden
soll, die zu Hause wohnen, nicht aber bei Heimaufenthalt, erübrigt sich
entgegen der Vorinstanz die Prüfung materieller Gesichtspunkte. Massgebend für
die Beantwortung der Frage, ob ein Heim im Sinne des AHVG vorliegt, ist daher
nicht, dass die Wohnung nebst altersgerechtem Ausbaustandard von der
gemeinschaftlichen heimspezifischen Infrastruktur profitiert und sämtliche
alters- und pflegespezifischen Angebote und Dienstleistungen eines einzelnen
Anbieters, des Seniorenzentrums, in Anspruch genommen werden können. Die von
der Vorinstanz getroffenen sowie allenfalls weitere Abgrenzungen anhand
zusätzlicher Kriterien, die hier nicht zu diskutieren sind, hat der Kanton, der
eine Institution als Heim anerkennt oder dieser die Betriebsbewilligung
erteilt, vorzunehmen. Mit Blick auf den klaren Wortlaut von Art. 66bis Abs. 3
AHVV, dessen Gesetzmässigkeit ausser Frage steht, obliegt diese Aufgabe nicht
Ausgleichskassen und Gerichten. Diese haben sich vielmehr an den Vorgaben der
Kantone und deren Einstufung der entsprechenden Institutionen zu orientieren.

4.
Mit Bezug auf die Frage, ob es sich beim Aufenthalt in der Alterswohnung der
Beschwerdeführerin um einen Heimaufenthalt handelt, hat das
Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig
festgestellt, weshalb das Bundesgericht nicht daran gebunden ist (Art. 105 Abs.
2 BGG). Die vom Rechtsvertreter telefonisch eingeholten Auskünfte wie auch die
mit der Beschwerde eingereichte Liste von Heimen mit Pflegeplätzen und
Altersheimen im Bezirk Y.________ deuten darauf hin, dass der Aufenthalt in der
Alterswohnung der Beschwerdeführerin nicht als Heimaufenthalt im Sinne von Art.
66bis Abs. 3 AHVV zu qualifizieren ist. Wie es sich damit verhält, wird die
Ausgleichskasse, an welche die Sache zurückzuweisen ist, näher abzuklären
haben. Gestützt auf die Ergebnisse der Abklärungen bei den zuständigen Stellen
des Kantons Zürich wird sie über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung neu
verfügen.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Ausgleichskasse aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 15. November 2011 und der Einspracheentscheid der
Ausgleichskasse des Kantons Zürich vom 19. April 2011 werden aufgehoben. Die
Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit sie,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangen
Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Juli 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer