Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 139/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_139/2012

Urteil vom 10. April 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
H._________,
Beschwerdeführerin,

gegen

Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich, Amtshaus Helvetiaplatz,
8004 Zürich,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 6. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
A.a Das Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich richtete der 1962
geborenen H._________ ab 1. Mai 2010 Ergänzungsleistungen (EL) aus (Verfügungen
vom 22. Oktober und 18. Dezember 2010). Diese ersuchte mit Schreiben vom 9. und
12. Februar 2011 um Vergütung von Krankheitskosten für die Monate Mai bis
Dezember 2010 und Anrechnung von Alimentenzahlungen für ihre beiden Kinder. Sie
wies zudem darauf hin, dass sie aus gesundheitlichen Gründen den Wohnsitz in
X.________ per 1. März 2011 aufgebe. Der neue Wohnsitz sei Y.________. Mit
Verfügung vom 16. Februar 2011 stellte das Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV
der Stadt Zürich ihre Leistungen per 28. Februar 2011 ein, da ab März der neue
Wohnsitzkanton Aargau zuständig sei. Am selben Tag erliess die Amtsstelle eine
zweite Verfügung, mit der sie für 2010 Krankheits- und Behinderungskosten in
der Höhe von Fr. 216.- vergütete.
A.b Am 14. März 2011 erhob H._________ Einsprache gegen die Verfügung
betreffend Einstellung der Zusatzleistungen zur AHV/IV. Mit Schreiben vom 17.
März 2011 nahm das Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich zu den
offenen Fragen Stellung. Es ersuchte H._________, noch stichhaltige
Begründungen nachzureichen, um die Eingabe vom 14. März als Einsprache
akzeptieren zu können. Diese antwortete mit Schreiben vom 1. April 2011. Mit
Entscheid vom 19. April 2011 wies die Amtsstelle die Einsprache ab.

B.
H._________ reichte beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Beschwerde ein, welches das Rechtsmittel zuständigkeitshalber dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau zur Behandlung überwies. Lite pendente
setzte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, Ausgleichskasse, mit
Verfügung vom 12. August 2011 die Ergänzungsleistung ab 1. März 2011 auf Fr.
2'289.- im Monat fest. Mit Entscheid vom 6. Dezember 2011 schrieb das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau das Beschwerdeverfahren, soweit
Ergänzungsleistungsansprüche für den Monat März 2011 geltend gemacht wurden,
als gegenstandslos geworden von der Kontrolle ab (Dispositiv-Ziffer 1.1); im
Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war
(Dispositiv-Ziffer 1.2).

C.
H._________ hat Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
eingereicht mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 6. Dezember 2012 sei
dahingehend abzuändern, dass alle in den Verfügungen vom 19. Februar 2011 und
im Einspracheentscheid vom 19. April 2011 behandelten Punkte als
Streitgegenstand geprüft werden.
Das Amt für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich beantragt die
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist. Das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat als Streitgegenstand die vom Beschwerdegegner am 15. Februar
2011 verfügte Einstellung der EL auf Ende Monat infolge Verlegung des
Wohnsitzes in einen anderen Kanton betrachtet (vgl. Art. 21 Abs. 1 ELG). Die
zuständige Stelle des neuen Wohnsitzkantons habe der Beschwerdeführerin lite
pendente mit Verfügung vom 12. August 2011 EL von monatlich Fr. 2'289.- ab 1.
März 2011 zugesprochen. Damit sei das nach Art. 59 ATSG erforderliche aktuelle
Rechtsschutzinteresse an der Beurteilung der Streitfrage weggefallen, zumal ihr
auch nach Abzug der neu angerechneten Unterhaltsbeiträge für die Kinder ein
höherer Betrag für den Monat März 2011 ausgerichtet worden sei.

2.
Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern die Verneinung des
Rechtsschutzinteresses in Bezug auf die Frage der Leistungseinstellung auf Ende
Februar 2011 durch den Beschwerdegegner Recht verletzt. Insbesondere macht sie
nicht geltend, sie habe die Verfügung vom 12. August 2011 angefochten. Insoweit
genügt die Beschwerde den Begründungsanforderungen nicht (Art. 41 Abs. 1 und 2
BGG), und es ist darauf nicht einzutreten.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe den Streitgegenstand zu eng
gefasst.

3.1 Die Rüge ist unbegründet, soweit sie bis Ende Februar 2011 nicht
angerechnete Kinderalimente betrifft. Die Verfügungen vom 22. Oktober und 18.
Dezember 2010, womit der EL-Anspruch für die Monate Mai bis Dezember 2010 sowie
ab 1. Januar 2011 festgesetzt wurde, sind unangefochten geblieben, wie auch die
Vorinstanz unter Hinweis auf den Einspracheentscheid vom 19. April 2011
festgestellt hat. Ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung
einer rechtskräftigen Verfügung besteht nicht (Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 133 V
50 E. 4.1 S. 52; Urteil 9C_908/2011 vom 2. März 2012 E. 2.1).

3.2 Anders verhält es sich in Bezug auf die Krankheits- und Behinderungskosten
für 2010 (Art. 3 Abs. 1 lit. b und Art. 14 ff. ELG). Darüber war entgegen der
Auffassung der Vorinstanz bei Einreichung der Beschwerde noch nicht
rechtskräftig entschieden worden.
3.2.1 Die Beschwerdeführerin ersuchte am 9. und 12. Februar 2011 um Erstattung
von Krankheitskosten in der Höhe von Fr. 607.55. Mit Verfügung vom 16. Februar
2011 - unter derselben Reg.-Nr. 856886 wie die Einstellungsverfügung vom selben
Tag - sprach der Beschwerdegegner eine Vergütung von Fr. 216.- zu.
3.2.2 Dagegen erhob die Beschwerdeführerin am 14. März 2011 Einsprache, wobei
sie geltend machte, sie verstehe nicht, "warum nicht alle Krankenkosten aus
Jahr 2010 erstattet worden sind. Es waren alles ärztliche Verordnungen". Diese
Begründung war genügend (Art. 10 Abs. 1 ATSV); andernfalls hätte der
Beschwerdegegner eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels ansetzen
müssen verbunden mit der Androhung, dass sonst auf die Einsprache nicht
eingetreten werde (Art. 10 Abs. 5 ATSV; SVR 2009 IV Nr. 19 S. 49, I 898/06).
Das hat er indessen nicht gemacht. Im Schreiben vom 17. März 2011 verlangte er
lediglich in Bezug auf die Einstellung der EL per Ende Februar 2011 "die
Nachreichung stichhaltiger Begründungen, um Ihren Brief vom 14. März 2011 als
Einsprache akzeptieren zu können".
3.2.3 Im Schreiben vom 17. März 2011 hatte der Beschwerdegegner zwar dargelegt,
weshalb unter dem Titel Krankheits- und Behinderungskosten nicht mehr als die
zugesprochenen Fr. 216.- vergütet werden könnten. Um jedoch den Anforderungen
gemäss Art. 10 Abs. 5 ATSV zu genügen, hätte er - nach Treu und Glauben - die
Beschwerdeführerin ausdrücklich anfragen müssen, ob sie die Einsprache insoweit
zurückziehe oder daran festhalte. Die Verfügung vom 16. Februar 2011 betreffend
Krankheits- und Behinderungskosten 2010 war somit entgegen den Feststellungen
im Einspracheentscheid vom 19. April 2011 nicht in Rechtskraft erwachsen. Die
Vorinstanz hätte daher auf das sinngemässe Begehren in der Beschwerde, darüber
sei noch zu entscheiden, eintreten und feststellen müssen, dass der
Beschwerdegegner darüber im Einspracheentscheid nicht befunden hatte. Insoweit
verletzt das angefochtene Erkenntnis Bundesrecht.

3.3 Die Sache geht daher zurück an den Beschwerdegegner zum Entscheid über die
Einsprache vom 14. März 2011, soweit sie die Vergütung von Krankheits- und
Behinderungskosten für 2010 betrifft.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten den Parteien nach
Massgabe ihres Unterliegens aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. Dezember 2011 und der
Einspracheentscheid des Amtes für Zusatzleistungen zur AHV/IV der Stadt Zürich
vom 19. April 2011 werden aufgehoben, soweit es um die Vergütung von
Krankheits- und Behinderungskosten für 2010 geht. Die Sache wird an den
Beschwerdegegner zurückgewiesen, damit er im Sinne von E. 3.3 verfahre. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin Fr. 300.-
und dem Beschwerdegegner Fr. 200.- auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. April 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler