Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 135/2012
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2012


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_135/2012

Urteil vom 4. April 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,

gegen

X.________ AG,
vertreten durch Rechtsanwalt Raetus Cattelan, Zinggentorstrasse 4, 6006 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 13. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
B.________ arbeitete seit 1959 bei der Firma W.________ AG (nunmehr X.________
AG). Auf den 1. Juli 2007 wurde er vorzeitig pensioniert. Die
BVG-Vorsorgestiftung der Y.________ AG richtete bis zum Zeitpunkt des
ordentlichen Altersrücktritts (30. Juni 2008) eine AHV-Überbrückungsrente aus
und übernahm Arbeitnehmer-Alterssparbeiträge. Ausserdem zahlte die
Fürsorgestiftung der Y.________ AG für den selben Zeitraum eine Zusatzrente
aus. Gestützt auf einen Bericht der Revisionsstelle der Ausgleichskassen vom
23. April 2009 erhob die Ausgleichskasse S._________ auf diesen Leistungen bei
der X.________ AG Sozialversicherungsbeiträge (AHV/IV/EO sowie ALV,
einschliesslich Verwaltungskosten und Zinsen) in Höhe von Fr. 7'243.55
(Verfügung vom 10. März 2010 und Einspracheentscheid vom 12. April 2010).

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die am 12. Mai 2010
eingereichte Beschwerde der X.________ AG gut und hob den Einspracheentscheid
auf (Entscheid vom 13. Dezember 2011).

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse zu
bestätigen.
Die X.________ AG (Beschwerdegegnerin) beantragt unter Hinweis auf das
zwischenzeitlich ergangene Urteil des Bundesgerichts 9C_12/2011 vom 8. August
2011 (BGE 137 V 321) Gutheissung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
1.1 Im vorinstanzlichen Verfahren, welches im Mai 2010 angehoben wurde, war
strittig, ob die anlässlich der vorzeitigen Pensionierung von B.________ an
diesen ausgerichteten Leistungen der BVG-Vorsorgestiftung sowie der
Personalfürsorgestiftung des vormaligen Arbeitgebers als massgebende
(beitragspflichtige) Einkommen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 AHVG gelten. Die
jetzige Beschwerdegegnerin berief sich auf den Entscheid 9C_435/2008 vom 21.
Oktober 2008, in welchem das Bundesgericht festgehalten hatte, es bestehe kein
Raum für die Annahme, beitragspflichtige Entgelte aus unselbständiger
Erwerbstätigkeit lägen auch dann vor, wenn sie nicht vom Arbeitgeber erbracht
wurden, sondern von einer Drittperson, namentlich einer vom Arbeitgeber zu
unterscheidenden Vorsorgeeinrichtung (E. 3.2). Mit BGE 137 V 321 E. 2 S. 325
stellte das Bundesgericht im August 2011 dagegen klar, es bleibe, der
langjährigen Rechtsprechung folgend, bei einer objektbezogenen
Betrachtungsweise. Danach gilt nicht nur unmittelbares Entgelt für geleistete
Arbeit als beitragspflichtiges Einkommen, sondern grundsätzlich jede
wirtschaftlich mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängende Entschädigung oder
Zuwendung, soweit sie nicht kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift davon
ausgenommen ist (BGE 133 V 556 S. 4 S. 558; vgl. Art. 5 Abs. 4 AHVG). Dabei
spielt grundsätzlich keine Rolle, ob die Zuwendung direkt vom Arbeitgeber oder
von einem Dritten, so einer patronalen Wohlfahrtsstiftung, ausgerichtet wird.

1.2 Im Hinblick auf die mit BGE 137 V 321 inzwischen geklärte Rechtslage lauten
die Anträge der Parteien übereinstimmend auf Gutheissung der Beschwerde. Die
Bindung des Bundesgerichts an die Parteianträge (Art. 107 Abs. 1 BGG) bestimmt
sich indes nach den Rechtsbegehren der beschwerdeführenden Partei; der Antrag
der Beschwerdegegnerin hat bei streithängigen Rechtsansprüchen, die nicht in
der Verfügungsmacht der Parteien stehen, keine selbständige Bedeutung für die
Festlegung der Spruchzuständigkeit (Meyer/Dormann, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 2 zu Art. 107 BGG). Dementsprechend
beseitigt die beschwerdegegnerische Anerkennung des Beschwerdebegehrens die
gerichtliche Entscheidungspflicht nicht, ist aber bei den Kostenfolgen zu
berücksichtigen (E. 2).

1.3 Die Ausgleichskasse ist im letztinstanzlichen Verfahren nicht als
Mitbeteiligte in den Schriftenwechsel einbezogen worden (vgl. Art. 102 Abs. 1
BGG). Darauf kann verzichtet werden in Anbetracht dessen, dass mit der vom BSV
erhobenen Beschwerde die Rechtsposition der Durchführungsstelle genügend
gewahrt worden ist.

1.4
1.4.1 Die fraglichen Leistungen der Personalvorsorgestiftung und der
Personalfürsorgestiftung wurden anlässlich der vorzeitigen Pensionierung des
Destinatärs zugesprochen; damit stehen sie in einem unmittelbaren
wirtschaftlichen Zusammenhang zu dessen früherem Arbeitsverhältnis. Die dadurch
im Grundsatz gegebene Beitragspflicht wird durchbrochen, soweit der
Verordnungsgeber gestützt auf Art. 5 Abs. 4 AHVG Sozialleistungen sowie
anlässlich besonderer Ereignisse erfolgende Zuwendungen eines Arbeitgebers an
seine Arbeitnehmer durch Verordnung vom Einbezug in den massgebenden Lohn
ausgenommen hat. Vorliegend interessiert einzig Art. 6 Abs. 2 lit. h AHVV,
wonach auf reglementarischen Leistungen von Einrichtungen der beruflichen
Vorsorge keine Beiträge erhoben werden, wenn der Begünstigte bei Eintritt des
Vorsorgefalls oder bei Auflösung der Vorsorgeeinrichtung die Leistungen
persönlich beanspruchen kann. Setzt diese Bestimmung reglementarische
Leistungen voraus, so sind nur (gestützt auf Stiftungsreglement oder
vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer) einklagbare
(versicherungsmässige) Ansprüche der Beitragspflicht entzogen (BGE 137 V 321 E.
1.2.2 S. 323 und E. 3.1 S. 328).
1.4.2 Bei der befristeten Zusatzrente der Personalfürsorgestiftung handelt es
sich - wie bei den meisten Leistungen von Wohlfahrtsfonds - um eine freiwillige
(Ermessens-)Leistung, so dass Art. 6 Abs. 2 lit. h AHVV nicht zum Tragen kommt.
Ferner gehören nach dem (bis Ende 2007 in Kraft stehenden, hier intertemporal
anwendbaren; BGE 130 V 329 und 445) aArt. 8ter Abs. 1 lit. c AHVV Leistungen im
Rahmen einer Vorruhestandsregelung des Arbeitgebers nicht zum massgebenden
Lohn, soweit sie acht Monatslöhne nicht übersteigen. Als solche Zuwendungen
müssten zwar ohne Weiteres auch entsprechend motivierte Sozialleistungen von
Personalfürsorgestiftungen (Wohlfahrtsfonds) gelten (vgl. BGE 137 V 321 E.
1.2.3 in fine S. 324 und Art. 339d OR). Erfasst werden indes nur Leistungen,
die auf einer (generellen) Regelung des Arbeitgebers beruhen, welche den
freiwilligen Abgang der Arbeitnehmer vor dem ordentlichen Rentenalter fördert
(Erläuterungen des BSV zu den Änderungen der AHVV auf den 1. Januar 2001, in:
AHI 2000 S. 254 f.; zur beschränkten Bedeutung der Erläuterungen als
Auslegungshilfe: BGE 133 V 153 E. 8.2 S. 158). Aus den Akten ist ersichtlich,
dass der vorzeitige Übertritt in den Ruhestand auf Wunsch des Mitarbeiters
erfolgte und somit individueller Natur war. Die zitierte altrechtliche
Bestimmung ist mithin ebenfalls nicht einschlägig.
1.4.3 Auch die Vorruhestandsrente (einschliesslich Übernahme der
Altersrenten-Sparbeiträge) der BVG-Vorsorgestiftung beruht nicht auf einem
Rechtsanspruch, sondern auf im Einzelfall ausgeübtem Ermessen: Gemäss dem
"Reglement für vorzeitige Pensionierung" vom 30. April 1994 kann die
Vorsorgestiftung im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten und aufgrund eines
Antrages einer der angeschlossenen Gesellschaften infolge wirtschaftlicher
Massnahmen Renten an vorzeitig Pensionierte ausrichten (Ziff. 1); darunter
fallen unter anderem auch Sparbeiträge für Alterskapital (Ziff. 2). Bei der
Festlegung der Rente können die persönlichen finanziellen Verhältnisse und
allfälligen weiteren Einkommen des Berechtigten mitberücksichtigt werden (Ziff.
3).
1.4.4 Die Erhebung von Beiträgen auf den fraglichen Zuwendungen ist nach dem
Gesagten rechtmässig, die Beschwerde begründet.

2.
In Anwendung von Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG wird aufgrund des in E. 1
Gesagten auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet. Ebenso rechtfertigt
sich, die vorinstanzliche Parteikostenzusprechung zu belassen, da die
Beschwerdegegnerin sich aufgrund der im Frühjahr 2010 herrschenden Rechtslage
zur Rechtsmittelergreifung veranlasst sehen durfte (vgl. ZAK 1986 S. 48, H 80/
85).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. Dezember 2011 aufgehoben und
der Einspracheentscheid vom 12. April 2010 bestätigt.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse S._________ und B.________ schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. April 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub