Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 10/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_10/2012

Urteil vom 23. Mai 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
R.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Peter Kaufmann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 6.
Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
A.a R.________, geboren 1974, ist gelernte Zeichner-Kopistin. Seit Abschluss
der Ausbildung 1995 arbeitete sie als Verkäuferin in Warenhäusern. Ab September
2005 war sie in einer Schulanlage als Reinigungsfachkraft angestellt. Am 7.
März 2007 meldete sich R.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Sie gab an, seit Dezember 2006 unter einer
Rückenmarkerkrankung (Myelitis, Paraparese und Brown-Séquard-Syndrom) zu
leiden. Die IV-Stelle Bern holte Berichte der behandelnden Ärzte und der beiden
letzten Arbeitgeberinnen Firma C.________ und S.________ (vom 7. Juni bzw. 15.
Mai 2007) sowie je einen Abklärungsbericht Beruf (vom 23. April 2008) und
Haushalt (vom 5. Juni 2008) ein. Sie ermittelte gestützt darauf einen
Invaliditätsgrad von 60 %. Mit Verfügung vom 18. November 2008 sprach sie
R.________ ab 1. Dezember 2007 eine Dreiviertelsrente zu.
A.b Seit dem 2. Juni 2008 arbeitet R.________ an vier Vormittagen pro Woche als
Betriebsangestellte Kabelkonfektionierung in der Genossenschaft X.________. Am
10. August 2010 leitete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein. Sie nahm
erneut medizinische und erwerbliche sowie Abklärungen im Haushalt vor. Mit
Vorbescheid vom 18. Mai 2011 und Verfügung vom 6. Juli 2011 setzte sie den
Anspruch ab 1. September 2011 auf eine halbe IV-Rente herab (Invaliditätsgrad
von 54 %).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab
(Entscheid vom 6. Dezember 2011).

C.
R.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie
beantragt, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 6. Juli 2011
seien aufzuheben; die Versicherung sei zur Ausrichtung einer Dreiviertelsrente
zu verpflichten.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Verhältnisse der Beschwerdeführerin sich
verbessert haben und die revisionsweise Anpassung der Invalidenrente
rechtmässig war (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114). Umstritten
sind die Höhe des im Einkommensvergleich massgebenden Validenlohns (unten E. 3)
und das Erfordernis der Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen den
Tätigkeitsbereichen Beruf und Haushalt (unten E. 4).

3.
3.1 Das Valideneinkommen ist das Einkommen, das die versicherte Person erzielen
könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG, Art. 28a Abs. 1
IVG). Für dessen Ermittlung ist rechtsprechungsgemäss entscheidend, was sie im
Zeitpunkt des frühestmöglichen Rentenbeginns nach dem Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdienen würde, und
nicht, was sie bestenfalls verdienen könnte (BGE 131 V 51 E. 5.1.2 S. 53;
Urteil 9C_488/2008 vom 5. September 2008 E. 6.4). Dabei wird in der Regel am
zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen
Einkommensentwicklung angepassten Verdienst angeknüpft, da erfahrungsgemäss die
bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre. Ausnahmen
von diesem Erfahrungssatz müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt
sein (vgl. auch BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325 f. mit Hinweisen). Denn die Rente
der Invalidenversicherung ist grundsätzlich eine
Erwerbsausfall-Versicherungsleistung. Versichert ist nicht der
Gesundheitsschaden an sich, sondern der durch den Gesundheitsschaden
verursachte Verlust der Erwerbsmöglichkeit (Art. 1a lit. b IVG; Art. 7 Abs. 1,
Art. 8 Abs. 1 ATSG). Umgekehrt deckt die Invalidenversicherung nur diejenigen
Erwerbsverluste ab, die durch Gesundheitsbeeinträchtigungen verursacht sind,
nicht Einbussen, die auf andere Gründe (z.B. wirtschaftliche, persönliche usw.)
zurückzuführen sind. Die Erwerbsinvalidität hängt somit nicht von der Einbusse
des mutmasslichen Potenzials bzw. des funktionellen Leistungsvermögens als
solchem ab, sondern von der effektiven, gesundheitlich bedingten Einbusse im
Erwerbseinkommen. Nützte die versicherte Person im Gesundheitsfall ihr
wirtschaftliches Potenzial nicht voll aus, so ist dieser nicht verwertete Teil
der Erwerbsfähigkeit nicht versichert (BGE 135 V 58 E. 3.4.1 S. 60 f. mit
Hinweisen).

3.2 Zur Festsetzung des Valideneinkommens bringt die Beschwerdeführerin vor,
sie habe nach Abschluss ihrer zweijährigen Lehre als Zeichner-Kopistin keine
entsprechende Stelle gefunden und darum die Tätigkeit als Verkäuferin wieder
aufgenommen. Nach der Rechtsprechung (Urteil 9C_210/2011 vom 21. April 2011 E.
3.2.1.2) bleibe jeder erlernte Beruf auch nach einer allfälligen Aufgabe
Bestandteil der Ausbildung, über welche die versicherte Person sich ausweisen
könne. Es rechtfertige sich deshalb, im statistischen Lohnvergleich bei der
Festsetzung des Valideneinkommens nach der massgebenden LSE-Anforderungsstufe
vom Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt) auszugehen,
und nicht (wie Verwaltung und Vorinstanz) vom Niveau 4 (einfache und repetitive
Tätigkeiten).
Gestützt auf dieses Urteil hat die Vorinstanz zutreffend erwogen, dass die
Beschwerdeführerin nach Abschluss der Ausbildung 1995 nie im gelernten Beruf
gearbeitet hat; sie verfüge somit nicht über eine entsprechend qualifizierende
Berufserfahrung, die sie in einer hypothetischen Tätigkeit als Gesunde
nutzbringend einsetzen könnte. Inwiefern sie in der Lehre erworbene spezifische
Kenntnisse ohne Behinderung in einer anderen Tätigkeit verwerten könnte, lege
sie nicht dar. Darum und mit Blick auf die Tätigkeiten, die sie vor Eintritt
des invalidisierenden Gesundheitsschadens während zehn Jahren ausgeübt hat
(ungelernte Verkäuferin, Reinigungskraft), sei nicht zu beanstanden, dass die
Beschwerdegegnerin bei der Bestimmung des Valideneinkommens auf den
statistischen Wert des Anforderungsniveaus 4 abgestellt hat. Dem ist
beizupflichten. Die Sache unterscheidet sich wesentlich vom Präjudiz 9C_210/
2011, wo der erlernte Beruf im Kontext der regel- oder unregelmässig ausgeübten
Beschäftigung zum Anlass genommen wurde, Stufe 3 heranzuziehen.

4.
4.1 Zudem macht die Beschwerdeführerin das Vorliegen von Wechselwirkungen
zwischen den Aufgabenbereichen Haushalt und Erwerb geltend: Sie sei aufgrund
der Erkrankung rasch ermüdbar und müsse nach getaner Arbeit zu Hause vermehrt
Ruhepausen von 2-3 Stunden einhalten. Dieser Aspekt sei bisher nicht abgeklärt
und die Vorinstanz habe sich mit den entsprechenden Beschwerdevorbringen nicht
auseinandergesetzt.

4.2 Auf Grund der ärztlichen Angaben sind indes keine Hinweise auf (nicht schon
mitberücksichtigte) Wechselwirkungen erkennbar. Die Versicherte hatte weder
geltend gemacht, dass die gesundheitsbedingte Einschränkung im Haushalt sich
ausserdem auf die Arbeitsfähigkeit im Erwerbsbereich auswirkt, umgekehrt hatte
sie auch nicht dargelegt, inwiefern dies im Haushaltsbereich noch zusätzlich
der Fall sein soll. Denn bei der Besorgung des Haushalts besteht in der Regel
mehr Spielraum für die Einteilung und Ausgestaltung der Arbeiten. Bei den in
den Akten dokumentierten Verhältnissen (Anteil der Betätigung im Haushalt von
nunmehr effektiv 60 % an der Gesamtaktivität) verbleibt der Beschwerdeführerin
ausreichend freier Raum hierzu. Eine das berücksichtigte Mass überschreitende
und zusätzlich einzubeziehende Reduktion des Leistungsvermögens im Haushalt
besteht offenkundig nicht.
Die durch die Verwaltung auf der Grundlage der Abklärungsberichte Haushalt vom
5. Juni 2008 und 21. April 2011 ermittelte Einschränkung von insgesamt 23 % im
betreffenden Bereich wurde denn auch weder vor- noch letztinstanzlich
beanstandet. Im Gegenteil hat die Beschwerdeführerin im Einwandschreiben vom 9.
Juni 2011 ausdrücklich bestätigt, dass ihre Arbeitsfähigkeit im Haushalt
genauso eingeschränkt sei, wie sie es drei Jahren zuvor gewesen sei. Die erste
Erhebung im Haushalt am 23. Mai 2008 erfolgte noch vor Antritt der Stelle in
der Band-Genossenschaft am 2. Juni 2008 und somit frei von arbeitsbedingten
Wechselwirkungen. Somit verletzt die Rentenherabsetzung auch unter Einbezug
dieses Aspekts Bundesrecht nicht.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. Mai 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Schmutz