Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1027/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_1027/2012 {T 0/2}

Urteil vom 30. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Borella,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
M.________,
vertreten durch Advokatin Doris Vollenweider,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Basel-Landschaft,
Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantons-
gerichts Basel-Landschaft vom 23. August 2012.

Sachverhalt:

A.
M.________ (geboren 1964) arbeitete zuletzt bis 22. Januar 2003 als Magaziner
und Verkäufer bei der Firma X.________. Am 3. November 2003 meldete er sich
unter Hinweis auf eine hochgradige Schwerhörigkeit zum Bezug einer Rente bei
der Invalidenversicherung an. Nachdem die IV-Stelle des Kantons
Basel-Landschaft verschiedene medizinische Gutachten eingeholt, eine
Kosten-gutsprache für eine verbesserte Hörgeräteversorgung erteilt und
berufliche Integrationsmassnahmen eingeleitet hatte, beurteilte sie den
Versicherten als voll arbeitsfähig. Trotzdem veranlasste sie eine
polydisziplinäre Untersuchung durch das Institut Y.________, welches seinen
Bericht am 14. Juni 2006 vorlegte. Darauf abgestützt wies die IV-Stelle mit
Verfügung vom 17. November 2006 das Leistungsgesuch aufgrund eines
Invaliditätsgrades von 15% ab. Mit Entscheid vom 11. Juli 2007 hiess das
Kantonsgericht Basel-Landschaft die hiegegen erhobene Beschwerde teilweise gut,
hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Angelegenheit zur weiteren
Klärung und zum Erlass einer neuen Verfügung zurück. Es hielt fest, dass auf
das Gutachten des Instituts Y.________ abgestellt werden könne und eine
körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeit aus medizinisch-theoretischer
Sicht zu 100% zumutbar sei, sofern der Versicherte für derartige Tätigkeiten
keiner näher umschriebenen Formen der Kommunikation bedürfe. Die IV-Stelle habe
es allerdings unterlassen, die Verweisungstätigkeiten genauer und unter
Berücksichtigung der erheblichen Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz zu
umschreiben. Aus diesem Grund habe die Verwaltungsbehörde zu prüfen, ob eine
zumutbare Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit in der vorliegend
interessierenden Zeitspanne von Januar 2004 bis Oktober 2008 existent gewesen
sei.
Mit Verfügung vom 24. Juli 2008 übernahm die IV-Stelle zwei Cochlea-Implantate
mitsamt Nachbehandlung für die Dauer von sechs Monaten. Am 14. Oktober 2008
wurde am rechten, am 17. März 2009 am linken Ohr das Implantat eingesetzt.
Nachdem der Versicherte ein integrierendes Arbeitstraining absolviert hatte,
liess ihn die IV-Stelle erneut durch das Institut Y.________ untersuchen
(Gutachten vom 21. März 2011). Aufgrund eines Invaliditätsgrades von 37%
verneinte die IV-Stelle am 2. November 2011 den Anspruch auf eine
Invalidenrente.

B.
Hiegegen erhob der Versicherte Beschwerde beim Kantonsgericht Basel-Landschaft.
Dieses hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 23. August 2012 teilweise gut. Es
hob die Verfügung vom 2. November 2011 auf und stellte fest, dass M.________ ab
1. Oktober 2009 Anspruch auf eine Viertels-Invalidenrente habe.

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Entscheides für die Zeit vom
1. Juni 2006 bis 30. September 2008 die Zusprechung einer ganzen, eventuell
auch einer halben Invalidenrente und vom 1. Oktober 2008 bis 30. September 2009
eine ganze Invalidenrente, eventualiter die Rückweisung der Sache zur weiteren
Abklärung an die Vorinstanz, beantragen. Ferner ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht umschreibt die Rechtsgrundlagen zum Anspruch auf eine
Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG) und zum Einkommensvergleich (Art. 28 Abs. 1
IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG) zutreffend. Darauf wird verwiesen. Richtig
sind auch die übergangsrechtlichen Erwägungen, wonach für die Zeit vom 1.
Januar 2008 an die neuen Bestimmungen des IVG und der IVV (5. IV-Revision)
anwendbar sind (BGE 130 V 445 E. 1.2.1 S. 447), die allerdings, soweit hier von
Bedeutung, keine inhaltliche Änderung zu den vorher gültigen Bestimmungen
darstellen.

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Eine
Beanstandung des Sachverhalts ist nur möglich, wenn die Feststellung
offensichtlich unrichtig erfolgte oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht sowie die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzlichen
Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten
Person sind grundsätzlich Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E.
3.2 S. 397 ff.), die das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Ebenfalls Tatfrage ist die konkrete Beweiswürdigung.
Dagegen sind die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG sowie die Einhaltung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör Rechtsfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397
ff.), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs-
bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E.
1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann, wendet doch das Bundesgericht das
Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist weder an die in der
Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz
gebunden (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262).

3.
Die materielle Rechtskraft eines gerichtlichen Entscheides erstreckt sich auf
das, was Streitgegenstand des Verfahrens gebildet hat und materiell gewürdigt
und entschieden worden ist. Inwieweit ein (erster) Rückweisungsentscheid die
Verwaltungsbehörde und, im Falle einer erneuten Anfechtung, auch die kantonale
Rechtsmittelinstanz bindet, ergibt sich aus dem Urteilsdispositiv (BGE 121 III
474 E. 4a S. 477) und den erklärenden Erwägungen (Grisel, Traité de droit
administratif, S. 882; Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl.,
S. 247 N. 36 in fine; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, S. 323; Kölz,
Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, S. 242).
Folglich sind auch die Motive, auf welche sich das Dispositiv seinem
rechtlichen Gehalt nach abstützt, für die Behörde, an welche die Sache
zurückgeht, verbindlich (Urteil 9C_350/2011 vom 3. Januar 2012 E. 4.1). Solange
jedoch über den Streitgegenstand als solchen nicht formell rechtskräftig
entschieden worden ist, verbietet sich grundsätzlich die Annahme, einzelne
Elemente der streitigen Sache seien bereits formell und materiell rechtskräftig
erledigt (Urteil I 157/00 vom 8. November 2001 E. 1b; ZAK 1986 S. 60 E. 1c mit
Hinweisen).

4.
Mit Entscheid vom 11. Juni 2007 wurde die IV-Stelle angewiesen, darzulegen, in
welchem Umfang beim Beschwerdeführer eine faktische Restarbeitsfähigkeit unter
Berücksichtigung der konkreten gesundheitlichen Einschränkungen im
interessierenden Zeitraum vorliegend war. Es kann offen bleiben, wie
detailliert sich die IV-Stelle im Verfahren zur Ermittlung des
Invaliditätsgrades im Vorfeld ihrer ersten Verfügung zu möglichen
Verweisungstätigkeiten hätte äussern müssen. Tatsache ist, dass sie vorgängig
ihrer zweiten Verfügung vom 2. November 2011 den Auftrag des Kantonsgerichts
unerfüllt gelassen und keine nähere Umschreibung der genannten
Verweisungs-tätigkeiten vorgenommen hat.

4.1 Streitgegenstand des ersten Verfahrens bildete, entsprechend der
angefochtenen Verfügung vom 17. November 2006, der Rentenanspruch. Die bei der
Ermittlung des Invaliditätsgrades detailliert zu umschreibenden
Verweisungstätigkeiten machen als solche nicht den Streitgegenstand aus,
sondern bilden einen Teilfaktor im Rahmen der Festsetzung der streitigen Rente.
Da im Entscheid vom 11. Juli 2007 nicht über den Streitgegenstand als solchen
entschieden worden ist, erwuchsen die Anweisungen des kantonalen Gerichts an
die IV-Stelle nicht in materielle Rechtskraft. Trotzdem ist als
verfahrensrechtlicher Grundsatz unbestritten, dass sich Parteien eines
Gerichtsverfahrens an den ergangenen Entscheid halten müssen, sofern sie - wie
hier der Fall - von seiner Anfechtung abgesehen haben und er infolge dessen in
formelle Rechtskraft erwachsen ist. Dies gilt namentlich, wenn eine Amtsstelle
im verwaltungsinternen Verfahren als Entscheidbehörde aufgetreten und im
nachfolgenden Rechtsmittelverfahren Partei geworden ist (vgl. auch erwähntes
Urteil 9C_548/2010 E. 4.1; Urteil 9C_522/2007 vom 17. Juni 2008 E. 3.3.1).

4.2 Die IV-Stelle hatte als Beschwerdegegnerin im gerichtlichen Verfahren,
welches zum Entscheid vom 11. Juli 2007 führte, Parteistellung inne, weshalb
die Anweisungen im Dispositiv und in den Erwägungen des Entscheides für sie
verbindlich waren. Entgegen der gerichtlichen Anordnung hatte die IV-Stelle
jedoch darauf verzichtet, weitere Abklärungen bezüglich möglicher
Verweisungstätigkeiten für den Versicherten vorzunehmen. Eine
Verwaltungsbehörde darf indessen die Anweisungen des Gerichts nur unbeachtet
lassen, wenn das Ziel der verlangten Instruktion bereits auf andere Weise
erreicht werden kann (in diesem Sinne erwähntes Urteil 9C_522/2010 E. 3.3.1).
In der Zeit zwischen dem ersten Entscheid des Kantonsgerichts und dem Erlass
der zweiten Verfügung durch die IV-Stelle haben sich keine weiteren
Erkenntnisse in Bezug auf die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit beim
Beschwerdeführer vor den Cochlea-Implantaten ergeben. Zusätzliche Abklärungen
im Sinne der Erwägungen des Rückweisungsentscheides vom 11. Juli 2007 hätten
den Invaliditätsgrad aber beeinflussen und sich damit anspruchserheblich
auswirken können. Indem das kantonale Gericht diese Vorgehensweise bestätigt,
ohne triftige Gründe anzugeben, warum die früher für erforderlich gehaltenen
Abklärungen nicht mehr notwendig sein sollen, verletzt es Bundesrecht (Urteil
9C_350/2011 vom 3. Januar 2011 E. 4.2).

5.
Die IV-Stelle hat unter Beachtung der Erwägungen aus dem Entscheid vom 11. Juli
2007 (insbesondere Ziffer 5) abzuklären, welche Art Verweisungstätigkeiten im
Zeitraum von Januar 2004 bis Oktober 2008 vom Versicherten hätten ausgeübt
werden können. Hierbei muss sie die am Arbeitsplatz existenten
Beeinträchtigungen in jener Zeit berücksichtigen und prüfen, ob in der
damaligen Ausgangslage überhaupt eine zumutbare Restarbeitsfähigkeit vorgelegen
hat. Gestützt auf die erlangten Ergebnisse hat die IV-Stelle nachfolgend den
Invaliditätsgrad für die Zeit zwischen Januar 2004 und September 2009 zu
bestimmen und, je nach dem Ergebnis, die Rente nachzubezahlen.
Die vorinstanzlich zugesprochene Viertelrente der Invalidenversicherung ab 1.
Oktober 2009 wurde von keiner Seite angefochten und steht deshalb dem
Beschwerdeführer jedenfalls zu (Art. 107 Abs. 1 BGG).

6.
Die IV-Stelle hat als unterliegende Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege ist somit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 23. August 2012, soweit nicht den
Invalidenrentenanspruch ab 1. Oktober 2009 betreffend, aufgehoben wird. Die
Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Basel-Landschaft zurückgewiesen, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf
eine Invalidenrente ab Januar 2004 bis September 2009 neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten in der Höhe von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons
Basel-Landschaft auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Basel-Landschaft hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. April 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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