Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 161/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_161/2012

Urteil vom 30. April 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Fürsprecher Max B. Berger,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern,
Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 17. Januar 2012.

Sachverhalt:
Mit Verfügung vom 18. Oktober 2011 hob die IV-Stelle Bern die K.________ seit
1. August 2001 gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 50 % ausgerichtete halbe
Invalidenrente wiedererwägungsweise auf, da anlässlich der ersten
Rentenzusprechung im Jahre 2005 kein Gesundheitsschaden mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit objektiv nachweisbar gewesen sei und auch heute keine
Einschränkung im Erwerbsbereich bestehe.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 17. Januar 2012 unter Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung und Verbeiständung ab.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm weiterhin
die mit Verfügung vom 26. Juli 2005 gewährte Invalidenrente auszurichten.
Ferner sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E.
1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S.
140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Rüge- und Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von
Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist
(BGE 134 IV 36 E. 1.4.1 S. 39). Die entsprechende Rüge prüft das Bundesgericht
nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert
begründet worden ist.

2.
Die Verwaltung ist befugt, unter dem Titel der Wiedererwägung jederzeit von
Amtes wegen auf eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand
materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, zurückzukommen, wenn sich
diese als zweifellos unrichtig erweist und ihre Berichtigung von erheblicher
Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Unter diesen Voraussetzungen kann die
Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern, wenn die
Revisionsvoraussetzungen des Art. 17 ATSG nicht erfüllt sind. Zweifellose
Unrichtigkeit liegt nicht nur vor, wenn die in Wiedererwägung zu ziehende
Verfügung aufgrund falscher oder unzutreffender Rechtsregeln erlassen wurde,
sondern auch, wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewendet
wurden (unter Einschluss unrichtiger Tatsachenfeststellung im Sinne der
Beweiswürdigung). Eine gesetzwidrige Leistungszusprechung gilt regelmässig als
zweifellos unrichtig (BGE 126 V 399 E. 2b/bb S. 401 mit Hinweisen).

3.
Das kantonale Gericht ging nach Würdigung der der ursprünglichen
Rentenverfügung zugrunde liegenden medizinischen Unterlagen davon aus, dass dem
Versicherten bereits während des Rehabilitationsaufenthaltes in der Rehaklinik
X.________ nach dem am 16. August 2000 erfolgten Auffahrunfall eine ganztägige
Arbeitsfähigkeit für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten attestiert worden
sei. Auch der Psychiater Dr. med. F.________ habe in seinem Gutachten vom 19.
Februar 2004 festgehalten, es lägen keine psychiatrischen Diagnosen mit
Krankheitswert vor, und er habe dem Versicherten dementsprechend
ausschliesslich für die derzeit ausgeübte, nicht angepasste Tätigkeit als
Taxichauffeur eine beschränkte Arbeitsfähigkeit von 80 % mit einer über 90%igen
Leistungsfähigkeit attestiert. Im Gutachten des Neurologen Prof. Dr. med.
M.________ vom 7. September 2003 sei dem Versicherten eine noch zumutbare
Arbeitsfähigkeit von 70 % attestiert worden, wobei der Gutachter festgehalten
habe, dass eine nähere Präzisierung mit dem genügenden Grad der Sicherheit wohl
kaum möglich sei und der Vorschlag der Annahme einer 30%igen Dauerbehinderung
infolge des Unfalls als pragmatisch erscheine. Die genannten Ärzte seien somit
von einer mindestens 70%igen Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers
ausgegangen. Eine bloss 50%ige Arbeitsfähigkeit - wie von der IV-Stelle in
ihrer ursprünglichen Rentenverfügung angenommen - hätten einzig der
SUVA-Kreisarzt Dr. med. G.________ und Dr. med. R.________ attestiert. Beide
Ärzte hätten sich indessen lediglich im Rahmen einer -
invalidenversicherungsrechtlich nicht relevanten - Angewöhnung resp. im
Hinblick auf den Erhalt des Arbeitsplatzes für eine zeitlich begrenzte
Arbeitsunfähigkeit ausgesprochen. Pathologische Befunde resp. eine
voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Arbeitsunfähigkeit hätten
sie indessen nicht attestiert, sondern Dr. med. G.________ habe vielmehr
ausdrücklich festgehalten, dass er den Versicherten nach der Einarbeitungszeit
wieder als voll arbeitsfähig erachte. Für die Beurteilung der
invalidenversicherungsrechtlich relevanten dauernden Arbeits- und
Leistungsfähigkeit könne auf diese Arztberichte demnach nicht abgestellt
werden. Weitere Arztberichte, welche die von der IV-Stelle getroffene Annahme
einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit schützen würden, lägen nicht vor. Es bestünden
insbesondere auch keine von der IV-Stelle in Auftrag gegebene Beurteilungen.
Die IV-Stelle sei vielmehr bereits im Schreiben vom 31. Januar 2002 davon
ausgegangen, der Versicherte sei in einer angepassten Tätigkeit ganztags
arbeitsfähig.
Gestützt auf die vorliegenden, voll beweiskräftigen Arztberichte und Gutachten
der behandelnden Ärzte der Rehaklinik X.________, des Prof. Dr. med. M.________
sowie des Dr. med. F.________ stehe folglich fest, dass eine 50%ige
Arbeitsunfähigkeit im Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverfügung vom 26. Juli
2005 nicht ausgewiesen gewesen sei. In Anbetracht der damals vorliegenden
medizinischen Aktenlage sei einzig die Annahme einer höchstens 30%igen
Arbeitsunfähigkeit vertretbar gewesen, sei doch auch der Unfallversicherer von
einer 30%igen Einschränkung in der Erwerbsfähigkeit ausgegangen (Hinweis auf
die SUVA-Rentenverfügung vom 13. Juni 2006, womit dem Versicherten eine
Invalidenrente von 30 % zugesprochen wurde). Ob tatsächlich auf die im
Gutachten von Prof. Dr. med. M.________ attestierte 30%ige Arbeitsunfähigkeit
abzustellen oder von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit des Versicherten
auszugehen gewesen wäre, könne derweil offenbleiben. Selbst bei Annahme einer
30%igen Arbeitsunfähigkeit ergäbe sich offenkundig kein Rentenanspruch. Die in
der ursprünglichen Rentenverfügung vom 26. Juli 2005 auf der Basis einer
50%igen Arbeitsfähigkeit vorgenommene Invaliditätsbemessung stütze sich auf
keine nachvollziehbare ärztliche Einschätzung ab. Die ursprüngliche
Rentenverfügung erweise sich folglich - wie von der IV-Stelle in der
angefochtenen Verfügung vom 18. Oktober 2011 zu Recht festgestellt - als
offensichtlich unrichtig und könne wiedererwägungsweise pro futuro korrigiert
werden. Da keine leistungsbegründende Invalidität ausgewiesen sei, habe die
IV-Stelle die Rente zu Recht auf Ende November 2011 eingestellt. Nichts am
Ergebnis ändere der Umstand, dass die ursprüngliche Rentenverfügung nicht
zeitnah bereits anlässlich der beiden Revisionen im Jahre 2006 und 2007 von der
IV-Stelle aufgehoben worden sei (Hinweis auf das Urteil I 859/05 vom 10. Mai
2006, E. 2.2 mit Hinweis). Damals sei keine umfassende materielle Überprüfung
des Leistungsanspruchs erfolgt, weshalb trotz der revisionsweisen Bestätigung
der ursprünglich fehlerhaften Verfügung keine erhöhten Anforderungen an den
Vertrauensschutz zu stellen waren.

4.
Die tatsächlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts sind nicht mangelhaft
im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG. Gestützt darauf hat das kantonale Gericht ohne
Verletzung von Bundesrecht zutreffend geschlossen, dass der Beschwerdeführer im
Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverfügung vom 26. Juli 2005 höchstens im
Umfang von 30 % in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war. Daraus resultiert
angesichts der bisherigen Erwerbstätigkeiten des Beschwerdeführers kein
rentenbegründender Invaliditätsgrad. So hat denn auch die SUVA lediglich eine
Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 30 % zugesprochen
(Verfügung vom 13. Juni 2006). Wenn das kantonale Gericht unter diesen
Umständen zum Schluss gekommen ist, die Voraussetzung der zweifellosen
Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung sei gegeben, hat es kein
Bundesrecht verletzt. Daran ändern die Einwendungen in der Beschwerde nichts.
Weder beschlägt die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit den Ermessensbereich der
Verwaltung, sondern es geht um die Feststellung des relevanten Sachverhaltes.
Der Beschwerdeführer übersieht, dass die zweifellose Unrichtigkeit auch in der
unrichtigen Tatsachenfeststellung im Sinne der Sachverhaltswürdigung bestehen
kann (Urteile U 445/00 vom 3. September 2001 E. 4 und I 88/04 vom 24. Mai 2005
E. 4.2). Ebenso wenig steht angesichts der gesetzlichen Regelung von Art. 53
Abs. 2 ATSG der Vertrauensschutz der Aufhebung einer unrechtmässig
ausgerichteten Dauerleistung entgegen.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie sind vorläufig auf die
Gerichtskasse zu nehmen, da die Voraussetzungen für die Gewährung der
beantragten unentgeltlichen Rechtspflege (fehlende Aussichtslosigkeit des
Rechtsmittels, Bedürftigkeit des Gesuchstellers, Notwendigkeit der anwaltlichen
Vertretung [Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371
E. 5b S. 372]) erfüllt sind. Ferner wird seinem Rechtsvertreter eine
Entschädigung aus der Gerichtskasse ausgerichtet (Art. 64 Abs. 2 BGG). Der
Beschwerdeführer wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht,
wonach er als Begünstigter der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn
er später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung
gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, zufolge
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung vorläufig auf die Gerichtskasse
genommen.

4.
Rechtsanwalt Max B. Berger wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.-
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. April 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer