Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1022/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_1022/2012 {T 0/2}

Urteil vom 16. Mai 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 12. November 2012.

Sachverhalt:

A.
S.________ (geboren 1990) wurde von seinen Eltern unter Hinweis auf psychische
Leiden sowie eine geistige Behinderung am 3. Novem-ber 2004 zum Leistungsbezug
in Form von Berufsberatung bei der Invalidenversicherung angemeldet. Nachdem
der Versicherte die von der Invalidenversicherung als erstmalige beruflich
Ausbildung übernommene Anlehre zum Gärtnereiarbeiter erfolgreich abgeschlossen
hatte, absolvierte er ein Eingliederungspraktikum bei der Gärtnerei X.________.
Danach arbeitete er mit einem 50%-Pensum bis zu seiner Entlassung im Januar
2010 in demselben Betrieb weiter.
Die IV-Stelle des Kantons Freiburg sprach S.________ mit Verfügung vom 26.
Februar 2010 rückwirkend vom 1. November 2008 bis 31. März 2009 sowie ab 1.
Januar 2010 eine halbe Invalidenrente zu. Im Rahmen eines im November 2011
amtlich eingeleiteten Revisionsverfahrens durch die wegen Umzugs des
Versicherten neu zuständigen IV-Stelle des Kantons Bern wurde festgestellt,
dass S.________ seit dem 25. Januar 2010 bei der A.________ AG unselbstständig
erwerbstätig war und in den Jahren 2010 und 2011 ein rentenausschliessendes
Erwerbseinkommen erzielt hatte. Im Verhalten des Versicherten erblickte die
IV-Stelle eine Meldepflicht-verletzung und verfügte am 26. April 2012 die
Aufhebung der Invalidenrente per 1. Februar 2010. Darüber hinaus forderte sie
mit Verfügung vom 1. Mai 2012 die Rückzahlung der zwischen 1. Februar 2010 und
29. Februar 2012 unrechtmässig bezogenen Renten.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des Versicherten hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 24. Oktober 2012 teilweise gut. Es änderte
die Verfügung vom 26. April 2012 insofern ab, als es die halbe Rente per 1. Mai
2010 aufhob und den Rückforderungsbetrag entsprechend herabsetzte.

C.
Die IV-Stelle des Kantons Bern lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten führen und die Aufhebung des angefochtenen Entscheides
beantragen, soweit darin die Verfügungen vom 26. April 2012 und 1. Mai 2012
abgeändert wurden.

Während S.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, teilt das Bundesamt
für Sozialversicherungen (BSV) die Auffassung der IV-Stelle.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG).

1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG), prüft indessen - unter Beachtung der Begründungspflicht in
Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) - grundsätzlich nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle
sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr aufgegriffen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2.
Die Beschwerdeführerin rügt den Entscheid vom 24. Oktober 2012 einzig im
Hinblick auf den darin gewählten Zeitpunkt, in dem der Anspruch des
Versicherten auf die Invalidenrente erloschen sein soll.

2.1 Art. 88a Abs. 1 IVV fixiert die Bedingungen, unter denen eine
Invalidenrente modifiziert werden kann (BGE 135 V 306 E. 7.2 S. 133). Nach
dieser Bestimmung ist eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder der
Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, für die Herabsetzung oder
Aufhebung einer Rente erst von jenem Moment an zu berücksichtigen, in dem
angenommen werden kann, dass sie voraussichtlich längere Zeit dauern wird. Ihr
ist in jedem Fall Rechnung zu tragen, nachdem sie ohne wesentliche
Unterbrechung drei Monate gedauert hat und voraussichtlich weiterhin andauern
wird. Sinn und Zweck des Art. 88a Abs. 1 IVV ist es u.a., dem Rentenbezüger
eine gewisse Sicherheit in Bezug auf die regelmässige Auszahlung der Leistungen
zu garantieren. Kurzzeitige Änderungen der rentenbegründenden Faktoren sollen
eine revisionsweise Anpassung nicht auslösen können, da einer in Rechtskraft
erwachsenen Leistungszusprache schon im Hinblick auf die Rechtssicherheit eine
gewisse Beständigkeit zuerkannt werden muss.

2.2 Art. 88bis IVV regelt die situationsgerechte Rentenanpassung der
Invalidenversicherung in zeitlicher Hinsicht (BGE 135 V 306 E. 7.2 S. 307;
Jean-Louis Duc, L'assurance-invalidité, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV,
2007, S. 1497 Rz. 267). Gemäss Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV erfolgt die
Herabsetzung oder Aufhebung der Rente frühestens vom ersten Tag des zweiten der
Zustellung der Verfügung folgenden Monats. Verfahrensrechtlich sieht Art. 88bis
Abs. 2 lit. a IVV eine Aufhebung der Invalidenrente nur pro futuro vor. Das
Ziel der Bestimmung liegt darin, dass die versicherte Person nicht wegen einer
rückwirkenden Einstellung der Invalidenrente Geldleistungen zurückzahlen soll,
welche sie aufgrund eines rechtskräftigen Rentenentscheids gutgläubig bezogen
hat. Zudem will ihr die Bestimmung Zeit zur Anpassung an die neuen finanziellen
Verhältnisse geben (BGE 111 V 219 E. 3 S. 225; Urteil 8C_763/2008 vom 19. Juni
2009 E. 5, nicht publ. in: BGE 135 V 306; BGE 133 V 67 E. 4.3.5 S. 70). Eine
rückwirkende Herabsetzung oder Aufhebung der Rente mittels Revision lässt
hingegen Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV ausnahmsweise zu, wenn die unrichtige
Ausrichtung einer Leistung darauf zurückzuführen ist, dass der Bezüger sie
unrechtmässig erwirkt hat oder der ihm gemäss Art. 77 IVV zumutbaren
Meldepflicht nicht nachgekommen ist.

3.
Der Versicherte beging eine Verletzung der Meldepflicht gemäss Art. 77 IVV. Das
Verwaltungsgericht legte in überzeugender Weise dar, weshalb der
Beschwerdegegner über die Aufnahme der Erwerbstätigkeit hätte Auskunft erteilen
müssen und aus welchen Gründen ihm die Verletzung der Meldepflicht vorwerfbar
ist.

3.1 Die Vorinstanz stützte in ihrem Entscheid vom 12. November 2012 im
Grundsatz die Auffassung der IV-Stelle, es sei die Rente gemäss Art. 88bis Abs.
2 lit. b IVV rückwirkend aufzuheben. Für die Frage des genauen Zeitpunktes der
Rentenaufhebung stellte das Verwaltungsgericht aber auf Art. 88a Abs. 1 IVV ab.
Zwar übe der Versicherte seit 25. Januar 2010 eine Erwerbstätigkeit bei der
A.________ AG aus, indessen sei die Frage, ob ein stabiles, verändertes
Verhältnis im Sinne von Art. 88a Abs. 1 IVV vorliege, nicht rückwirkend zu
beurteilen. Aufgrund der bei Arbeitsbeginn bestehenden Aktenlage habe in den
ersten Monaten der neuen Erwerbstätigkeit noch nicht von einer längere Zeit
andauernden Verbesserung der erwerblichen Situation ausgegangen werden können.
Die Meldepflichtverletzung sei demnach in Anwendung von Art. 88a Abs. 1 Satz 2
IVV erst nach Ablauf einer Einarbeitungszeit von drei Monaten zu
berücksichtigen.

3.2 Die IV-Stelle rügt eine falsche Rechtsanwendung durch die Vorinstanz.
Sowohl Art. 88a Abs. 1 IVV wie auch Art. 88bis IVV bestimmten den
Änderungszeitpunkt des Leistungsanspruchs. Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV sei als
Sonderregel jedoch im Falle einer Meldepflichtverletzung vorzuziehen. Der
Verordnungsgeber habe mit dieser Spezialnorm festgehalten, dass im Hinblick auf
eine Meldepflichtverletzung ein vom Regelfall abweichender Änderungszeitpunkt
gelte. Nach der unmissverständlichen Bestimmung des Art. 88bis Abs. 2 lit. b
IVV erfolge die Aufhebung der Rente rückwirkend vom Eintritt der für den
Anspruch erheblichen Änderung an.
Das BSV teilt diese Auffassung in seiner Vernehmlassung. Darüber hinaus weist
es auf die Rechtsprechung hin, wonach Art. 88bis IVV die Rentenanpassung in
zeitlicher Hinsicht regle (vgl. E. 2.1 und 2.2 hievor). Es sei widersprüchlich,
die rückwirkende Rentenaufhebung wie das Verwaltungsgericht in Anwendung von
Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV zu bejahen und gleichzeitig gestützt auf Art. 88a
Abs. 1 Satz 2 IVV den Zeitpunkt der Rentenaufhebung zu bestimmen. Des Weiteren
liege eine rückblickende Betrachtungsweise bei einer Meldepflichtverletzung in
der Natur der Sache. Grundsätzlich zu melden seien künftige Veränderungen, die
sich auf den laufenden Anspruch auf eine Dauerleistung auswirken könnten. Liege
aber eine verspätete Meldung vor, so müsse zwangsläufig retrospektiv beurteilt
werden, ob die Änderungen Auswirkungen auf den Leistungsanspruch des
Rentenbezügers gehabt hätten.
3.3
3.3.1 Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV setzt im Falle einer Meldepflichtverletzung
(Art. 77 IVV) den Eintritt der für den Anspruch erheblichen Änderung als
Zeitpunkt fest, in dem eine Rentenherabsetzung oder -aufhebung zu erfolgen hat.
Eine Änderung, somit auch eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, ist auch im
Anwendungsbereich dieser Bestimmung erst erheblich, wenn sie gemäss Art. 88a
Abs. 1 IVV berücksichtigt werden darf, d.h. wenn sie aller Wahrscheinlichkeit
nach längere Zeit andauern wird oder ohne wesentliche Unterbrechung bereits
drei Monate angedauert hat.
Wie der Wortlaut von Art. 88a Abs. 1 IVV zeigt, ist im Regelfall pro futuro
abzuklären, ob eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit voraussichtlich längere
Zeit Bestand haben wird. Ist das Revisionsverfahren hingegen aufgrund einer
Meldepflichtverletzung eingeleitet worden, so gibt es keinen Grund, die
Voraussetzungen von Art. 88a Abs. 1 IVV nicht rückblickend zu untersuchen. Die
Beständigkeit eines Rentenentscheides wird auf diese Weise gestärkt, ist doch
im Nachhinein die Dauerhaftigkeit einer verbesserten Erwerbstätigkeit einfacher
zu überprüfen und feststellbar als eine künftige Verbesserung.
3.3.2 Nach seiner der IV-Stelle gemeldeten Entlassung nahm der Beschwerdegegner
am 25. Januar 2010 eine volle Erwerbstätigkeit auf. Da er diese für den
Leistungsanspruch wesentliche Änderung nicht bekannt gegeben hat (Art. 77 IVV),
obwohl er ab 1. Januar 2010 eine halbe Invalidenrente bezogen hatte, ist seine
Rente gemäss Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV rückwirkend auf jenen Zeitpunkt
aufzuheben, in dem die Verbesserung seiner Erwerbsfähigkeit eingetreten ist und
daraufhin ohne wesentliche Unterbrechung längere Zeit angedauert hat.
Mit dem Stellenantritt vom 25. Januar 2010 wurde die volle Erwerbsfähigkeit des
Versicherten ersichtlich. Bis heute arbeitet er bei der A.________ AG mit einem
Beschäftigungsgrad von 100%. Die Beständigkeit seiner verbesserten
Erwerbsfähigkeit ist demnach erwiesen, zumal seit Arbeitsaufnahme auch keine
wesentlichen Unterbrechungen bekannt sind. Somit ist die Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit seit Stellenantritt am 25. Januar 2010 zu berücksichtigen
(Art. 88a Abs. 1 IVV) und gilt von diesem Zeitpunkt an als erhebliche Änderung
im Sinne von Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV. Indem die Vorinstanz festgehalten
hat, die Invalidenrente sei erst ab 1. Mai 2010 aufzuheben und die
Rückforderung habe die Rentenbetreffnisse nach diesem Datum zum Gegenstand, hat
sie Bundesrecht verletzt. Es bleibt damit bei den Verfügungen vom 26. April und
1. Mai 2012, mit welchen die IV-Stelle die Invalidenrente ab 1. Februar 2010
(frühest möglicher Zeitpunkt nach erheblicher Änderung) aufgehoben und die zu
Unrecht ausgerichteten Rentenbetreffnisse zurückgefordert hat.

4.
Umständehalber ist von der Erhebung von Gerichtskosten abzusehen (Art. 66 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 12. November 2012
wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Mai 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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