Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 104/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_104/2012

Urteil vom 12. September 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
D.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari, Dornacherstrasse 10, 4600 Olten,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 29. November 2011.

Sachverhalt:

A.
Der 1961 geborene D.________ meldete sich im Mai 2006 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf die eingeholten
Unterlagen (u.a. Gutachten der MEDAS X.________ vom 23. August 2010 mit
orthopädischen und psychiatrischen Teilgutachten vom 20. Januar und 16. August
2010) und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle des
Kantons Aargau mit Verfügung vom 20. Dezember 2010 den Anspruch auf eine
Invalidenrente.

B.
Die Beschwerde des D.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Entscheid vom 29. November 2011 ab.

C.
D.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, Gerichtsentscheid und Verwaltungsverfügung seien aufzuheben und
ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter die Sache zu weiteren
medizinischen Abklärungen an die Vorinstanz oder an die IV-Stelle
zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Versicherungsgericht verzichtet auf eine Stellungnahme und stellt keinen
Antrag. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat dem MEDAS-Gutachten vom 23. August 2010 volle Beweiskraft
zuerkannt. In Würdigung der Expertise ist sie zum Ergebnis gelangt, es sei mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass nie über längere Zeit
eine höhere Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in angestammter wie adaptierter
Tätigkeit bestanden habe als die aus psychiatrischer Sicht um 20 % verminderte
Leistungsfähigkeit. Somit sei die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG
nicht erfüllt und der Beschwerdeführer habe keinen Rentenanspruch.

2.
Der Beschwerdeführer rügt, das MEDAS-Gutachten vom 23. August 2010 sei in
qualifizierter Weise untauglich. Die Expertise enthalte in psychiatrischer
Hinsicht Widersprüche. Indem die Vorinstanz darauf abstelle, missachte sie die
rechtsprechungsgemässen Anforderungen an ein beweiskräftiges Gutachten, womit
Beweiswürdigungsregeln und damit Bundesrecht verletzt würden.

3.
3.1 Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die
geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und
Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind
(BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Auf einen diesen Anforderungen an sich genügenden
ärztlichen Bericht darf jedoch dann nicht abgestellt werden, wenn Umstände
vorliegen, die in objektiver Weise und nicht bloss aufgrund des subjektiven
Empfindens der Partei geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit und
Unvoreingenommenheit des Verfassers zu erwecken (BGE 137 V 210 E. 6.1.2 S. 267;
132 V 93 E. 7.1 S. 109 mit Hinweis; Urteil 9C_1061/2009 vom 11. März 2010 E.
4.1; Urteil 9C_179/2011 vom 16. Mai 2011 E. 3.1.1).

3.2 Der Beschwerdeführer bringt wie schon im Vorbescheidverfahren und in der
vorinstanzlichen Beschwerde u.a. vor, er sei von der psychiatrischen
Gutachterin der MEDAS recht aggressiv angegangen worden; sie habe einen
Kasernenton angeschlagen. Er sei darüber schon bald so ungehalten gewesen, dass
er die Exploration verlassen habe. Hierauf habe er ins Untersuchungszimmer
zurückgerufen werden müssen. Ob diese Darstellung zutrifft, ist unklar. Weder
im Haupt- noch im psychiatrischen Teilgutachten finden sich diesbezügliche
Hinweise. Die Vorinstanz hat sich zum nämlichen Vorwurf nicht geäussert. Sollte
sich ein solcher Vorfall tatsächlich ereignet haben, kann ihm nicht jede
Relevanz abgesprochen werden: Beim Befund wurde im psychiatrischen
Teilgutachten u.a. festgehalten, bei der Kommunikation und bei den
interpersonellen Aktionen hätten im Verlauf des Gespräches keine
Auffälligkeiten vorgelegen. Die Affektivität habe unbeeinträchtigt erschienen
mit einer normalen Modulationsfähigkeit. Bei der Beurteilung und Prognose aus
psychiatrischer Sicht wurde ausgeführt, die Nervosität, die innere Unruhe und
die aggressiven Tendenzen seien im Rahmen der Untersuchung selber nicht
auszumachen gewesen und diese eher aufgrund der anamnestischen Daten und den
eigenen Angaben des Versicherten festgestellt worden. Das vom Beschwerdeführer
als Streit bzw. "Krach" bezeichnete Ereignis, sollte es sich tatsächlich so
oder ähnlich abgespielt haben, steht zu diesen Feststellungen in einem
unauflösbaren Widerspruch. Insofern bestehen somit nicht auszuräumende Zweifel
an der Schlüssigkeit der Expertise.
Der Vorhalt des Beschwerdeführers betreffend den Ablauf der Untersuchung bedarf
der Klärung. Die MEDAS bzw. die psychiatrische Gutachterin der Abklärungsstelle
ist damit zu konfrontieren, zu welchem Zweck die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen ist.

3.3 Unter der Annahme, dass die psychiatrische Gutachterin die erwähnten
Zweifel überzeugend auszuräumen vermag, kann auf das MEDAS-Gutachten vom 23.
August 2010 bzw. das psychiatrische Teilgutachten vom 16. August 2010
abgestellt werden:
3.3.1 Die Aussage der psychiatrischen Gutachterin, wonach die Diagnose einer
somatoformen Schmerzstörung hauptsächlich von somatisch orientierten Ärzten
gestellt worden sei, trifft zwar nicht zu, wie ein Blick in den Aktenauszug
zeigt. Ebenfalls ist die vorinstanzliche Feststellung offensichtlich unrichtig,
es sei von keinem der vorgängigen Ärzte eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung nach ICD-10 diagnostiziert worden. Im Bericht der Klinik
Y.________ vom 12. Dezember 2007 etwa wurde eine somatoforme Komponente erwähnt
und dabei auf den Diagnosecode für eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung
(ICD-10 F45.4) hingewiesen. Zur Frage, ob dieses Beschwerdebild vorliege, nahm
die psychiatrische Gutachterin der MEDAS indessen einlässlich Stellung. Die
betreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid bestreitet der
Beschwerdeführer mit praktisch identischer Begründung wie in der
vorinstanzlichen Beschwerde, womit er seiner Rügepflicht nicht genügt (vgl. BGE
134 II 244 E. 2.1-2.3 S. 245 ff.).
3.3.2 Weiter kann nicht von einer entscheidwesentlichen Verschärfung der für
die Diagnose einer Depression typischen Kriterien durch die psychiatrische
Expertin gesprochen werden, weder nach der in Deutschland noch in der Schweiz
geläufigen ICD-10-Verschlüsselung. In diesem Zusammenhang war der von ihr
erwähnte beinahe strukturierte Tagesablauf nicht das einzige Element, das gegen
ein krankheitswertiges depressives Geschehen sprach. Weiter wurde entgegen den
Vorbringen in der Beschwerde die Frage, ob der Versicherte einem
durchschnittlichen Arbeitgeber zumutbar sei, von der Psychiaterin der
Abklärungsstelle bejaht.
3.3.3 Sodann trifft zwar zu, dass im Gutachten vom 23. August 2010 der Beginn
der Arbeitsunfähigkeit im Sinne einer um maximal 20 % reduzierten
Leistungsfähigkeit auf ca. 2008 festgelegt wurde. Im psychiatrischen
Teilgutachten vom 16. August 2010 wurde indessen bei der "Stellungnahme zu den
diagnostischen und arbeitsmedizinischen Einschätzungen in den Vorakten"
festgehalten, bei der mittelschweren Depression handle es sich, wie bereits in
den Arztberichten selber beschrieben, um eine Episode und nicht um einen
andauernden Zustand. Die darauf gestützte vorinstanzliche Feststellung,
überwiegend wahrscheinlich habe nie über längere Zeit eine höhere Einschränkung
der Arbeitsfähigkeit bestanden als die aus psychiatrischer Sicht um 20 %
verminderte Leistungsfähigkeit (vorne E. 1), kann nicht als offensichtlich
unrichtig bezeichnet werden (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Schliesslich vermag
auch die Diskrepanz zwischen den persönlichen Angaben des Exploranden und dem
von der psychiatrischen Gutachterin erhobenen klinischen Befund den Beweiswert
des Administrativgutachtens nicht entscheidend zu mindern.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird teilweise
gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
29. November 2011 wird aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über die Beschwerde neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. September 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Fessler