Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1012/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_1012/2012

Urteil vom 4. Juni 2013

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterin Glanzmann, nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Verfahrensbeteiligte
H.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 15. Oktober 2012.

Sachverhalt:

A.
H.________ (geboren 1957) meldete sich am 20. Oktober 2008 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte Massnahmen für die berufliche
Eingliederung. Er war seit 1. März 2004 als Hauswart bei der P.________ AG im
Umfang von 15% und ab 12. November 2001 bis 31. Dezember 2005 bei der
B.________ AG und ab 1. Juni 2006 bis 31. Januar 2009 bei der O.________ AG als
Lieferwagen-Chauffeur tätig gewesen. Dr. med. et phil-nat. S.________, damals
Assistenzarzt in der Abteilung für Gastroenterologie des Universitätsspitals
X.________, diagnostizierte am 11. Februar 2009 mit Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit eine seit Juli 2008 bestehende Colitis ulcerosa sowie ohne
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine seit Dezember 2008 bestehende
chronische Gastritis. Am 17. September 2010 beauftragte die IV-Stelle Basel das
Institut Y.________ mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieses wurde,
unterzeichnet von med. pract. C.________, Arbeitsmedizin FMH, am 15. Juli 2011
erstattet, wobei keine Diagnose mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit, jedoch
verschiedene Diagnosen ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit, festgestellt
wurden. Die Konklusion des Gutachtens wurde im Rahmen einer interdisziplinären
Konsens-Konferenz am 4. Juli 2011 mit med. pract. C.________, Dr. med.
B.________, Oberärztin Rheumatologie, Innere Medizin FMH, Dr. med. P.________,
Assistenzarzt Psychosomatik sowie Dr. med. et. phil.-nat. S.________, Oberarzt
Gastroenterologie, erarbeitet. Im aktuell beschwerdearmen Intervall der Colitis
bestünden keine Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit. Für körperlich leichte
bis mittelschwere Tätigkeiten sei H.________ ohne Einschränkung arbeitsfähig.
Günstig wäre ein ungehinderter Zugang zu einer Toilette. Vermieden werden
sollten Tätigkeiten mit häufigen Überkopfarbeiten, Arbeiten im Hocken oder
Knien. Mit Vorbescheid vom 13. Dezember 2011 stellte die IV-Stelle Basel die
Ablehnung eines Rentenanspruches in Aussicht. Dagegen wurde am 26. Januar 2012
Einwand erhoben. Obwohl am 30. Januar 2012 Nachfrist für eine Verbesserung der
Stellungnahme bis 15. Februar 2012 eingeräumt wurde, verfügte die IV-Stelle
Basel bereits am 15. Februar 2012 die Abweisung eines IV-Rentenanspruches.

B.
Am 20. März 2012 liess H.________ gegen die Verfügung der IV-Stelle Basel-Stadt
vom 15. Februar 2012 Beschwerde erheben und dabei die Aufhebung der Verfügung
der IV-Stelle Basel-Stadt und die Ausrichtung nach Massgabe der bestehenden
Erwerbsunfähigkeit und Invalidität einer Invalidenrente ab wann rechtens
beantragen. Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wies nach Durchführung
einer mündlichen, öffentlichen Verhandlung mit Entscheid vom 15. Oktober 2012
die Beschwerde ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt H.________ die
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids vom 15. Oktober 2012 und der
Verfügung der IV-Stelle Basel-Stadt vom 15. Februar 2012 beantragen. Es seien
ihm nach Massgabe der bestehenden Erwerbsunfähigkeit und Invalidität im Umfang
von 100% in der Zeit vom 1. Mai 2009 bis Dezember 2010 und ab 1. Januar 2011
von mindestens 51% die gesetzlichen Leistungen inkl. qualifizierte berufliche
Integrationsmassnahmen (inkl. Umschulung auf eine angepasste Tätigkeit)
zuzusprechen.
Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die IV-Stelle des
Kantons Basel-Stadt beantragt die Gutheissung der Beschwerde, unter Aufhebung
des Entscheids der Vorinstanz vom 15. Oktober 2012 und ihrer Verfügung vom 15.
Februar 2012 und Rückweisung der Sache an sie zu weiteren Abklärungen. Der
Beschwerdeführer hat sich am 15. Februar 2013 nochmals geäussert. Das Bundesamt
für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann eine - für den Ausgang des
Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG). Im Übrigen wendet es das Recht von Amtes wegen an (Art.
106 Abs. 1 BGG) und ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend
gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 134 V
250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen). Es prüft allerdings - unter Beachtung der
allgemeinen Begründungspflicht in Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG) - nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht
geradezu offensichtlich sind, und ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche
Behörde alle sich stellenden Fragen zu untersuchen, auch wenn diese vor
Bundesgericht nicht mehr aufgegriffen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2.
Der Beschwerdeführer verlangt erstmals im bundesgerichtlichen Verfahren
"qualifizierte berufliche Integrationsmassnahmen (inklusive Umschulung auf eine
angepasste Tätigkeit) ". Vorab ist festzustellen, dass Integrationsmassnahmen
und Massnahmen beruflicher Art Eingliederungsmassnahmen darstellen. Somit
handelt es sich bei den Integrationsmassnahmen nicht um einen Oberbegriff, zu
welchen auch die Massnahmen beruflicher Art gehören würden (vgl. die Titel
II bis und III in "C. Eingliederungsmassnahmen und Taggelder" Art. 8 ff. IVG).
Überdies hat der Beschwerdeführer diese Begehren im Verfahren bei der
Vorinstanz nicht gestellt, so dass diese im vorliegenden Verfahren ohnehin
unzulässig sind (Art. 99 Abs. 2 BGG) und darauf nicht eingetreten werden kann.

3.

3.1. Für Sachverständige gelten grundsätzlich die gleichen Ausstands- und
Ablehnungsgründe, wie sie für Richter vorgesehen sind. Danach ist Befangenheit
anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die in objektiver Weise und nicht bloss
aufgrund des subjektiven Empfindens der Partei geeignet sind, Misstrauen in die
Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit der sachverständigen Person zu
erwecken (BGE 132 V 93 E. 7.1 S. 109 mit Hinweis). Im Hinblick auf die
erhebliche Bedeutung, welche medizinischen Gutachten im
Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit der
begutachtenden Ärzte ein strenger Massstab anzulegen (BGE 132 V 93 E. 7.1 S.
110; 120 V 357 E. 3b in fine S. 367 mit Hinweisen).

3.2. Dr. S.________ war bereits seit 9. Juni 2008 behandelnder Arzt des
Beschwerdeführers und wirkte an der am 15. Juli 2011 erstellten Begutachtung
des Instituts Y.________ mit.
Nach im Schrifttum vertretener Auffassung sollten behandelnde Ärzte nicht als
Gutachter betraut werden, da sowohl Befangenheit gegenüber dem eigenen
Patienten wie auch dem eigenen Behandlungsergebnis nicht von vornherein
ausgeschlossen werden kann (vgl. GABRIELA RIEMER-KAFKA [Hrsg.],
Versicherungsmedizinische Gutachten, 2. Aufl. 2012, S. 35). Die therapeutische
und gutachterliche Tätigkeit des Arztes führt zu einer doppelten
Rollenverteilung, weil einerseits der Arzt dem Wohle seines Patienten
verpflichtet ist, andernteils aber auch seinem Auftraggeber gegenüber zur
grösstmöglichen Objektivität. Damit wird der Versicherte gleichzeitig Patient
und Explorand, was zu Zielkonflikten führen kann. Daher sollten als Gutachter
die behandelnden Ärzte grundsätzlich nicht betraut werden (Ulrich Meyer, in:
Hermann Fredenhagen, Das ärztliche Gutachten, 4. Aufl. 2003, S. 22). In
Beachtung der ärztlichen Sorgfaltspflicht hat der mit einem Gutachten
beauftragte behandelnde Arzt auf diese Konstellation rechtzeitig hinzuweisen.
Andererseits hat der Versicherte die Pflicht, einen Ausstandsgrund sofort zu
rügen (vgl. BGE 138 III 702 und 117 Ia 322 in Bezug auf Gerichtsmitglieder),
was hier nicht bereits im Einwandverfahren, sondern erst im erstinstanzlichen
Beschwerdeverfahren erfolgt ist. Zu diesem Spannungsfeld kommt noch die Frage
hinzu, ob bei einer interdisziplinären Begutachtung mit Konsensfindung im
Kollegium - wie hier -, wo der einzelne Gutachter eher im Hintergrund steht,
die gleichen Anforderungen wie in Bezug auf eine Einzelbegutachtung (vgl. auch
Urteil 8C_444/2008 vom 23. Dezember 2008 E. 4.3.1) gelten. Ob und unter welchen
Voraussetzungen der behandelnde Arzt als Gutachter tätig werden darf und ob der
Beschwerdeführer den Ausstand rechtzeitig gerügt hat, kann indessen aus
nachfolgenden Gründen offenbleiben.

3.3. Sowohl der Beschwerdeführer in der Eingabe vom 15. Februar 2013 wie auch
die IV-Stelle beantragen übereinstimmend eine neue polydisziplinäre
Begutachtung. Nach Auffassung der IV-Stelle bestehen erhebliche Zweifel an der
Schlüssigkeit des Gutachtens des Instituts Y.________, insbesondere auch
hinsichtlich der Zumutbarkeitsbeurteilung aus gastroenterologischer und
gesamtmedizinischer Sicht. Dem übereinstimmenden Antrag beider Parteien ist zu
entsprechen. Die polydisziplinäre Begutachtung ist daher zu wiederholen.

3.4. Die Beschwerdegegnerin beantragt eine Rückweisung an sich (und nicht an
die Vorinstanz). Der Beschwerdeführer hat dagegen nicht opponiert, sondern
stellt übereinstimmende Parteistandpunkte und übereinstimmende Parteianträge
fest. Dem Begehren an eine Rückweisung an die Beschwerdegegnerin zur Vornahme
von weiteren Abklärungen in Form einer polydisziplinären Begutachtung und
anschliessend erneuter Verfügung über die Ansprüche des Beschwerdeführers ist
daher in der gegebenen Konstellation zu entsprechen (vgl. dazu auch das Urteil
8C_592/2012 vom 23. November 2012 = SVR 2013 UV Nr. 9 E. 6.5).

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird, soweit auf sie eingetreten werden kann, in dem Sinne
gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt vom 15. Oktober 2012 und die Verwaltungsverfügung vom 15. Februar
2012 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Basel-Stadt
zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen, über die Ansprüche des Beschwerdeführers neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt hat die Gerichtskosten
und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Juni 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer

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