Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 103/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_103/2012

Urteil vom 24. Oktober 2012
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
K.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 30. November 2011.

Sachverhalt:

A.
Die 1969 geborene K.________ zog sich am 26. Oktober 2005 bei einem
Verkehrsunfall im Iran ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule (HWS) zu. Am
30. Oktober 2006 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Gestützt auf die getroffenen Abklärungen, worunter eine
interdisziplinäre Untersuchung im Zentrum X.________ (Gutachten vom 18. April
2008), sprach die IV-Stelle Zürich K.________ ab 1. Oktober 2006 bei einem
Invaliditätsgrad von 100 % eine bis 31. Januar 2007 befristete ganze
Invalidenrente zu, wobei sie zur Begründung festhielt, der Versicherten seien
ab 1. Februar 2007 der Aufgabenbereich als Studentin und eine
behinderungsangepasste Tätigkeit wieder voll zumutbar (Verfügung vom 26. April
2010).

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher K.________ die teilweise
Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente über den 31. Januar 2007 hinaus, eventuell die Rückweisung der
Sache zu neuer Abklärung und Verfügung an die IV-Stelle, hatte beantragen
lassen und überdies eine Reihe von Verfahrensanträgen gestellt hatte, wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 30. November
2011 (Dispositiv-Ziffer 1) unter Regelung diverser prozessualer Nebenpunkte
(Dispositiv-Ziffer 2-4) ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt K.________ die
Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 1 des kantonalen Gerichtsentscheides beantragen
sowie die vorinstanzlich gestellten Haupt- und Eventualbegehren erneuern. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht lässt sie um Durchführung eines zweiten
Schriftenwechsels und die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
ersuchen.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs.1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt die Beschwerdeführerin, es sei ein
zweiter Schriftenwechsel durchzuführen. Da im vorliegenden Fall gestützt auf
Art. 102 Abs. 1 BGG, der die Einholung einer Vernehmlassung der Gegenpartei nur
vorsieht, soweit dies erforderlich ist, mangels Notwendigkeit kein
Schriftenwechsel durchgeführt wurde, ist der Antrag auf Durchführung eines
zweiten Schriftenwechsels gegenstandslos.

3.
3.1 Die Vorinstanz gelangte zur Hauptsache in Würdigung der Expertise des
Zentrums X.________ vom 18. April 2008, eines Berichts des Neurologen Dr. med.
H.________ vom 30. September 2008 sowie einer ergänzenden Stellungnahme des
Gutachters des Zentrums X.________ Dr. med. J.________ vom 1. Dezember 2008 und
eines Berichts des Rheumatologen Dr. med. S.________ vom 19. Dezember 2008 zum
Schluss, die Beschwerdeführerin sei ab Februar 2007 in ihrem Aufgabenbereich
als Studentin und in angepassten anderen Tätigkeiten voll arbeitsfähig gewesen.
Auch unter Annahme einer gesundheitlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit
würde sich nichts ändern. Die Beeinträchtigungen seien auf die erlittene
HWS-Distorsion zurückzuführen und hätten keine objektivierbare organische
Grundlage. Somit sei die Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen
anwendbar, laut welcher eine allfällige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
nicht leistungsbegründend wäre.

3.2 Die Beschwerdeführerin stellt die Beweiskraft des Gutachtens des Zentrums
X.________ in Frage, da an diesem kein Neurologe oder Neuropsychologe
mitgewirkt habe. Sodann zitiert sie eine E-Mail an ihren Rechtsvertreter vom 7.
Januar 2012, worin sie auf verschiedene Fehler im vorinstanzlichen Entscheid
hingewiesen habe. Ferner rügt sie eine Verletzung der Untersuchungsmaxime und
das Beschleunigungsgebots seitens des kantonalen Gerichts, wobei sie wiederum
angebliche Unzulänglichkeiten bei der Begutachtung im Zentrum X.________
geltend macht. Aufgrund der ungenügenden Abklärung hätte sich eine
Gerichtsexpertise aufgedrängt. Schliesslich kritisiert die Versicherte in
allgemeiner Form die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den somatoformen
Schmerzstörungen und bringt vor, es bestehe eine rechtsungleiche Behandlung
zwischen Versicherten mit einer Schmerzkrankheit oder Schleudertrauma der HWS
und den übrigen Leistungsansprechern; hiefür fehle eine medizinische Grundlage.
Es müsse von einer Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK ausgegangen
werden.

4.
4.1 Die Versicherte übt sich in weiten Teilen der Beschwerde in einer im Rahmen
der gesetzlichen Bestimmungen (E. 1 hievor) unzulässigen Kritik an der
Beweiswürdigung der Vorinstanz. Appellatorischer Natur sind insbesondere auch
die Ausführungen zum Inhalt der Administrativexpertise und zur Zusammensetzung
der Gutachterstelle (Zentrum X.________), d.h. zum Fehlen eines Facharztes für
Neurologie oder eines Neuropsychologen. Inwiefern die fehlende Mitwirkung eines
Neurologen an der Expertise Bundesrecht verletzen soll, legt die
Beschwerdeführerin nicht dar. Auf die entsprechenden Ausführungen ist nicht
weiter einzugehen. Wenn die Vorinstanz in Würdigung des Gutachtens des Zentrums
X.________ sowie der übrigen ärztlichen Berichte und Stellungnahmen zur
Auffassung gelangt ist, die Beschwerdeführerin wäre ab Februar 2007
zumutbarerweise in der Lage gewesen, ihr Studium fortzusetzen oder eine
leidensangepasste Erwerbstätigkeit zu verrichten, ist dies weder als
offensichtlich unrichtig noch als anderweitig bundesrechtswidrige
Sachverhaltsfeststellung zu qualifizieren, was in der Beschwerde denn auch
nicht ausdrücklich geltend gemacht wird. Angesichts der Beweislage erübrigte
sich für die Vorinstanz die Anordnung eines Gerichtsgutachtens, von welchem mit
Blick auf die bereits vorliegenden medizinischen Akten keine neuen Erkenntnisse
erwartet werden konnten.

4.2 Der Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu den Auswirkungen
somatoformer Schmerzstörungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 130 V
352 und seitherige Urteile) ist entgegenzuhalten, dass von einer
rechtsungleichen Behandlung vom Versicherten mit somatoformen Schmerzstörungen
oder Distorsionstrauma der HWS und versicherten Personen mit anderen Leiden
nicht gesprochen werden kann. Vielmehr besteht bei somatoformen
Schmerzstörungen - im Gegensatz zu körperlichen Gesundheitsschäden - kein
medizinisch nachweisbares Substrat. Gleiches gilt für Distorsionsverletzungen
der HWS ohne organisch nachweisbare Funktionsstörungen, weshalb es naheliegend
erscheint, die Frage, ob eine solche Verletzung invalidisierend wirkt,
sinngemäss nach der Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen
Schmerzstörungen zu beurteilen (BGE 136 V 279). Die analoge Anwendung der
Kriterien, bei deren Erfüllung ausnahmsweise ein invalidisierender
Gesundheitsschaden angenommen wird (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353 f.), auf die
Beurteilung von Versicherten mit HWS-Schleudertrauma entspricht dem Gebot
rechtsgleicher Behandlung. Wie das Bundesgericht in BGE 136 V 279 E. 3.2.3 S.
283 dargelegt hat, ist es aus Gründen der Rechtsgleichheit geboten, sämtliche
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne
nachweisbare organische Grundlage den gleichen sozialversicherungsrechtlichen
Anforderungen zu unterstellen. Inwiefern die Unterscheidung zwischen
somatischen und psychogenen Beschwerden mit Bezug auf den Leistungsanspruch
gegenüber der Invalidenversicherung zu einer nicht gerechtfertigten
Ungleichbehandlung der versicherten Personen und gar einer Verletzung der EMRK
führen soll, lässt sich den Ausführungen der Versicherten nicht entnehmen.
Hinreichender Verständlichkeit entbehren des Weiteren die Vorbringen zur
Rechtsprechung des Bundesgerichts gemäss BGE 130 V 352.

4.3 Schliesslich ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes nicht
erkennbar, während hinsichtlich der nach Ansicht der Beschwerdeführerin
fehlenden Waffengleichheit auf BGE 137 V 210 E. 1.4 S. 227 f. und 135 V 465 E.
4.3.2 S. 469 verwiesen wird. Danach ist es unter dem Gesichtspunkt der
Waffengleichheit grundsätzlich zulässig, dass ein Gericht auf die vom
Versicherungsträger korrekt erhobenen Beweise abstellt und auf ein eigenes
Beweisverfahren verzichtet, sofern das rechtliche Gehör in allen seinen
Teilaspekten gewahrt bleibt.

5.
Dem Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege kann stattgegeben
werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Die Beschwerdeführerin wird jedoch auf Art.
64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Philip Stolkin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Oktober 2012

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Widmer