Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.96/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_96/2012

Urteil vom 22. Juni 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Schöbi,
Gerichtsschreiber Briw.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roger Rudolph,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Versuchte Nötigung; Willkür, rechtliches Gehör,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 16. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
Der Kosovare X.________ und die Serbin A.________ arbeiteten im Jahr 2009
einige Monate zusammen im gleichen Büro bei einer Gewerkschaft. Im November
2009 kündigte die Gewerkschaft X.________ und stellte ihn frei. X.________
klagte beim Zürcher Arbeitsgericht gegen die Gewerkschaft. Diese rief
A.________ als Zeugin auf.

X.________ traf A.________ noch vor ihrer Zeugeneinvernahme am Mittag des 28.
September 2010 bei einer Baustelle. Sie begaben sich in ein Restaurant, wo sie
sich in Anwesenheit der Gewerkschaftssekretärin B.________, einer Albanerin,
während 60 bis 90 Minuten besprachen.

A.________ stellte am 30. September 2010 einen Strafantrag gegen X.________
wegen Drohung und Nötigung.

B.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat warf X.________ mit Anklageschrift vom 20.
Dezember 2010 versuchte Nötigung vor, weil er A.________ beim Gespräch am 28.
September 2010 massiv bedroht habe um zu verhindern, dass sie als Zeugin vor
Arbeitsgericht gegen ihn aussage.

Das Bezirksgericht Zürich fand X.________ am 11. März 2011 der versuchten
Nötigung schuldig (Art. 181 i.V.m. Art. 22 StGB) und bestrafte ihn mit einer
bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 70.-- (wovon ein Tagessatz durch
Haft erstanden ist) und einer Busse von Fr. 1'500.--. Es verpflichtete ihn,
A.________ eine Genugtuung von Fr. 500.-- nebst Zins zu zahlen, stellte dem
Grundsatz nach eine Schadenersatzpflicht von X.________ fest und verwies
A.________ im Übrigen auf den Zivilweg.

Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte auf Berufung von X.________ am
16. Dezember 2011 den bezirksgerichtlichen Schuldspruch und bestrafte ihn mit
einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 30.-- (wovon ein Tag durch
Haft erstanden ist), verpflichtete ihn zur Zahlung der bezirksgerichtlich
festgesetzten Genugtuung, bestätigte die grundsätzliche Schadenersatzpflicht
und verwies die Sache im Übrigen auf den Zivilweg.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das
obergerichtliche Urteil vollumfänglich aufzuheben, ihn von Schuld und Strafe
freizusprechen oder eventualiter die Sache an die Vorinstanz zu neuer
Beurteilung zurückzuweisen. Es seien sämtliche Verfahrenskosten auf die
Staatskasse zu nehmen und ihm eine angemessene Parteientschädigung
zuzusprechen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung und ihm die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer stellt zunächst sein Aussageverhalten und jenes der
Geschädigten (Beschwerde S. 6 ff. bzw. S. 12 ff.) sowie die Aussagen der Zeugen
B.________ (S. 20 f.), C.________, D.________ und E.________ (S. 21 ff.) dar.
Anschliessend setzt er sich mit der vorinstanzlichen Beweiswürdigung
auseinander (S. 24 ff.) und fasst seine Kritik zusammen (S. 35 ff.). Er sei
schuldig gesprochen worden, obwohl sein Aussageverhalten von Anfang an stimmig
gewesen sei. Die Geschädigte habe dagegen die Sache bei späteren Befragungen
anders dargestellt als zu Beginn und als Zeugin vor Arbeitsgericht verneint,
dass er versucht habe, ihr Aussageverhalten vor Gericht zu beeinflussen. Nach
der Zeugin B.________ (nachfolgend: Zeugin) habe er die Geschädigte
aufgefordert, vor Arbeitsgericht die Wahrheit zu sagen. Die Geschädigte habe
die angeblichen Drohungsäusserungen immer mehr abgeschwächt und von
Verständnisschwierigkeiten gesprochen. Die Zeugin habe rund 35 % des Gesprächs
verstanden und keine der vorgeworfenen Drohungsäusserungen bestätigen können.
Sie hätten laufend die Sprachen gewechselt. Deutsch sei für alle drei
Beteiligten eine Fremdsprache. Der SMS-Verkehr nach dem Gespräch lasse sich mit
dem eingeklagten Nötigungsversuch nicht vereinbaren.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 9 BV und Art. 6 EMRK
wegen Willkür und Verletzung des fair trial. Die Beweiswürdigung sei
widersprüchlich, einseitig und aktenwidrig (Beschwerde S. 37 f.). Weiter macht
er eine Verletzung von Art. 6 EMRK, Art. 29 und Art. 32 BV wegen abgewiesener
Beweisanträge (S. 39 ff.) sowie von Art. 29 Abs. 2 und Art. 6 EMRK wegen
Nichtauseinandersetzung mit aufgezeigten Widersprüchen geltend (S. 41 f.).
Schliesslich sei der Grundsatz in dubio pro reo unbesehen der verweigerten
Beweisabnahme verletzt, weil Unstimmigkeiten und zentrale Widersprüche nicht zu
unterdrückende Zweifel bewirkten.

2.2 Aus Art. 29 Abs. 2 BV folgt die Pflicht einer Behörde, ihren Entscheid zu
begründen. Sie muss aber nicht jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich
widerlegen. Sie kann sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte
beschränken (BGE 136 I 229 E. 5.2; 134 I 83 E. 4.1). Auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK
verpflichtet die Gerichte, ihre Entscheide zu begründen. Die Bestimmung kann
nicht so verstanden werden, dass sie eine detaillierte Antwort auf jedes
Argument erfordert ("ne peut pas se comprendre comme exigeant une réponse
détaillée à chaque argument"; Urteil des EGMR in Sachen Pedro Ramos gegen
Schweiz vom 14. Oktober 2010, Req. 10111/06, Ziff. 39). Diese
Begründungspflicht wird von der Vorinstanz nicht verletzt. Sie setzt sich
hinreichend mit der Sache auseinander.

2.3 Die Beweiswürdigung ist Sache der innerstaatlichen Gerichte und wird als
solche nicht durch die EMRK geregelt. Art. 30 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
gewährleisten den Anspruch auf ein faires Verfahren.

Gemäss Art. 32 Abs. 1 BV gilt jede Person bis zur rechtskräftigen Verurteilung
als unschuldig. In dieser Verfassungsbestimmung ist auch der Grundsatz in dubio
pro reo als Beweislastregel begründet. Es ist Sache der Anklagebehörde, die
Schuld des Angeklagten zu beweisen. Dieser hat nicht seine Unschuld
nachzuweisen (BGE 127 I 38 E. 2a). Als Beweiswürdigungsregel besagt der
Grundsatz, dass sich das Gericht nicht von der Existenz eines für den
Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei
objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen,
ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (vgl. Art. 10 Abs. 3 StPO). Dies
prüft das Bundesgericht auf Willkür (Art. 9 BV), d.h. es greift nur ein, wenn
die Vorinstanz den Beschuldigten verurteilte, obwohl bei objektiver Würdigung
des Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu
unterdrückende Zweifel an dessen Schuld fortbestanden (BGE 127 I 38 E. 2a; 120
Ia 31). Willkür setzt voraus, dass der Entscheid schlechterdings unhaltbar ist,
d.h. mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem
offenkundigen Versehen beruht oder sich sachlich in keiner Weise rechtfertigen
lässt (BGE 133 III 589 E. 4.1; 131 I 217 E. 2.1, 467 E. 3.1). Der Entscheid
muss nicht bloss in der Begründung, sondern im Ergebnis unhaltbar sein. Dass
eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint,
genügt nicht (BGE 134 I 140 E. 5.4).

Die Vorinstanz geht zutreffend davon aus, dass Prozessthema einzig der Inhalt
des Gesprächs vom 28. September 2010 zwischen dem Beschwerdeführer und der
Geschädigten ist. Dabei war eine Gewerkschaftssekretärin anwesend, welche die
einzige direkte Zeugin des Gesprächs ist. Weiter nimmt die Vorinstanz als
gerichtsnotorisch an, dass ethnische Spannungen wegen der Bürgerkriegssituation
zwischen Serben und Kosovaren auch in der Schweiz vorhanden sein könnten, dass
solche vorliegend aber nicht zum Tragen kämen. Es sei kein solches Motiv der
Geschädigten zu erkennen. Hingegen sei durchaus ein Motiv des Beschwerdeführers
ersichtlich, die Geschädigte von Aussagen vor Arbeitsgericht abzuhalten
(angefochtenes Urteil S. 27 f.).

Der Beschwerdeführer sei schon in der ersten Befragung mit der Behauptung der
Geschädigten konfrontiert worden, er habe ihre Kinder in drohender Weise ins
Spiel gebracht. Er habe erst in späteren Einvernahmen diesen Hinweis auf die
Kinder mit einem Schwur auf die eigenen Kinder erklärt. Es sei unrealistisch,
dass die serbisch sprechende Geschädigte dies hätte missverstehen können.
Lebensfremd sei es anzunehmen, dass sie wegen des Schwurs hätte in Tränen
ausbrechen sollen, während dies bei Drohungen gegen ihre eigenen Kinder ohne
Weiteres plausibel erscheine (angefochtenes Urteil S. 29 f.).

Zu den gerügten Widersprüchen hält die Vorinstanz fest, der Beschwerdeführer
lenke vom Kernthema ab. Eine gewisse sprachliche Unbeholfenheit der
Geschädigten sei unübersehbar. Die Geschädigte habe in ihrer ersten Aussage
nicht erwähnt, dass die Drohungen im Restaurant erfolgten und dass die Zeugin
anwesend war. Das sei aber kein "Verschweigen" und ändere nichts an ihrer
Glaubhaftigkeit. Der Beschwerdeführer habe der Geschädigten nach dem Gespräch
per SMS mitgeteilt, er habe vergessen, ihre Familie zu grüssen. Die Geschädigte
habe vor Arbeitsgericht erklärt, dass sie die SMS alles andere als freundlich
aufgefasst und dass sie die SMS beantwortet habe, um dem Beschwerdeführer
gegenüber keine Angst zu zeigen. Diese SMS liessen keine ernsthaften Zweifel an
der Belastung der Geschädigten aufkommen. Auch die nicht wörtliche Wiederholung
in den verschiedenen Einvernahmen lasse die Darstellung der Geschädigten nicht
als widersprüchlich erscheinen. Vor Arbeitsgericht habe die Geschädigte
verneint, dass der Beschwerdeführer versucht habe, sie zu einer bestimmten
Aussage zu bewegen. Das werde ihm in der Anklage auch nicht vorgeworfen.
Vielmehr sei es ihm darum gegangen, die Geschädigte davon abzuhalten, als
Zeugin zu erscheinen und auszusagen. Hätte er sie lediglich aufgefordert, vor
Arbeitsgericht zu erscheinen und die Wahrheit zu sagen, wäre nicht
nachvollziehbar, weshalb sie später zitternd und wie ein Häufchen Elend im Tram
sass. Dass die Zeugin den Inhalt einzelner Drohungen nicht wiedergeben konnte,
spreche nicht gegen deren Glaubhaftigkeit (angefochtenes Urteil S. 34 f.).

Eine willkürliche Beweiswürdigung oder eine Verletzung des Grundsatzes in dubio
pro reo sind nicht ersichtlich. Die Geschädigte schilderte in allen
Einvernahmen ausführlich und übereinstimmend, dass der Beschwerdeführer ihr
erklärt hatte, er befinde sich im "Krieg" mit ihr und sie solle an ihre Kinder
denken. Angesichts der gerichtsnotorischen Vorkommnisse im Bürgerkrieg im
ehemaligen Jugoslawien wusste die Geschädigte, was das bedeutet. Dem
Beschwerdeführer wird nicht vorgeworfen, er habe die Geschädigte zu
Falschaussagen bewegen wollen. Die Geschädigte wie die Zeugin verneinten dies
übereinstimmend. Die Aussagen des Beschwerdeführers stehen im wesentlichen
Punkt im direkten Widerspruch zu jenen der Tatzeugin. Sie sind nicht
nachvollziehbar und wirken phrasenhaft.

2.4 Zum Anspruch auf rechtliches Gehör zählt das Recht auf Abnahme rechtzeitig
und formrichtig angebotener rechtserheblicher Beweismittel. Diese
Verfassungsgarantie steht einer Ablehnung nicht rechtserheblicher Beweismittel
in vorweggenommener Beweiswürdigung nicht entgegen (BGE 134 I 140 E. 5.3). Die
EMRK gewährleistet ein faires Verfahren ("un procès équitable"), reglementiert
aber nicht die Zulässigkeit der Beweismittel als solche. Die Weigerung einen
Zeugen anzuhören, kann die Konvention verletzen, wenn die Gerichte in Willkür
verfallen, insbesondere wenn die Weigerung nicht begründet wird (Urteil des
EGMR in Sachen Bernhard Richard Bacchini gegen Schweiz vom 20. September 2011,
Req. 4008/059). Art. 6 EMRK fordert eine genügende Möglichkeit für den
Angeklagten zur Bestreitung einer Belastung und zur Befragung des Zeugen ("une
occasion adéquate et suffisante de contester un témoinage à charge et d'en
interroger l'auteur"; Urteil des EGMR in Sachen Werz gegen Schweiz vom 17.
Dezember 2009, Req. 22015/05, Ziff. 57). Unter denselben Bedingungen kann er
gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK die Ladung und Vernehmung von
Entlastungszeugen erwirken.

Die Vorinstanz begründet die Abweisung der Beweisanträge (angefochtenes Urteil
S. 36-39). Der Beschwerdeführer wendet dagegen nichts Stichhaltiges ein.
Willkür ist nicht ersichtlich. Es kann auf das Urteil verwiesen werden.

Der Beschwerdeführer konnte seinen Standpunkt darlegen und hatte im Verfahren
die Möglichkeit zur Bestreitung der Belastung und zur konfrontativen Befragung
der Geschädigten und der Tatzeugin. Andere Zeugen können keine
entscheiderhebliche Aussagen zum Gespräch machen. Eine Verletzung der
verfassungs- und konventionsrechtlich gewährleisteten Rechte des
Beschwerdeführers ist zu verneinen.

3.
Die weiteren Rechtsbegehren (oben Bst. C) stehen im Zusammenhang mit einer
Gutheissung der Beschwerde und sind nicht selbstständig begründet. Darauf ist
nicht einzutreten.

Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Ausgangsgemäss
sind die Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit der
Rechtsbegehren abzuweisen (Art. 64 BGG). Die Vorinstanz geht von einer
Mittellosigkeit des Beschwerdeführers aus (angefochtenes Urteil S. 7). Seiner
finanziellen Lage ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen
(Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).

Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos geworden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Juni 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Briw