Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 108/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_108/2012

Urteil vom 5. Juni 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

I.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Büchel,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 5. Januar 2012.

Sachverhalt:

A.
I.________ meldete sich im Dezember 2000 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 26. März 2004 sprach ihm die IV-Stelle des
Kantons St. Gallen die Umschulung zum Mitarbeiter im ...-bereich vom ... bis
28. Februar 2006 zu. Nach Abschluss der Ausbildung tätigte die IV-Stelle zwecks
Prüfung der Rentenfrage weitere Abklärungen (u.a. Gutachten vom 7. August 2008
und 28. Dezember 2009). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte sie
mit Verfügung vom 22. März 2010 den Anspruch des Versicherten auf eine
Invalidenrente.

B.
Die Beschwerde des I.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 5. Januar 2012 dahingehend gut, dass es die
angefochtene Verfügung aufhob und die Sache im Sinne der Erwägungen zur
Weiterführung der Eingliederung und zur anschliessenden neuen Verfügung über
das Rentengesuch an die IV-Stelle zurückwies.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 5. Januar 2012 sei
aufzuheben.
I.________ beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter
sei sie abzuweisen. Das kantonale Versicherungsgericht und das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid weist die Sache im Sinne der Erwägungen zur
Weiterführung der Eingliederung und zu anschliessender neuer Verfügung über den
Anspruch des Beschwerdegegners auf eine Rente an die IV-Stelle zurück. Die
Vorinstanz hatte durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art.
28a Abs. 1 IVG) "anhand der aktuellen Situation" einen Invaliditätsgrad von 42
% ermittelt, was Anspruch auf eine Viertelsrente gäbe (Art. 28 Abs. 2 IVG).
Nach dem Grundsatz "Eingliederung vor Rente" könne indessen eine
anspruchsbegründende Invalidität erst vorliegen, wenn von (weiteren)
Eingliederungsmassnahmen keine Reduktion der drohenden behinderungsbedingten
Erwerbseinbusse (mehr) erwartet werden könne. Aufgrund der Akten könnte aber
der psychische Gesundheitszustand möglicherweise noch verbessert werden und
auch in Bezug auf die berufliche Eingliederung bestehe noch ein
Verbesserungspotenzial. Die Beschwerde führende IV-Stelle bestreitet einzig die
vorinstanzliche Invaliditätsbemessung.

2.
2.1 Der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid ist ein - selbständig eröffneter
- Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG. Die Zulässigkeit der
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten setzt somit gemäss Absatz
1 dieser Bestimmung voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder dass die Gutheissung der
Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde
(lit. b).

2.2 Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu ergänzender oder weiterer
Abklärung und neuer Entscheidung bewirkt in der Regel keinen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (BGE 137 V 314
E. 2.1 S. 316 mit Hinweisen). Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist diese
Voraussetzung in Bezug auf den vorinstanzlich ermittelten Invaliditätsgrad von
42 % jedoch als gegeben zu betrachten, weil bei richtiger Betrachtung der
Beschwerdegegner keinen Rentenanspruch habe. Dieser Argumentation wäre dann
beizupflichten, wenn der vorinstanzliche Entscheid die IV-Stelle zwingen würde,
allenfalls eine rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Dem ist indessen nicht so:
2.2.1 Invalidität liegt nur vor, wenn nach zumutbarer Eingliederung ein ganzer
oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten verbleibt (Art. 8 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 ATSG sowie Art. 16 ATSG). Damit wird der Grundsatz
"Eingliederung vor Rente" statuiert, welcher besagt, dass vor der Durchführung
von Eingliederungsmassnahmen eine Rente nur gewährt werden darf, wenn die
versicherte Person wegen ihres Gesundheitszustandes (noch) nicht
eingliederungsfähig ist (BGE 121 V 190 E. 4a S. 191; Urteil 9C_186/2009 vom 29.
Juni 2009 E. 3.2; Ulrich Meyer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 2.
Aufl. 2010, S. 275). Gemäss dem seit 1. Januar 2008 in Kraft stehenden Art. 28
Abs. 1 lit. a IVG haben Anspruch auf eine Rente Versicherte, die u.a. ihre
Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen,
nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder
verbessern können. Mit dieser Regelung soll die Priorität der Eingliederung
gegenüber der Rente gesetzlich noch stärker verankert und gleichzeitig der
Rentenzugang verschärft werden (BGE 137 V 351 E. 4.2 S. 358). Rentenleistungen
sollen erst dann allenfalls zur Ausrichtung gelangen, wenn keine zumutbaren
Eingliederungsmassnahmen (mehr) in Betracht fallen (Botschaft vom 22. Juni 2005
zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision],
BBl 2005 4459 ff., 4521 ff., 4531 und 4568; Urteil 9C_99/2010 vom 6. Dezember
2010 E. 3.1). Der Anspruch auf eine Rente ist daher nicht zu prüfen und eine
Rente kann nicht zugesprochen werden, solange Eingliederungsmassnahmen in
Betracht fallen können.
2.2.2 Die Beschwerdeführerin bringt vor, der Beschwerdegegner müsse nicht
eingegliedert werden, da er keinen Rentenanspruch habe. Dabei verkennt sie,
dass ein Invaliditätsgrad von weniger als 40 % nicht notwendigerweise
Eingliederungsmassnahmen ausschliesst. Gemäss Art. 4 Abs. 2 IVG gilt die
Invalidität als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs
auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat
(leistungsspezifischer Begriff der Invalidität; BGE 137 V 417 E. 2.2.3 S. 422;
130 V 343 E. 3.3.2 S. 348; BGE 112 V 275; vgl. zur Umschulung nach Art. 17 IVG
im Besonderen BGE 124 V 108. E. 2b S. 110 f.). Die IV-Stelle hatte einen
Invaliditätsgrad von 32 % ermittelt (Verfügung vom 22. März 2010). Welche
medizinischen oder beruflichen Eingliederungsmassnahmen konkret in Betracht
fallen und ob ein Anspruch darauf besteht, wird sie gemäss Anordnung im
angefochtenen Entscheid zu prüfen haben.

2.3 Nach dem Gesagten vermag der von der Vorinstanz ermittelte Invaliditätsgrad
nicht im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil zu bewirken. Die alternative Eintretensvoraussetzung nach Art. 93 Abs.
1 lit. b BGG ist mangels rechtsgenüglicher Substanziierung von vornherein nicht
gegeben (vgl. Urteile 9C_167/2012 und 9C_171/2012, beide vom 23. Mai 2012, je
E. 3.3 mit weiteren Hinweisen). Die Beschwerde ist somit unzulässig.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Juni 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler