Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 110/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_110/2012

Urteil vom 5. Juli 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
1. CSS Kranken-Versicherung AG, Recht & Compliance, Tribschenstrasse 21, 6005
Luzern,
2. Vivao Sympany AG, Peter Merian-Weg 4, 4002 Basel,
3. Groupe Mutuel, CM Fonction Publique, Administration, Rue du Nord 5, 1920
Martigny,
4. Sumiswalder Krankenkasse, Spitalstrasse 47, 3454 Sumiswald,
5. Krankenkasse Steffisburg, Unterdorfstrasse 37, Postfach 138, 3612
Steffisburg,
6. CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG, Bundesplatz 15,
6003 Luzern,
7. Atupri Krankenkasse, Zieglerstrasse 29, 3000 Bern 65,
8. Avenir assurances, Administration, Rue du Nord 5, 1920 Martigny,
9. KPT/CPT Krankenkasse AG, Tellstrasse 18, 3014 Bern,
10. Xundheit, Öffentliche Gesundheitskasse Schweiz, Pilatusstrasse 26, 6002
Luzern,
11. Caisse-maladie Hermes, Rue du Nord 5, 1920 Martigny,
12. Kolping Krankenkasse, Ringstrasse 16, 8600 Dübendorf,
13. sodalis gesundheitsgruppe, Balfrinstrasse 15, 3930 Visp,
14. Progrès Versicherungen AG, Versicherungsrecht, Postfach, 8081 Zürich,
15. Wincare Versicherungen, Konradstrasse 14, 8400 Winterthur,
16. SWICA Krankenversicherung AG, Römer-strasse 38, 8401 Winterthur,
17. Galenos Kranken- und Unfallversicherung, Militär-strasse 36, 8004 Zürich,
18. Vivao Sympany Schweiz AG, Boulevard de Pérolles 18a, 1700 Freiburg,
19. Sanitas Krankenversicherung, Jägergasse 3, Postfach 2010, 8021 Zürich,
20. INTRAS, Rue Blavignac 10, 1227 Carouge GE,
21. UNIVERSA Caisse-maladie, Administration, Rue du Nord 5, 1920 Martigny,
22. aerosana Versicherungen AG, Postfach, 8081 Zürich,
23. Visana Versicherungen AG, Weltpoststrasse 19, 3015 Bern,
24. Krankenkasse Agrisano, Laurstrasse 10, 5201 Brugg AG,
25. Helsana Versicherungen AG, Versicherungsrecht, Zürichstrasse 130, 8600
Dübendorf,
26. Innova Krankenversicherung AG, Direktion, Bahnhofstrasse 4, 3073 Gümligen,
27. avanex Versicherungen AG, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
28. sansan Versicherungen AG, Postfach, 8081 Zürich,
29. Arcosana AG, Tribschenstrasse 21, 6002 Luzern,

alle vertreten durch santésuisse, Lagerstrasse 107, 8004 Zürich, und dieser
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Räber,
Beschwerdeführer,

gegen

Dr. med. X.________,
vertreten durch Fürsprecher Dr. Fridolin Walther,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Schiedsgerichts in
Sozialversicherungsstreitigkeiten vom 9. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
Am 12. Januar 2010 reichten verschiedene Krankenversicherer, u.a. die CSS
Kranken-Versicherung AG, beim Schiedsgericht in
Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Bern Klage gegen Dr. med.
X.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, ein mit dem
Rechtsbegehren, der Beklagte sei zu verurteilen, den Klägern vom Jahresumsatz
2007 einen gerichtlich zu bestimmenden Betrag zurückzuerstatten.

Mit Entscheid vom 9. Dezember 2011 wies das kantonale Schiedsgericht die Klage
ab.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erneuern die
Krankenversicherer das im vorangegangenen Verfahren gestellte Rechtsbegehren;
eventualiter sei der Entscheid vom 9. Dezember 2011 aufzuheben und die Sache
zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Dr. med. X.________ beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten,
eventualiter sei sie abzuweisen. Das kantonale Schiedsgericht verzichtet auf
eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Gesundheit hat sich nicht vernehmen
lassen.

C.
Die Parteien haben sich in weiteren Eingaben zur Sache geäussert.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdegegner beantragt, auf die Beschwerde sei mangels Bezifferung
des Rückforderungsbetrages nicht einzutreten bzw. er rügt sinngemäss, die
Vorinstanz hätte aus diesem Grund nicht auf die Klage eintreten dürfen. Dieses
Vorbringen ist nicht stichhaltig (RKUV 2003 Nr. KV 250 S. 216, K 9/00 E. 2.2.2;
Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts K 83/05 vom 4. Dezember 2006 E. 3.3 und
K 116/ 03 vom 23. November 2004 E. 2.5).

1.2 Weiter kann offenbleiben, ob die - im angefochtenen Entscheid nicht
erwähnte - vorinstanzliche Eingabe vom 19. August 2011 vom kantonalen
Schiedsgericht zu Unrecht unberücksichtigt gelassen worden ist, wie die
Beschwerdeführer rügen, oder ob sie aus formellen Gründen aus dem Recht hätte
gewiesen werden müssen, wie der Beschwerdegegner dagegenhält. Die darin
thematisierte Frage - Grundlage der Wirtschaftlichkeitsprüfung - ist eine im
Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG) frei
überprüfbare Rechtsfrage.

1.3 Schliesslich braucht mit Blick auf das Ergebnis des vorliegenden Verfahrens
die vom Beschwerdegegner erhobene Rüge der Gehörsverletzung durch die
Krankenversicherer (keine Offenlegung der Namen der Ärzte, welche die
Vergleichsgruppe bilden, noch - in anonymisierter Form - deren individuelle
Daten aus dem "santésuisse-Datenpool"; BGE 136 V 415 und SVR 2011 KV Nr. 15 S.
57, 9C_732/2010) nicht geprüft zu werden.

2.
2.1 Gemäss Art. 56 KVG muss sich der Leistungserbringer in seinen Leistungen
auf das Mass beschränken, das im Interesse der Versicherten liegt und für den
Behandlungszweck erforderlich ist (Abs. 1). Für Leistungen, die über dieses
Mass hinausgehen, kann die Vergütung verweigert werden. Eine nach diesem Gesetz
dem Leistungserbringer zu Unrecht bezahlte Vergütung kann zurückgefordert
werden (Abs. 2).

2.2 In BGE 130 V 377 hat das Bundesgericht entschieden, dass auch unter der
Herrschaft des neuen KVG bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung grundsätzlich die
Vergütungen sämtlicher verursachten (direkten und veranlassten) Kosten zu
berücksichtigen sind, und zwar bei der Bestimmung der Indizes im Rahmen der
statistischen Methode (Durchschnittskostenvergleich; vgl. dazu SVR 2007 KV Nr.
5 S. 20, K 6/06 E. 4.2) ebenso wie bei der Bemessung der Rückerstattungspflicht
(E. 7.5 S. 380). In BGE 133 V 37 hat es - in Änderung seiner bisherigen
Rechtsprechung - erkannt, dass bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung grundsätzlich
eine Gesamtbetrachtung Platz zu greifen hat und dementsprechend auf den die
Arzt-, die Medikamenten- und - soweit möglich - die veranlassten Kosten
berücksichtigenden Gesamtkostenindex abzustellen ist. Schliesslich hat das
Bundesgericht in BGE 137 V 43 die Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 377
dahingehend geändert, dass von der Rückerstattungspflicht nach Art. 56 Abs. 2
KVG nur die direkten Kosten (einschliesslich der abgegebenen Medikamente),
nicht hingegen die vom Arzt veranlassten Kosten erfasst werden (E. 2.5.5 S.
49). Nach wie vor ist jedoch die Frage, ob das Wirtschaftlichkeitserfordernis
erfüllt ist, aufgrund einer Gesamtbetrachtung im Sinne von BGE 133 V 37 zu
beantworten, wobei ein überdurchschnittlicher Anteil an selber erbrachten - bei
unterdurchschnittlich ausgelagerten - Leistungen zumindest im Sinne einer
Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist (E. 2.5.6 S. 49).

3.
Nach Auffassung der Vorinstanz betrifft die mit BGE 137 V 43 geänderte
Rechtsprechung sowohl die Bestimmung der Indizes im Rahmen der statistischen
Methode als auch die Bemessung der Rückerstattungspflicht. Daraus hat sie
gefolgert, solange die direkten Kosten im Toleranzbereich lägen und somit die
Vermutung der Wirtschaftlichkeit gelte, sei eine Rückforderung nicht zulässig.
So verhalte es sich im konkreten Fall. Die Rechnungssteller-Statistik von
santésuisse vom 7. Juli 2008 weise für den beklagten Arzt für 2007 einen Index
der direkten Kosten (unter Einbezug der abgegebenen Medikamente) von 120
Punkten aus, somit weniger als der unter Berücksichtigung der
Praxisbesonderheit des gegenüber der Vergleichsgruppe älteren Patientenguts
gewährte Toleranzwert von 130 Indexpunkten. Es liege daher keine Verletzung des
Wirtschaftlichkeitsgebots vor und eine Rückerstattungspflicht sei demzufolge zu
verneinen.

4.
4.1 Die Beschwerde führenden Krankenversicherer bringen richtig vor, dass BGE
137 V 43 nichts am Grundsatz geändert hat, dass bei der
Wirtschaftlichkeitsprüfung eine Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung aller
verursachten (direkten und veranlassten) Kosten Platz zu greifen hat.
Massgebend ist somit der Gesamtkostenindex (vorne E. 2.2). Liegt dieser
innerhalb des Toleranzbereichs, ist das Wirtschaftlichkeitsgebot nicht
verletzt. Andernfalls ist - in einem zweiten Schritt - zu prüfen, ob die
direkten Kosten den Toleranzwert übertreffen. Trifft das nicht zu, besteht
trotz Überarztung keine Rückerstattungspflicht (vgl. BGE 137 V 43 E. 3.1 S. 49
f.). Es können sich jedoch allenfalls Massnahmen nach Art. 59 Abs. 1 lit. a, c
oder d KVG aufdrängen (vgl. BGE 137 V 43 E. 2.5.4 S. 48). Ob und inwieweit ein
hoher Anteil an selber erbrachten statt ausgelagerten Leistungen im Sinne einer
den Toleranzwert erhöhenden Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist (vgl. E.
2.2 in fine), was die Beschwerdeführer bestreiten, kann offenbleiben. Die Frage
ist hier nicht von entscheidender Bedeutung.
4.2
4.2.1 Gemäss der massgebenden Rechnungssteller-Statistik von santésuisse vom 7.
Juli 2008 wies der Beschwerdegegner für 2007 einen Gesamtkostenindex von 160
Punkten auf, somit 30 Punkte mehr als der von den Krankenversicherern
anerkannte Toleranzwert von 130 Punkten. Es liegt somit grundsätzlich ein
Verstoss gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nach Art. 56 KVG vor. Bei den im
Hinblick auf eine allfällige Rückerstattungspflicht heranzuziehenden direkten
Kosten ist nun aber - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer -
grundsätzlich nicht nach Arztkosten und Kosten für die abgegebenen Medikamente
zu differenzieren (BGE 137 V 43 E. 2.5.5 in fine S. 49 und E. 3.1 S. 49 f.; 133
V 37 E. 5.3.5 S. 41).
4.2.2 Gemäss Feststellung der Vorinstanz betrug beim Beschwerdegegner 2007 der
Index der direkten Kosten (unter Einbezug der vom Arzt abgegebenen Medikamente)
120 Punkte (vorne E. 3). Darauf ist abzustellen, woran nichts ändert, dass der
Beschwerdegegner als in der Stadt Bern praktizierender Arzt im Unterschied zu
den in den ländlichen Regionen des Kantons tätigen Ärzten der Vergleichsgruppe
nicht zur Abgabe von Medikamenten berechtigt ist und diesbezüglich einen
vergleichsweise tiefen Index (41 Punkte) aufweist. Abgesehen davon, dass ein
Arzt auch bei entsprechender Bewilligung nicht verpflichtet ist, selber
Medikamente abzugeben, kann daraus insbesondere nicht gefolgert werden, der
Beschwerdegegner hätte ohne das Verbot der Selbstdispensation
überdurchschnittlich viele Medikamente abgegeben. In diesem Sinne ist das
Selbstdispensationsverbot kein äusserer Umstand, der eine Gesamtbetrachtung
(auch) in Bezug auf die direkten Kosten nicht rechtfertigte (vgl. BGE 133 V 37
E. 5.3.5 in fine S. 41).

4.3 Nach dem Gesagten ist die Beschwerde in der Hauptsache unbegründet.

5.
Die Vorinstanz hat dem obsiegenden Beklagten gestützt auf die einschlägigen
kantonalen Vorschriften eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 15'796.60
zugesprochen, was die Beschwerdeführer als nicht nachvollziehbar rügen. Mit
ihren Vorbringen vermögen sie indessen im Rahmen der ihnen obliegenden
qualifizierten Begründungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; Urteil 9C_340/2012 vom
8. Juni 2012 E. 2 mit Hinweisen) nicht darzutun, inwiefern die beanstandete
Festsetzung der Parteientschädigung im Ergebnis, worauf es einzig ankommt (BGE
135 V 2 E. 1.3 S. 4; Urteil 9C_346/2012 vom 31. Mai 2012 E. 1), willkürlich
ist.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend haben die Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine
Parteientschädigung zu bezahlen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4'500.- werden den Beschwerdeführern auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführer haben den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Schiedsgericht in
Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Bern und dem Bundesamt für
Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Juli 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler