Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 13/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_13/2012

Urteil vom 20. August 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
F.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente, vorinstanzliches Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 27.
Oktober 2011.

Sachverhalt:

A.
F.________, geboren 1960, meldete sich im Dezember 2005 wegen psychischen
Problemen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle
Zug veranlasste u.a. eine Abklärung am Institut X.________, Dr. med. Y.________
erstattete das Gutachten am 25. August 2008. Er stellte die Diagnose einer
rezidivierenden depressiven Störung, aktuell Residualsymptomatik (ICD-10 F
33.8), erachtete die bisherige Tätigkeit als Hausfrau sowie als Fachärztin
Psychiatrie weiterhin als zumutbar und setzte die Einschränkung in der
Arbeitsfähigkeit bei einer Präsenzzeit von 8,5 Stunden pro Tag, über die
Jahresarbeitszeit geschätzt, auf 30 % fest. In der Folge verneinte die
IV-Stelle Zug mit Verfügung vom 19. August 2009 einen Rentenanspruch.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die dagegen erhobene Beschwerde mit
Entscheid vom 27. Oktober 2011 ab. Im Prozessverlauf hatte F.________ ein
Privatgutachten des Dr. med. I.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 23. November 2009 aufgelegt. Darauf holte das
Verwaltungsgericht bei PD Dr. med. M.________ von den Universitären
Psychiatrischen Kliniken Z.________ das Obergutachten vom 15. August 2011 ein.
Die diesbezüglichen Kosten von Fr. 6'774.- verlegte es vollumfänglich zu Lasten
von F.________ (Dispositiv Ziff. 3).

C.
F.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, der Entscheid vom 27. Oktober 2011 sei aufzuheben und es sei ihr
eine angemessene Rente der Invalidenversicherung ab 1. Januar 2006
zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung an die
IV-Stelle Zug zurückzuweisen. Subeventualiter sei Ziff. 3 des Dispositivs
aufzuheben und die Kosten des Gerichtsgutachtens in der Höhe von Fr. 6'774.-
der IV-Stelle Zug aufzuerlegen.
Die IV-Stelle und das Verwaltungsgericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG), prüft indessen - unter Beachtung der Begründungspflicht in
Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) - grundsätzlich nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Wird eine Verletzung von Grundrechten
geltend gemacht, muss im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern der Entscheid an
einem qualifizierten Mangel leidet (Art. 106 Abs. 2 BGG).

2.
Die Beschwerdeführerin bemängelt vorab das Gerichtsgutachten des PD Dr. med.
M.________ vom 15. August 2011. Dieser diagnostizierte - mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit - eine Dysthymia (ICD-10 F34.1), einen Verdacht auf eine
rezidivierende depressive Störung, aktuell remittiert, sowie akzentuierte
Persönlichkeitszüge mit selbstunsicheren, depressiven, abhängigen, vermeidenden
und anderen psychoneurotischen Anteilen (ICD-10 Z73.1). In Bezug auf Letzteres
konnte die Differenzialdiagnose einer komplexen Persönlichkeitsstörung nicht
gestellt werden. Die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als frei
praktizierende Psychiaterin schätzte Dr. M.________ auf ca. 70-80 %. In einer
angepassten Tätigkeit in einem nicht konflikthaften Umfeld ohne erhebliche
Stressexposition bezeichnete er die Beschwerdeführerin als voll arbeitsfähig.
Die fachärztliche Begutachtung basiert u.a. auf einer umfangreichen Aktenlage
und der Experte setzte sich insbesondere mit dem Gutachten des Dr. med.
S.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 20. April 2006
samt Ergänzung vom 30. Oktober 2006, dem Gutachten des Instituts X.________ vom
25. August 2008 und dem Privatgutachten vom 23. November 2009 eingehend
auseinander.
Die Vorinstanz hat einlässlich begründet, weshalb das Obergutachten von PD Dr.
med. M.________ überzeugt. Insoweit die Beschwerdeführerin wiederholt geltend
macht, verschiedene, auf ihre Persönlichkeitsdefizite zurückzuführende Umstände
seien bei der Bestimmung der Arbeitsunfähigkeit unberücksichtigt geblieben,
lässt sie ausser Acht, dass die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung in
sogenannter Z-Kodierung rechtsprechungsgemäss keine invaliditätsrechtlich
erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung darstellt (vgl. Urteil 9C_537/2011 vom
28. Juni 2012 E. 3.1; SVR 2012 IV Nr. 22 S. 95, 8C_302/2011 E. 2.3; SVR 2008 IV
Nr. 15 S. 43, I 514/06 E. 2.2.2.2). Es erübrigt sich daher, darüber zu
diskutieren, welche damit zusammenhängenden Faktoren Eingang in die
gutachterliche Schätzung der Arbeitsfähigkeit fanden und welche nicht. Soweit
solche miteinbezogen wurden, erfolgte dies zu Gunsten der Beschwerdeführerin;
indes kann sie daraus kein Recht auf umfassende Beachtung ableiten. Somit steht
fest, dass die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang, soweit überhaupt
rechtsgenüglich dargelegt (vgl. E. 1.2), auch keine Verletzung von Art. 8 Abs.
1 und 3 sowie Art. 10 Abs. 2 BV bzw. Art. 8 EMRK zu begründen vermag.
Insofern PD Dr. med. M.________ festhielt, die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit
stelle sich schwierig dar, da faktisch aktuell bereits insgesamt unter
Einschluss der Haushaltsaufgaben ein Pensum von über 100 % absolviert werde, so
scheint ihm nicht präsent gewesen zu sein, dass der invalidenrechtlich
massgebende Status - d.h. ob ausschliesslich erwerbstätig oder ausschliesslich
im Haushalt tätig oder aber "gemischt" tätig - stets bei 100 % liegt. Seine
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit basierte jedoch klar mit Blick auf ein
Vollpensum im Erwerbsleben, was sich aus der - unmittelbar davorstehenden -
Feststellung erschliesst, dass die Beschwerdeführerin bei einer Reduktion des
psychosozialen Gesamtdruckes trotz persönlichkeitsbedingter Schwierigkeiten
wieder "in einem vollen Pensum schaffen könnte" resp. wieder ",normal
funktionieren' würde".
Indem sich die Vorinstanz auf das Obergutachten abgestützt und eine
Restarbeitsfähigkeit von mindestens 70 % angenommen hat, was unbestritten keine
rentenwirksame Einschränkung darstellt, kann ihre Beurteilung weder als
willkürlich noch sonstwie als bundesrechtswidrig bezeichnet werden. Die
Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen.

3.
Was die Verlegung der Kosten für das Obergutachten in der Höhe von Fr. 6'774.-
betrifft, so hat das Bundesgericht unlängst in einem Grundsatzurteil
entschieden, dass Art. 69 Abs. 1bis IVG, der bei Streitigkeiten um die
Bewilligung oder Verweigerung von IV-Leistungen vor dem kantonalen
Versicherungsgericht einen Kostenrahmen von Fr. 200.- bis Fr. 1000.- vorsieht,
abschliessenden Charakter aufweist, selbst wenn der Verfahrensaufwand nur
minimal gewesen ist (BGE 138 V 122 E. 1 S. 123 f.). Diese Verbindlichkeit gilt
grundsätzlich auch nach oben, wobei im vorliegenden Fall - wie im zitierten
Urteil - nicht zu prüfen ist, ob der Kostenrahmen bei mutwilliger oder
leichtsinniger Prozessführung überschritten werden darf. Im Übrigen ist der
Wortlaut dahin gehend klar, dass es sich um die "Kosten" und nicht einzig um
die Spruchgebühr handelt, wie die vorinstanzlichen Erwägungen implizieren. Dies
wird durch die Lehre bestätigt (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N.
35 zu Art. 61 ATSG; gl.M. wohl auch JEAN-LOUIS DUC, Procédure dans
l'assurance-invalidité, in: SZS 2005 S. 306 unten: "Limiter les frais de
justice, mais pas ceux qui sont occasionnés par une expertise, ne serait pas
logique.") und den Gesetzesmaterialien lassen sich keine Anhaltspunkte
entnehmen, die dem unmissverständlichen Wortlaut von Art. 69 Abs. 1bis Satz 2
IVG entgegen stehen (Botschaft vom 4. Mai 2005 betreffend die Änderung des
Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [Massnahmen zur
Verfahrensstraffung], BBl 2005 3079).

4.
Wenn auch mit dem Obergutachten von PD Dr. med. M.________ die Einschätzungen
der Experten des Instituts X.________ bestätigt werden konnten, kann es nicht
im nachhinein als überflüssig für die Beurteilung des Anspruchs der
Beschwerdeführerin abgetan werden. Das kantonale Versicherungsgericht ist in
der Beweiswürdigung frei (Art. 61 lit. c ATSG). Es hat das Obergutachten
angeordnet, weil mit dem Gutachten des Instituts X.________ und der von der
Beschwerdeführerin eingereichten Privatexpertise zwei bereits im Grundsatz
(Methodik) gegensätzliche psychiatrische Fachmeinungen vorlagen. Damit hat es,
obwohl grundsätzlich vom Gutachten des Instituts X.________ überzeugt, doch
letzte Zweifel ausräumen wollen. Mit anderen Worten hat die Vorinstanz die
Abklärungsergebnisse aus dem Verwaltungsverfahren offenbar als nicht
ausreichend beweiswertig erachtet. Auch die IV-Stelle hält fest, dass das
Einholen eines Obergutachtens deshalb notwendig geworden sei, weil die
Versicherte durch die Einreichung eines eigenen Gutachtens Zweifel am Gutachten
des Instituts X.________ gestreut habe. Bei dieser Sachlage (vgl. BGE 137 V 210
E. 4.4.1.5 in initio S. 265) besteht von vornherein keine Rechtfertigung, den
gesetzlich vorgegebenen Kostenrahmen zu überschreiten. Die Verlegung der Kosten
in der (ganzen) Höhe von Fr. 6'774.- zu Lasten der Versicherten stellt demnach
eine Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG) dar, was zur Aufhebung des
angefochtenen Entscheids im fraglichen Punkt führt. Nachdem die Vorinstanz den
Kostenrahmen von Art. 69 Abs. 1bis IVG nicht ausgeschöpft und die
Beschwerdeführerin den Rechtsstreit vor Verwaltungsgericht verloren hat,
erweist sich die Überbindung der gesamten Kosten der Gerichtsexpertise auf die
IV-Stelle (BGE 137 V 210 E. 4.4.2 S. 265 f.) hier nur als eine von möglichen
Varianten. Die Sache geht daher an die Vorinstanz zwecks Neuverlegung des
streitigen Gutachteraufwands zurück.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Entsprechend seinem Ausgang
werden die Gerichtskosten den Parteien je hälftig auferlegt (Art. 65 Abs. 4
lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Die IV-Stelle hat der
Versicherten für das bundesgerichtliche Verfahren eine reduzierte
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG); sie selber ist
gemäss Art. 68 Abs. 3 BGG nicht anspruchsberechtigt.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 3 des Entscheids
des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 27. Oktober 2011 wird aufgehoben.
Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie die Kosten des
Obergutachtens neu verlege. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit
darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Parteien je hälftig auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. August 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Dormann