Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 160/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_160/2012 {T 0/2}

Urteil vom 6. Juni 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen,
Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dominique Chopard,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 3. Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1963 geborene K.________ war seit 1. April 2001 als Betriebsmitarbeiter bei
der D.________ AG angestellt. Am 22. November 2002 zog er sich bei einem
Arbeitsunfall eine Malleolarfraktur Typ Weber B rechts sowie Verbrennungen Grad
I und II am Rücken zu. Nachdem der Kreisarzt der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt, bei welcher K.________ obligatorisch gegen Unfälle
versichert war, volle Arbeitsfähigkeit attestiert und die Anstalt ihre
Leistungen per 24. März 2005 eingestellt hatte, wurde der Versicherte von der
Arbeitgeberfirma auf Ende Juni 2005 entlassen. Am 3. Oktober 2005 meldete er
sich unter Hinweis auf Beschwerden in Bein, Hüfte und Rücken, Verbrennungen
sowie Depressionen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an.
Gestützt auf die getroffenen Abklärungen in erwerblicher und medizinischer
Hinsicht, insbesondere eine Expertise des Instituts X.________ vom 23. November
2006 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau das Leistungsgesuch mit Verfügung
vom 20. Juni 2007 ab. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 26. August 2008).
Mit Schreiben vom 6. Februar 2009 liess K.________ die Invalidenversicherung
unter Beilage verschiedener Arztberichte um eine neue Beurteilung seiner
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit ersuchen. Die IV-Stelle veranlasste eine
erneute Begutachtung des Versicherten im Institut X.________ (Expertise vom 23.
August 2010). Am 24. November 2010 lehnte sie das Invalidenrentengesuch
wiederum verfügungsweise ab, wobei sie den Invaliditätsgrad aufgrund der
fachärztlichen Angaben auf 20 % festsetzte.

B.
Die von K.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 3. Januar 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt der Versicherte
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm eine
Invalidenrente zuzusprechen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, so wird
eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn glaubhaft gemacht wird, dass sich der
Grad der Invalidität des Versicherten in einer für den Anspruch erheblichen
Weise geändert hat (Art. 87 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 IVV). Der
Beschwerdeführer hat mit seiner Neuanmeldung eine solche Änderung glaubhaft
gemacht, weshalb zu prüfen ist, ob im Zeitraum seit der ursprünglichen
Ablehnung des Rentengesuchs (Verfügung vom 20. Juni 2007) bis zur neuerlichen
Verneinung eines Invalidenrentenanspruchs (Verfügung vom 24. November 2010)
eine anspruchserhebliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen
eingetreten ist (zur massgebenden zeitlichen Vergleichsbasis siehe BGE 130 V
71; SVR 2010 IV Nr. 54 S. 67, 9C_899/2009). Dabei bildet die bloss andere
Beurteilung der Auswirkungen eines im Wesentlichen unverändert gebliebenen
Gesundheitszustandes auf die Arbeitsfähigkeit für sich allein betrachtet keinen
Revisionsgrund (BGE 115 V 308 E. 4a/bb S. 313; Urteil 9C_468/2009 vom 9.
September 2009).

3.
3.1 Die Vorinstanz stellte fest, laut Gutachten des Instituts X.________ vom
23. August 2010 bestehe für körperlich leichte, adaptierte Tätigkeiten eine
vollschichtig umsetzbare, 80 %ige Arbeitsfähigkeit. Zu dieser Einschätzung
seien die Ärzte bereits im ersten Gutachten (vom 23. November 2006) gelangt,
worin festgehalten wurde, für jegliche körperlich leichten bis mittelschweren
Tätigkeiten bestehe eine ganztägig zumutbare Arbeitsfähigkeit mit einer
Leistungseinschränkung der Arbeitsfähigkeit von 20 %. Dass verschiedene
Erfordernisse, wie regelmässiges Wechseln der Arbeitsplatzposition, nur
kurzzeitiges Sitzen oder Stehen an Ort (20 bis 30 Minuten) oder Vermeiden von
Rotationsbewegungen der Halswirbelsäule erfüllt sein müssten, ändere nichts
daran, dass der Versicherte im Rahmen der Gesamtbeurteilung nach wie vor als zu
80 % arbeitsfähig in einer angepassten Tätigkeit eingeschätzt wird.

3.2 Der Beschwerdeführer wendet ein, sein Gesundheitszustand habe sich im
massgeblichen Zeitraum verschlechtert, indem ihm gemäss Gutachten vom 23.
August 2010 nicht mehr leichte bis mittelschwere, sondern nur noch leichte
Arbeit im Umfang von 80 % zumutbar sei.

3.3 Dieser Auffassung ist beizupflichten. Die Vorinstanz hat den
rechtserheblichen Sachverhalt in Bezug auf die dem Beschwerdeführer noch
zumutbaren Arbeitsleistungen offensichtlich unrichtig festgestellt (E. 1
hievor), indem sie unterschiedliche Aussagen der Gutachter des Instituts
X.________ in den beiden Expertisen als gleichwertig bezeichnet hat, obwohl
gerade die Art der dem Versicherten mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand
noch zumutbaren Tätigkeiten (leicht oder leicht bis mittelschwer;
gesundheitlich bedingte Einschränkungen bei der Ausübung bestimmter Arbeiten)
für den Einkommensvergleich und demzufolge auch den Rentenanspruch entscheidend
sein kann. Die vorinstanzlichen Feststellungen sind daher hinsichtlich der
Arbeitsunfähigkeit und der zumutbaren Arbeitsleistung für das Bundesgericht
nicht verbindlich. Auszugehen ist mit dem Beschwerdeführer von der
Stellungnahme des Instituts X.________ zur Beeinträchtigung der
Arbeitsfähigkeit im zweiten Gutachten vom 23. August 2010. Danach besteht für
körperlich leichte adaptierte Tätigkeiten eine vollschichtig realisierbare, 80
%ige Arbeits- resp. Leistungsfähigkeit. Im Weiteren zählen die Ärzte
verschiedene Bedingungen auf, die der Arbeitsplatz erfüllen muss: So soll der
Versicherte seine Arbeitsplatzposition regelmässig nach eigenem Gutdünken
wechseln können, längeres Sitzen und Stehen an Ort ist auf 20 bis 30 Minuten zu
limitieren, stereotype Rotationsbewegungen der Lendenwirbelsäule sind zu
vermeiden und das berufsbedingte Zurücklegen von Gehstrecken, Treppensteigen
oder die Benützung von Leitern sind nach fachärztlichen Darlegungen ungünstig.
Zu guter Letzt soll auch das repetitive Heben und Tragen von Lasten über 10 kg
unterbleiben.

4.
Es stellt sich die Frage, wie sich die aus medizinischen Gründen reduzierte
Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers in erwerblicher Hinsicht auswirkt.

4.1 Für die Belange des Einkommensvergleichs stellte die Vorinstanz sowohl für
das hypothetische Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) als auch das
Invalideneinkommen auf die Tabellenlöhne gemäss Lohnstrukturerhebung (LSE) 2008
des Bundesamtes für Statistik ab.
4.1.1
4.1.1.1 Für die Ermittlung des Valideneinkommens ist entscheidend, was die
versicherte Person im Zeitpunkt des frühest möglichen Rentenbeginns nach dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ohne Gesundheitsschaden
tatsächlich verdienen würde (BGE 131 V 51 E. 5.1.2 S. 53). Im vorliegenden Fall
ist von der zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit als Betriebsarbeiter bei der
D.________ AG auszugehen. Dem kantonalen Gericht ist nicht entgangen, dass für
das Jahr 2002 ein Auszug aus dem individuellen Konto (IK) vorliegt. Aufgrund
der Differenz zwischen IK-Auszug und Lohnausweis der D.________ AG vertrat es
indessen die Auffassung, es sei auf den Tabellenlohn gemäss LSE 2008
abzustellen, womit sich ein Valideneinkommen von Fr. 65'054.- ergab.
4.1.1.2 Der Beschwerdeführer wendet ein, von erheblichen Differenzen bei den
Lohnangaben könne keine Rede sein. Das IK weise für 2002 einen Lohn von Fr.
71'394.- aus, der Lohnausweis für das nämliche Jahr einen solchen von Fr.
77'095.-. Die Differenz von Fr. 5'701.- sei damit zu erklären, dass die
Kinderzulagen von Fr. 5'700.- wohl im Lohnausweis, nicht aber im AHV-Lohn
gemäss IK erscheinen. Auch die Lohnangabe im Arbeitgeberfragebogen (Fr. 4'500.-
seit 1. Mai 2002) stehe in keinem Widerspruch zu den bereits genannten
Lohnzahlen. Aus den beigelegten Lohnblättern sei ersichtlich, dass der
Versicherte nebst dem Grundlohn regelmässig Überstundenzuschläge,
Sonntagszuschläge, Schichtzulagen, Erschwerniszulagen und einen 13. Monatslohn
erhalten habe.
4.1.1.3 Die Einwendungen des Beschwerdeführers sind auch in diesem Punkt
begründet. Der IK-Auszug für das Jahr 2002 weist ein AHV-beitragspflichtiges
Einkommen von Fr. 71'394.- aus, der Bruttolohn gemäss Lohnausweis für die
Steuererklärung betrug im Jahre 2002 Fr. 77'095.-, wovon Fr. 5'700.- auf
Kinderzulagen entfielen. Nach Abzug dieser Zulagen resultiert ein Bruttolohn
von Fr. 71'395.-. Eine Differenz zum Lohn gemäss IK-Auszug liegt nicht vor. Die
Vorinstanz hat den Sachverhalt damit auch hinsichtlich des Valideneinkommens
offensichtlich unrichtig festgestellt. Eine Bezugnahme auf Tabellenlöhne
erübrigt sich. Als massgebend zu erachten ist mit dem Beschwerdeführer vielmehr
ein Einkommen von Fr. 71'395.-. Angepasst an die Nominallohnentwicklung (gemäss
Tabelle des Bundesamtes für Statistik, Schweizerischer Lohnindex aufgrund der
Daten der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung) ergibt sich
ein Valideneinkommen von Fr. 79'719.- (Fr. 71'395.-: 111,5 x 124,5).
4.1.2 Das Invalideneinkommen hat die Vorinstanz aufgrund der LSE 2008, Tabelle
TA1, Anforderungsniveau 4, Männer, bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 41,6
Stunden und nach Anpassung an den Nominallohn 2010 unter Zugrundelegung eines
Arbeitspensums von 80 % auf zunächst Fr. 4'112.85 im Monat festgelegt; alsdann
nahm sie aufgrund der verschiedenen körperlichen Einschränkungen des
Versicherten einen leidensbedingten Abzug von 10 % vor, sodass ein
Invalideneinkommen von Fr. 3'701.55 im Monat (Fr. 44'419.- im Jahr)
resultierte. Diese Berechnung gibt zu keiner Kritik Anlass und wird vom
Beschwerdeführer denn auch nicht in Zweifel gezogen.
4.1.3 Aus dem Vergleich zwischen dem Invalideneinkommen von Fr. 44'419.- und
dem Valideneinkommen von Fr. 79'719.- im Jahr resultiert eine Erwerbseinbusse
von Fr. 35'300.-, entsprechend einem Invaliditätsgrad von (abgerundet) 44 %
(Fr. 79'719.- - Fr. 44'419.-x 100: Fr. 79'719.-). Der Beschwerdeführer hat
somit infolge Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere der
fachärztlich bescheinigten Verschlechterung des Gesundheitszustandes und der
damit verbundenen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit, nunmehr Anspruch auf
eine Viertelsrente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 2 IVG). In Anwendung
von Art. 29 Abs. 1 IVG ist der Rentenbeginn mit Blick auf die Neuanmeldung bei
der Invalidenversicherung vom 6. Februar 2009 auf den 1. August 2009, nach
Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs gemäss Art.
29 Abs. 1 ATSG, festzulegen.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem obsiegenden
Beschwerdeführer zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und
2 BGG). Demzufolge wird das Gesuch des Versicherten um unentgeltliche
Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 3. Januar 2012 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
Aargau vom 24. November 2010 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der
Beschwerdeführer ab 1. August 2009 Anspruch auf eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. Juni 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer