Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 154/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_154/2012, 9C_170/2012

Urteil vom 8. Januar 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Scartazzini.

Verfahrensbeteiligte
9C_154/2012
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin 1,

gegen

U.________,
vertreten durch Advokat André M. Brunner,
Beschwerdegegnerin,

und

9C_170/2012
U.________,
vertreten durch Advokat André M. Brunner,
Beschwerdeführerin 2,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerden gegen den Entscheid des Sozial-versicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 9. Dezember 2011.

In Erwägung,
dass das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom
9. Dezember 2011 die Beschwerde von U.________ gegen eine Verfügung der
IV-Stelle Basel-Stadt vom 28. Februar 2011 nach bestätigter 65 %iger
Restarbeitsfähigkeit und ermitteltem Invaliditätsgrad von 41.49 % gutgeheissen
und die Sache zur Festsetzung einer Viertelsrente an die Verwaltung
zurückgewiesen hat,
dass die IV-Stelle dagegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
erhebt und die Anträge stellt, bei einem Invaliditätsgrad von 33 % sei in
Aufhebung des kantonalen Entscheides die Verfügung vom 28. Februar 2011 zu
bestätigen und es sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren,
dass U.________ dagegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
erheben lässt und die Anträge stellt, es sei ihr unter Kostenfolge für die Zeit
ab 1. Dezember 2007 mindestens eine halbe Invalidenrente auszurichten, wobei
ihr für das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren eine Parteientschädigung in der
Höhe von Fr. 6'843.95 zuzusprechen und für den Fall des Unterliegens die
unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen sei,
dass die Parteien je die Abweisung der Beschwerde der Gegenseite beantragen,
die Beschwerdeführerin 2 zusätzlich, dass wegen fehlender
Zeichnungsberechtigung des F.________ nicht einzutreten sei, welchem Antrag
indes nicht stattzugeben ist, liegen doch keine Anhaltspunkte vor, dass der
Rechtsdienst nicht zur Beschwerdeerhebung befugt wäre,
dass das Bundesamt für Sozialversicherungen die Gutheissung der Beschwerde der
IV-Stelle beantragt,
dass die Beschwerdeführerin 2 sich bezüglich beider Beschwerden ergänzend
replikweise äusserte,
dass die Beschwerden notwendig zu vereinigen und in einem Urteil zu beurteilen
sind, da sie den gleichen Streitgegenstand betreffen (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126
mit Hinweisen; Poudret, Commentaire de la loi fédérale d'organisation
judiciaire, Bd. I, S. 343 f.),
dass die Beschwerdeführerin 1 gestützt auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325 f. und BGE 135 V 58 E. 3.4.1-3.4.6
S. 60 ff.) geltend macht, die Vorinstanz habe bei der Ermittlung des
Invaliditätsgrades eine Parallelisierung der Vergleichseinkommen
fälschlicherweise in doppelter Hinsicht vorgenommen,
dass sie insbesondere ausführt, ein Vergleich des branchenüblichen Lohns mit
einem herabgesetzten Hilfsarbeiterinnenlohn gemäss LSE, wie ihn die Vorinstanz
vorgenommen hat, mache keinen Sinn, weil eine Herabsetzung des
Invalideneinkommens nur dann in Frage komme, wenn das eingesetzte
Valideneinkommen aus invaliditätsfremden Gründen unterdurchschnittlich tief
ist, sodass diese Gründe auch beim Invalideneinkommen zu berücksichtigen sind,
dass sie zudem vorbringt, in der angefochtenen Verfügung sei beim
Valideneinkommen auf das branchenübliche Einkommen gemäss LSE 2006 im Sinne
eines Durchschnittseinkommens abgestellt worden, indem vom tatsächlichen Lohn
abstrahiert wurde mit der Folge, dass die Beschwerdegegnerin ohne
Gesundheitsschaden ein branchenübliches Einkommen gemäss Tabellenlohn im
Gastgewerbe erzielen würde,
dass die Beschwerdeführerin 1 zu Recht geltend macht, auch für den
Invalidenlohn sei unter diesen Umständen auf den zumutbaren Tabellenlohn für
den privaten Sektor bei allen Wirtschaftszweigen, in welchem auch die Ansätze
für das Gastgewerbe mitberücksichtigt sind, abzustellen,
dass nur so gewährleistet ist, dass allein die gesundheitsbedingte
Einkommenseinbusse aufgrund der festgestellten 65 %igen Restarbeitsfähigkeit
entschädigt wird, während die von der Vorinstanz vorgenommene Parallelisierung
auf eine doppelte Berücksichtigung der invaliditätsfremden Gründe zu Gunsten
der Beschwerdegegnerin hinausliefe,
dass auch das Bundesamt für Sozialversicherungen in seiner Vernehmlassung vom
28. Juni 2012 zutreffend festhält, die IV-Stelle habe zu Gunsten der
Versicherten angenommen, sie würde im Gesundheitsfall vollerwerbstätig sein,
wobei sie aufgrund der unregelmässigen Erwerbstätigkeit der Beschwerdegegnerin
und des Fehlens verlässlicher Zahlen für die Festlegung des Valideneinkommens
auf Tabellenlöhne, korrekterweise auf die Kategorie 55, Gastgewerbe,
Anforderungsniveau 4, abgestellt habe,
dass die Aufsichtsbehörde zudem ausführt, die IV-Stelle habe mit ihrer
Vorgehensweise faktisch bereits eine Parallelisierung vorgenommen und den
branchenüblichen Durchschnitt zum Valideneinkommen erhoben, während die
Vorinstanz dann eine zusätzliche, auf der Seite des Invalideneinkommens
berücksichtigte Parallelisierung vorgenommen habe, wobei sie sich nicht auf die
massgebende Branche des Gastgewerbes gestützt und auch der
Erheblichkeitsschwelle von 5 % keine Beachtung geschenkt habe,
dass die Vorinstanz mit der vorgenommenen Parallelisierung der
Vergleichseinkommen das Vorliegen von invaliditätsfremden Faktoren daher zu
Unrecht in doppelter Hinsicht berücksichtigt und mithin Bundesrecht verletzt
hat (Art. 95 lit. a BGG),
dass die Beschwerdeführerin 2 in Wiederholung der vorinstanzlichen Rügen
geltend macht, die IV-Stelle habe auf ein veraltetes Gutachten der
Medizinischen Abklärungsstelle X.________ abgestellt und damit weder die
wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes berücksichtigt noch das
beantragte Obergutachten eingeholt,
dass sie des Weitern bemängelt, es sei für die Abklärung ihrer
Rückenbeschwerden kein Rheumatologe beigezogen worden, das Gutachten der
Medizinischen Abklärungsstelle X.________ vom 12. November 2009 weise
verschiedene Widersprüche auf, die Beanstandungen bezüglich des psychiatrischen
Gutachtens seien nicht geprüft und die beantragten Ergänzungsfragen den
Gutachtern der Medizinischen Abklärungsstelle X.________ nicht gestellt worden,
sodass die IV-Stelle ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe,
dass sie zudem beanstandet, eine Evaluation der funktionellen, arbeitsbezogenen
Leistungsfähigkeiten sei nicht durchgeführt worden, es bestehe eine
Arbeitsunfähigkeit von mehr als 35 %, bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades
sei der Leidensabzug vom Tabellenlohn auf 25 % festzulegen und die
Parallelisierung der Vergleichseinkommen führe zu einem Invaliditätsgrad von
51,2 %, sodass Anspruch auf eine halbe Rente bestehe,
dass sich der kantonale Entscheid auf die pflichtgemässe Würdigung der
Aktenlage und eine hinsichtlich der erhobenen Rügen zutreffende Begründung
stützt, sodass die Vorinstanz diesbezüglich weder Bundesrecht verletzt noch den
Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt hat,
dass die Ausführungen in der Beschwerde hieran nichts zu ändern vermögen,
soweit sie nicht ohnehin blosse Wiederholungen darstellen und sich in
unzulässiger appellatorischer Kritik am vorinstanzlichen Entscheid erschöpfen (
BGE 134 II 244 E. 2.1 und 2.3 S. 245 ff., 130 I 290 E. 4.10 S. 302),
dass im Übrigen das Bundesgericht die Frage, ob der angefochtene Entscheid den
verfassungsrechtlichen Minimalanspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2
BV) beachtet, nur auf ausdrücklich erhobene und qualifiziert substanziiert
begründete Rüge hin beurteilt, sodass mit den Vorbringen der Beschwerdeführerin
eine Verletzung des rechtlichen Gehörs offensichtlich nicht in einer den
Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG genügenden Weise gerügt wird (vgl. BGE
136 II 304 E. 2.5 S. 314; BGE 131 V 472 E. 5 S. 480),
dass folglich die Beschwerde der IV-Stelle begründet ist, währenddem die
Versicherte in beiden Verfahren unterliegt, sodass Antrag und Kritik der
Beschwerdeführerin 2 an der vorinstanzlichen Parteientschädigung hinfällig
werden,
dass bei diesem Verfahrensausgang die Gerichtskosten gesamthaft der
Beschwerdeführerin 2 aufzuerlegen wären (Art. 66 Abs. 1 erster Satz BGG), von
deren Erhebung aber zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 64
BGG) abzusehen ist, sodass Rechtsanwalt Brunner als Rechtsbeistand für seine
Bemühungen in beiden Verfahren aus der Gerichtskasse zu entschädigen ist,
erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 9C_154/2012 und 9C_170/2012 werden vereinigt.

2.
Die Beschwerde der IV-Stelle Basel-Stadt wird gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 9. Dezember 2011 wird
aufgehoben.

3.
Die Beschwerde der U.________ wird abgewiesen.

4.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

5.
Rechtsanwalt André M. Brunner wird als unentgeltlicher Anwalt der
Beschwerdeführerin U.________ bestellt und ihm aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 3'500.- für das vereinigte Verfahren vor Bundesgericht
ausgerichtet.

6.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Base-Stadt zurückgewiesen.

7.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Januar 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Scartazzini