Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 113/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_113/2012

Urteil vom 14. März 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Györffy,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
1. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
Die 1963 geborene K.________ bezog wegen eines Rückenleidens seit August 2000
eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Gegen eine Verfügung der IV-Stelle
des Kantons Aargau vom 3. Oktober 2008, wonach zufolge einer Besserung des
Gesundheitszustands die Invalidenrente mit Wirkung ab Dezember 2008 auf eine
Dreiviertelsrente herabzusetzen sei, führte K.________ Beschwerde beim
Versicherungsgericht des Kantons Aargau. Der Prozess wurde gegenstandslos, als
die Verwaltung am 9. Januar 2009 auf diese Entscheidung zurückkam und weitere
medizinische Abklärungen bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS)
anordnete. Nachdem die Versicherte zum vorgesehenen Termin nicht zur
Untersuchung erschienen war, weil sie die betreffende Institution als
Begutachtungsstelle ablehnte, sistierte die IV-Stelle wie zuvor angedroht die
Invalidenrente (Verfügung vom 27. März 2009). Das kantonale Gericht hob diese
Verfügung am 24. Juni 2010 auf.

Mit Schreiben vom 17. November 2010 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit,
die medizinische Abklärung sei dem Institut X.________ übertragen worden. Das
gegen drei Ärzte dieser MEDAS eingereichte Ausstandsbegehren lehnte die
Verwaltung ab (Verfügung vom 24. Februar 2011).

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde ab (Entscheid vom 1. Dezember 2011).

C.
K.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, die IV-Stelle sei zu verpflichten, von der Begutachtung im
Institut X.________ bzw. durch die - in den Ausstand zu versetzenden - Dres.
L.________, G.________ und H.________ abzusehen; allenfalls seien ihr andere
Gutachter vorzuschlagen. Eventuell sei die Sache zu neuem Entscheid an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hielt unter anderem fest, nach BGE 137 V 210 lasse
sich die Argumentation der Versicherten nicht mehr halten, die in Aussicht
genommene Gutachterstelle sei von der Invalidenversicherung als Auftraggeberin
wirtschaftlich abhängig. Der Vorwurf, ein leitender Arzt des Instituts
X.________ (Dr. L.________) habe in zwei Fällen eigenmächtig die Einschätzungen
von Teilgutachtern abgeändert, bewirke von vornherein nicht, dass dieser nun in
allen weiteren Fällen als Gutachter abgelehnt werden könne. Umso weniger
bestehe bei den Sachverständigen Dres. G.________ und H.________ ein Anschein
der Befangenheit. Zur Rüge der Versicherten, ein von ihr eingeholtes Gutachten
(des Prof. S.________, Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH) mache eine
weitere Begutachtung unnötig, verwies das kantonale Gericht auf das Ermessen
der verfahrensleitenden Verwaltung bei der Bezeichnung der Abklärungsmassnahmen
(vgl. Urteil 9C_28/2010 vom 12. März 2010 E. 4.1). Es bestünden keine triftigen
Gründe, in den Ermessensentscheid der IV-Stelle einzugreifen, ein
polydisziplinäres Gutachten einzuholen, zumal das Gutachten des Prof.
S.________ nur eine einzige Disziplin abdecke.

1.2 Die Beschwerdeführerin erneuert im Wesentlichen die bereits in der
kantonalen Beschwerde erhobenen Rügen und nimmt auf die vorinstanzlichen
Erwägungen kaum Bezug. Es ist daher fraglich, ob die Beschwerdeschrift den
Begründungsanforderungen gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG genügt und darauf überhaupt
eingetreten werden kann (vgl. BGE 134 II 244 E. 2 S. 245). Mit Blick auf die
offensichtliche Unbegründetheit der materiellen Einlassungen kann diese Frage
indes offenbleiben.

2.
Soweit der angefochtene Entscheid die Ausstandspflicht eines Sachverständigen
(dazu BGE 137 V 210 E. 2.1.3 S. 231 mit Hinweisen) betrifft, ist er selbständig
anfechtbar (Art. 92 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 93 E. 6 S. 106; 137 V 210 E. 3.4.2.7
S. 257).

2.1 Dem Wortlaut des Rechtsbegehrens wie auch der dazugehörigen Begründung nach
verlangt die Beschwerdeführerin auch den Ausstand der MEDAS als solcher; diese
Institutionen seien nach wie vor wirtschaftlich abhängig von der
Invalidenversicherung. Diesbezüglich ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass
der regelmässige Beizug eines Gutachters oder einer Begutachtungsinstitution
durch den Versicherungsträger, die Anzahl der beim selben Arzt in Auftrag
gegebenen Gutachten und Berichte sowie das daraus resultierende Honorarvolumen
für sich allein genommen nicht zum Ausstand führen. Ohnehin ist auf die MEDAS -
als Institution - die Rechtsprechung sinngemäss anwendbar, wonach nur die für
eine Behörde tätigen Personen, nicht die Behörde als solche, befangen sein
können (BGE 137 V 210 E. 1.3.3 S. 226 mit Hinweisen).

2.2 Soweit die Beschwerdeführerin das Ausstandsbegehren gegenüber drei
namentlich bezeichneten Sachverständigen des Instituts X.________ mit
persönlichen Verhaltensweisen eines leitenden Gutachters in früheren Fällen
begründet (vgl. oben E. 1.1), ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass die
betreffenden Umstände im Einzelfall nicht den generellen Ausstand des
Gutachters bewirken können (vgl. Urteil 8C_957/2010 vom 1. April 2011 E. 4.8,
9C_990/2009 vom 4. Juni 2010 E. 3.1).

Unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Abhängigkeit ist festzuhalten, dass
aufgrund der Neuerungen gemäss BGE 137 V 210 kein Exponent einer
Gutachtenstelle mehr hoffen könnte, ein grösseres Auftragsvolumen zu
generieren, indem er entgegen den Anforderungen der Objektivität und der Fach-
und Sachgerechtigkeit auf tatsächliche oder vermeintliche Erwartungen der
Auftraggeberschaft Rücksicht nimmt (vgl. BGE 137 V 210 E. 2.4.4 S. 239). Auch
wenn hier die Wahl der MEDAS noch nicht gemäss dem Verfahrensstandard von BGE
137 V 210 erfolgt ist (dazu unten E. 4), werden die neuen Rahmenbedingungen mit
Blick auf das erst noch zu erstellende interdisziplinäre Gutachten doch bereits
wirksam.

3.
3.1 Bei der Rüge, die Einholung eines MEDAS-Gutachtens sei unnötig, handelt es
sich um eine materielle Einwendung, wie sie den kantonalen Gerichten bzw. dem
Bundesverwaltungsgericht nunmehr beschwerdeweise unterbreitet werden kann (BGE
137 V 210 E. 3.4.2.7 S. 257). Ob deren Beschwerdeentscheid seinerseits mit
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht
weiterziehbar ist (Art. 82 und 93 Abs. 1 lit. a BGG), hat das Bundesgericht
offengelassen (BGE a.a.O.). Die Frage muss auch an dieser Stelle nicht
entschieden werden, da die Vorbringen der Beschwerdefü?rerin zu verwerfen
wären, wenn auf die Beschwerde auch unter diesem Aspekt eingetreten werden
könnte.

3.2 Es gibt keinen Anspruch der versicherten Person, abschliessend nach einem
Parteigutachten beurteilt zu werden (vgl. Kaspar Gerber, Das medizinische
Privatgutachten in der Invalidenversicherung, in: Jusletter vom 10. August
2009, Rz. 3), genausowenig wie die rechtsanwendenden Behörden ein solches
allein mit Blick auf diese Eigenschaft unbeachtet lassen dürfen (vgl. BGE 125 V
351 E. 3b/dd S. 353; Urteil 8C_439/2009 vom 25. November 2009 E. 4.4).

Die Bereitstellung der medizinischen Entscheidungsgrundlage ist nach Art. 43
Abs. 1 ATSG in erster Linie Sache des Sozialversicherungsträgers. Jedenfalls
geht es hier nicht darum, dass die Verwaltung trotz eines bereits umfassend
abgeklärten Sachverhalts eine Expertise im Sinne einer "second opinion"
einzuholen gedenkt (dazu SVR 2007 UV Nr. 33 S. 111 E. 4.2, U 571/06; BGE 137 V
210 E. 2.4.4 S. 240 und E. 3.3.1 S. 245). Auch sonst besteht kein Grund zur
Annahme, die Einholung eines interdisziplinären Administrativgutachtens sei
unnötig, zumal das Gutachten des Prof. S.________ nicht alle Aspekte des
gesundheitlichen Geschehens abdeckt; nach Auffassung des Regionalen Ärztlichen
Dienstes der Invalidenversicherung (RAD) bedarf es einer interdisziplinären
(rheumatologischen, neurologischen und psychiatrischen) Beurteilung
(Stellungnahmen vom 16. Dezember 2008 und vom 15. September 2010). Der Umstand,
dass das Untersuchungsprogramm des Instituts X.________ nur eine psychiatrische
und orthopädische, aber keine neurologische Untersuchung vorsieht (Schreiben an
die Versicherte vom 17. Januar 2011), bedeutet nicht, dass die Begutachtung von
vornherein untauglich angelegt wäre.

Wie schon die Vorinstanz festgehalten hat, wird sich die MEDAS aus
medizinischer Sicht mit dem Gutachten des Prof. S.________ auseinanderzusetzen
haben. Anschliessend wird die Verwaltung die medizinische Aktenlage in ihrer
Gesamtheit würdigen. Aus diesem Grund ist im jetzigen Stadium des Verfahrens
offenzulassen, wie es sich mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin verhält,
die Kritik des RAD am Gutachten des Prof. S.________ sei nicht haltbar.

4.
Schliesslich stellt sich die Frage, ob der mit BGE 137 V 210 geänderte
Verfahrensstandard zu einer Rücknahme des erteilten Begutachtungsauftrags
führen muss. Bei Ausfällung des Grundsatzurteils am 28. Juni 2011 war dieser
Rechtsstreit bereits anhängig. Als mit strittiger Verfügung vom 24. Februar
2011 am Institut X.________ als Abklärungsstelle festgehalten wurde, konnten
die zusätzlichen Mitwirkungsrechte der versicherten Person (vgl. im Einzelnen
BGE 137 V 210 E. 3.4.2.6 S. 256 und E. 3.4.2.9 S. 258) noch nicht zum Tragen
kommen. Dennoch ist die vorinstanzliche Bestätigung der Auftragsvergabe an das
Institut X.________ auch unter diesem Aspekt rechtmässig. Die in BGE 137 V 210
definierten Anforderungen gelten zwar an sich auch in laufenden Verfahren (vgl.
BGE 132 V 368 E. 2.1 S. 369). Es wäre jedoch nicht gerechtfertigt, alle
erteilten Aufträge zu (noch nicht durchgeführten) Begutachtungen zu stornieren,
genausowenig wie es verhältnismässig wäre, wenn nach den alten Regeln bereits
eingeholte Gutachten ungeachtet ihrer jeweiligen Überzeugungskraft den
Beweiswert einbüssten (BGE 137 V 210 E. 6 Ingress S. 266). Bildet ein nach
altem Standard in Auftrag gegebenes Gutachten die massgebende
Entscheidungsgrundlage, so ist diesem Umstand allenfalls bei der
Beweiswürdigung Rechnung zu tragen (Urteil 9C_776/2010 vom 20. Dezember 2011 E.
3.3).

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. März 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Traub