Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 159/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_159/2012

Urteil vom 28. Juni 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

R.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans Ulrich Ziswiler,
Beschwerdegegner,

AHV-Ausgleichskasse des Schreiner, Möbel- und Holzgewerbes, Gladbachstrasse 80,
8044 Zürich.

Gegenstand
Erwerbsersatz für Dienstleistende (Rückerstattung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 20. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
R.________ leistete im Jahr 2007 als Kaderangehöriger der
Zivilschutzorganisation 41 Schutzdiensttage, wovon 29 Tage auf Einsätze zu
Gunsten der Gemeinschaft entfielen, und bezog dafür von der Ausgleichskasse des
Schreiner-, Möbel- und Holzgewerbes (nachfolgend: Ausgleichskasse)
Erwerbsausfallentschädigung. Mit Verfügung vom 11. März 2010 forderte die
Ausgleichskasse von R.________ Fr. 5'205.60 zurück. Die dagegen erhobene
Einsprache wies sie mit Entscheid vom 8. August 2011 ab mit der Begründung, von
den Einsätzen zu Gunsten der Gemeinschaft könnten zwei Tage als
Wiederholungskurs anerkannt werden, während 27 Tage mangels Dienstbewilligung
nicht entschädigungsberechtigt gewesen seien.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die Beschwerde des R.________
mit Entscheid vom 20. Dezember 2011 gut und hob den Einspracheentscheid vom 8.
August 2011 auf.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt sinngemäss, der Entscheid
vom 20. Dezember 2011 sei aufzuheben.
R.________ liess eine Eingabe einreichen, ohne dazu aufgefordert worden zu
sein.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerdelegitimation des BSV ist gegeben (Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG
in Verbindung mit Art. 62 Abs. 1bis ATSG [SR 830.1], Art. 201 Abs. 1 AHVV [SR
831.101] und Art. 42 EOV [SR 834.11]).

1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente
noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus
einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer
von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134
V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen).

2.
2.1 Personen, die Schutzdienst leisten, haben für jeden ganzen Tag, für den sie
Sold im Sinne von Art. 22 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 2002 über
den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz (BZG; SR 520.1) beziehen, Anspruch
auf eine Entschädigung (Art. 1a Abs. 3 EOG [SR 834.1] in Verbindung mit Art. 23
BZG).
Gemäss Art. 27 Abs. 2 lit. c BZG (in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember
2011 geltenden Fassung; heute Art. 27a Abs. 1 lit. b BZG) können die Kantone
Schutzdienstpflichtige u.a. für Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft aufbieten.
Die Kantone regeln das Aufgebotsverfahren (aArt. 27 Abs. 3 BZG; heute Art. 27a
Abs. 4 BZG) sowie die Bewilligungserteilung für die Gemeinschaftseinsätze auf
kantonaler und kommunaler Ebene (Art. 7 der Verordnung vom 5. Dezember 2003
über Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft [aVEZG; AS 2003 5175] in der bis zum
30. Juni 2008 geltenden Fassung). Gemäss Art. 2 aVEZG können diese erbracht
werden, wenn die Gesuchsteller oder Gesuchstellerinnen ihre Aufgaben nicht mit
eigenen Mitteln bewältigen können (lit. a), der Gemeinschaftseinsatz mit dem
Zweck und den Aufgaben des Zivilschutzes übereinstimmt und der Anwendung des in
der Ausbildung erworbenen Wissens und Könnens dient (lit. b), der
Gemeinschaftseinsatz private Unternehmen nicht übermässig konkurrenziert (lit.
c) und das unterstützte Vorhaben nicht überwiegend dem Ziel der
Geldmittelbeschaffung dient (lit. d).

2.2 Im Kanton Aargau können Schutzdienstpflichtige u.a. für Einsätze zu Gunsten
der Gemeinschaft gemäss § 21 des Gesetzes vom 4. Juli 2006 über den
Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz im Kanton Aargau (BZG-AG; SAR 515.200)
entweder durch das regionale zuständige Organ des Zivilschutzes (Abs. 1) oder
in besonderen Fällen, namentlich wenn der Einsatz im Interesse des Kantons
liegt, durch den Regierungsrat (Abs. 2) aufgeboten werden. Soweit keine andere
Stelle bezeichnet wird, ist die Abteilung Militär und Bevölkerungsschutz (AMB)
die kantonal zuständige Stelle im Sinne des BZG-AG (§ 1 Abs. 1 der Verordnung
vom 22. November 2006 über den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz im Kanton
Aargau [BZV-AG; SAR 515.211]). Für Gemeinschaftseinsätze von kantonaler
Bedeutung ist der AMB mindestens ein Jahr im Voraus ein Gesuch einzureichen (§
20 Abs. 1 BZV-AG in der bis zum 31. Dezember 2008 gültig gewesenen Fassung).
Mit der Bewilligung legt die AMB die Rahmenbedingungen sowie Koordination und
Leitung des Gemeinschaftseinsatzes fest (§ 20 Abs. 2 BZV-AG). Eine
Bewilligungserteilung für Gemeinschaftseinsätze auf kommunaler Ebene war im
hier massgebenden Zeitpunkt nicht vorgesehen (vgl. demgegenüber § 20 Abs. 1
BZV-AG in der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung). Eine Beschränkung der
Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft bestand weder von Bundes- noch
Kantonsrecht wegen, weshalb die Schutzdienstpflichtigen zeitlich unbegrenzt
aufgeboten werden konnten (vgl. zur heutigen Rechtslage Art. 27a Abs. 2 BZG).

2.3 Das BSV hat die Wegleitung zur Erwerbsersatzordnung für Dienstleistende und
Mutterschaft erlassen (WEO; hier relevant ist die ab 1. Juli 2005 bis 31.
Dezember 2010 geltende Fassung), welche sich an die Verwaltung richtet und zwar
das Gericht nicht bindet, aber bei der Entscheidfindung zu berücksichtigen ist
(BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591, 257 E. 3.2 S. 258 f.; je mit Hinweisen). Danach
ist folgender Verfahrensablauf vorgesehen: Nach Absolvierung des Dienstes füllt
der Rechnungsführer oder die Rechnungsführerin des Zivilschutzes (vgl. Art. 62
Abs. 3 BZG) ein bestimmtes Anmeldeformular aus und trägt im Feld "Code der
Dienstleistung" für Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft und für
Wiederholungskurse die Codierung "20" ein (Rz. 1030 WEO). Nachdem die Dienst
leistende Person ihre persönlichen Daten und der Arbeitgeber die Lohnangaben
eingetragen haben, erhält die Ausgleichskasse das Anmeldeformular (Rz. 1033 f.,
1045 und 1049 WEO). Diese prüft das Anmeldeformular. Gegebenenfalls sendet sie
es zur Ergänzung zurück oder verlangt weitere Unterlagen. Die Entschädigung
darf nur ausgerichtet werden, wenn der Anspruch vorschriftsgemäss geltend
gemacht wurde, die Diensttage von der Rechnungsführung bzw. der Vollzugsstelle
bescheinigt worden sind und die Voraussetzungen für den Bezug der zutreffenden
Entschädigung erfüllt sind (Rz. 1050 und 6009-6012 WEO).

3.
3.1 Unrechtmässig ausgerichtete Erwerbsausfallentschädigungen können
zurückgefordert werden (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1
EOG), falls die Voraussetzungen für ein revisions- oder wiedererwägungsweises
Zurückkommmen auf die formlos erfolgte (vgl. Art. 18 Abs. 2 EOG)
Leistungszusprechung gegeben sind (vgl. Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG; BGE 122 V
367 E. 3 S. 368 f.; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 13 zu Art.
25 ATSG).

3.2 Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen gemäss
Art. 53 Abs. 1 ATSG in prozessuale Revision gezogen werden, wenn die
versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche
neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor
nicht möglich war. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der
Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsfeststellung dient. Es bedarf
dazu neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die Entscheidungsgrundlagen als
objektiv mangelhaft erscheinen lassen (BGE 127 V 353 E. 5b S. 358 und SVR 2010
UV Nr. 22 S. 90, 8C_720/2009 E. 5.2; je mit Hinweisen).

3.3 Gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn die
ursprüngliche Leistungszusprechung nach damaliger Sach- und Rechtslage
zweifellos unrichtig war (vgl. BGE 125 V 383 E. 3 S. 389; 119 V 475 E. 1c S.
480 mit Hinweisen; Urteil 8C_769/2010 vom 12. November 2010 E. 2.2) und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Vorausgesetzt ist, dass kein
vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also nur
dieser einzige Schluss denkbar ist (Urteile 9C_418/2010 vom 29. August 2011 E.
3.2; 9C_575/2007 vom 18. Oktober 2007 E. 2.2; je mit Hinweisen). Dieses
Erfordernis ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprache aufgrund
falscher Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht
oder unrichtig angewandt wurden.

4.
Die Vorinstanz ist der Auffassung, dass der Rückforderungsanspruch gegen den
verfassungsmässigen Grundsatz von Treu und Glauben verstosse.
Das BSV macht geltend, für die Einsätze zu Gunsten der Gemeinschaft liege keine
gültige Bewilligung vor. Einerseits, weil das kantonale Recht keine Delegation
der Bewilligungskompetenz für Gemeinschaftseinsätze an das Verbandsorgan der
Zivilschutzorganisation vorsehe und andererseits, weil die
Gemeinschaftseinsätze im Rahmen der Aktion "Crime Stop" eindeutig dem Zweck des
Zivilschutzes zuwiderliefen.

5.
5.1 Das Beschwerde führende BSV beruft sich nicht auf neue Tatsachen oder
Beweismittel im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG. Solche sind auch sonst nicht
ersichtlich. Deshalb fällt eine prozessuale Revision ausser Betracht.
Nachfolgend ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung
gegeben sind.

5.2 Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 9C_650/2011 vom 18. Juni 2012
entschied das Bundesgericht, dass der Anspruch auf eine Entschädigung des
Erwerbsausfalls nach dem klaren Wortlaut von Art. 1a Abs. 3 EOG ausschliesslich
an die Soldberechtigung anknüpft (a.a.O., E. 5.2). Diese kann in der Regel
nicht in Abrede gestellt werden mit der Begründung, die für den fraglichen
Dienst erforderliche Bewilligung sei ungenügend oder gar nicht vorhanden
(a.a.O., E. 5.3). Selbst wenn mit dem BSV anzunehmen wäre, dass keine gültige
Bewilligung im Sinn von Art. 2 und Art. 8 Abs. 1 VEZG vorlag, ist kein Grund
ersichtlich, bereits daraus auf eine fehlende Soldberechtigung zu schliessen
und folglich einen Anspruch auf Erwerbsersatz zu verneinen. So steht in
concreto nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, dass die geleisteten
Gemeinschaftseinsätze im Rahmen der Aktion "Crime Stop" die materiellen
Voraussetzungen von Art. 2 VEZG nicht erfüllen bzw. dem Zweck und den Aufgaben
des Zivilschutzes widersprechen sollten. Gemäss Art. 3 lit. e BZG beinhaltet
dieser den Schutz der Bevölkerung, die Betreuung von Schutz suchenden Personen,
den Schutz der Kulturgüter, die Unterstützung der Führungsorgane und der andern
Partnerorganisationen sowie Instandstellungsarbeiten und Einsätze zu Gunsten
der Gemeinschaft. Er arbeitet mit der Polizei, der Feuerwehr, dem
Gesundheitswesen und den technischen Betrieben (vgl. Art. 3 lit. a-d BZG) als
Partnerorganisation zusammen. Dabei mag der Zivilschutz schwergewichtig als
Einsatzmittel der zweiten Staffel im Verbundsystem des Bevölkerungsschutzes
positioniert sein, wie das BSV ausführt. Diese relative Koordination schliesst
jedoch nicht von vornherein aus, dass die umstrittenen Einsätze im Rahmen der
Aktion "Crime Stop" auch als Massnahme zum Schutz der Bevölkerung und damit als
Aufgabe des Zivilschutzes betrachtet werden können.

5.3 Im konkreten Fall wurde und wird die Soldberechtigung des R.________ für
die 2007 geleisteten Schutzdiensteinsätze nicht in Abrede gestellt;
insbesondere waren die umstrittenen Einsätze für die Gemeinschaft nicht
limitiert (E. 2.2). Weiter fehlen Anhaltspunkte dafür, dass die Ausgleichskasse
die formellen Vorgaben gemäss WEO (E. 2.3) nicht befolgt oder die
Erwerbsausfallentschädigung aus einem anderen Grund zu Unrecht ausgerichtet
haben soll. Nach dem Gesagten ist die Rückforderung der Entschädigung mangels
eines Rückkommenstitels (E. 3.1) ausgeschlossen. Die Beschwerde ist
unbegründet.

5.4 Dieses Ergebnis bedeutet indessen nicht, dass die Ausgleichskassen in jedem
Fall die finanziellen Folgen von unbewilligten und somit rechtswidrigen
Einsätzen zu Gunsten der Gemeinschaft zu tragen hätten. Ein entsprechender
Anspruch auf Schadenersatz lässt sich gegebenenfalls mit der Staatshaftung
begründen (vgl. das auf den 1. März 2010 in Kraft getretene Haftungsgesetz vom
24. März 2009 [SAR 150.200]).

6.
Vom BSV als unterliegender Partei sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV-Ausgleichskasse des Schreiner, Möbel-
und Holzgewerbes und dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 28. Juni 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann