Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.713/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_713/2012

Urteil vom 19. April 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Ebnöther,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Postfach, 8026 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Widerhandlung gegen das Ausländergesetz,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, vom 16. Oktober 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ ist tunesischer Staatsangehöriger und reiste am 20. Januar 2003 in
die Schweiz ein. Sein Asylgesuch wurde am 16. Mai 2003 vom Bundesamt für
Flüchtlinge (heute Bundesamt für Migration) abgewiesen. Die dagegen bei der
Schweizerischen Asylrekurskommission (heute Bundesverwaltungsgericht) erhobene
Beschwerde blieb erfolglos.

Der Beschwerdeführer heiratete am 1. Juni 2004 die schweizerische
Staatsangehörige Y.________. In der Folge wurde ihm eine Aufenthaltsbewilligung
zum Verbleib bei der Ehefrau erteilt. Am 11. Juni 2005 wurde der
Beschwerdeführer Vater des ausserehelichen Kindes A.________. Er anerkannte
seinen Sohn am 20. Juni 2005. Die Ehe mit Y.________ wurde am 19. Juni 2006
geschieden.

Das Bundesamt für Migration wies am 10. März 2008 das Gesuch des
Beschwerdeführers um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ab. Von Oktober
bis Ende Dezember 2010 verbüsste er eine Bestrafung wegen rechtswidrigen
Aufenthalts in der Schweiz. Das Migrationsamt des Kantons Zürich forderte den
Beschwerdeführer am 24. Dezember 2010 auf, innerhalb von 48 Stunden nach seiner
Entlassung aus dem Strafvollzug am 31. Dezember 2010 die Schweiz selbständig zu
verlassen.

Noch während des Strafvollzugs reichte der Beschwerdeführer am 13. Dezember
2010 beim Zivilstandsamt der Stadt Zürich ein Gesuch um Vorbereitung der
Eheschliessung mit der in der Schweiz niedergelassenen portugiesischen
Staatsangehörigen Z.________ ein. Am 1. Juni 2011 stellte er beim Migrationsamt
des Kantons Zürich ein neues Gesuch um Erteilung der Aufenthaltsbewilligung,
welche ihm schliesslich am 5. Dezember 2011 gewährt wurde.

B.
Das Bezirksgericht Zürich sah es als erwiesen an, dass sich der
Beschwerdeführer nach Ablauf der Ausreisefrist vom 3. Januar bis 30. Juni 2011
illegal in der Schweiz aufgehalten hatte. Es verurteilte ihn am 6. Juni 2012
wegen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz zu 60 Tagen Freiheitsstrafe.
Deren Vollzug schob es auf und setzte die Probezeit auf drei Jahre fest. Sowohl
der Beschwerdeführer wie auch die Staatsanwaltschaft erhoben Berufung. Das
Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 16. Oktober 2012 den
erstinstanzlichen Schuldspruch und verurteilte den Beschwerdeführer zu einer
unbedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 60.--.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das vorinstanzliche
Urteil sei aufzuheben, und er sei vom Vorwurf der Widerhandlung gegen das
Ausländergesetz freizusprechen.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Bestrafung wegen rechtswidrigen
Aufenthalts widerspreche der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union.
1.2
Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung
diesen Einwand verworfen.
1.3
Die EU-Rückführungsrichtlinie räumt dem verwaltungsrechtlichen
Rückführungsverfahren den Vorrang vor strafrechtlichen Sanktionen ein. Hält
sich ein Drittstaatsangehöriger widerrechtlich in einem Schengen-Staat auf, ist
der betreffende Staat verpflichtet, die geeigneten Vorkehren für eine effektive
Rückführung in die Wege zu leiten. Er soll sich nicht darauf beschränken
können, mit einer Strafandrohung oder einer Bestrafung wegen rechtswidrigen
Aufenthalts bloss indirekt Druck auf den Drittstaatsangehörigen auszuüben,
damit dieser das Land unkontrolliert verlässt, sich aber weiterhin im
Schengen-Raum aufhält. Nach den Intentionen der EU-Rückführungsrichtlinie soll
dies vermieden und der Drittstaatsangehörige effektiv in sein Heimatland
ausgeschafft werden.

1.4 Das Bundesgericht hat sich ausführlich mit der Anwendung der Richtlinie
2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008
über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung
illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008,
S. 98 ff.; nachfolgend EU-Rückführungsrichtlinie) und dem Verhältnis zur
innerstaatlichen Strafbarkeit des rechtswidrigen Aufenthalts befasst. Auf diese
grundlegenden Ausführungen kann verwiesen werden (vgl. Urteil 6B_196/2012 vom
24. Januar 2013 E. 2). Das Bundesgericht hielt fest, dass nach der
EU-Rückführungsrichtlinie nationale Strafbestimmungen dort nicht ausgeschlossen
sind, wo im verwaltungsrechtlichen Verfahren alles für den Vollzug der
Rückkehrentscheidung Zumutbare vorgekehrt worden ist, dieser indessen am
Verhalten des Betroffenen scheitert (vgl. dazu auch Urteil 6B_188/2012 mit
Hinweisen sowie Urteile 6B_617/2012 und 6B_618/2012). Eine Bestrafung wegen
rechtswidrigen Aufenthalts kommt somit nur infrage, wenn die Ausreise objektiv
möglich ist (Urteil 6B_482/2010 E. 3.2.2 und 3.2.3) und zuvor ein
administratives Rückführungsverfahren in die Wege geleitet worden ist oder sich
ein derartiges Verfahren von vornherein als undurchführbar erweist.

1.5 Die Vorinstanz räumt ein, dass gegen den Beschwerdeführer keine
ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen angeordnet wurden (Urteil, S. 7) und
begründete ihre Verurteilung allein damit, dass er von Anfang und mit aller
Deutlichkeit erklärt habe, die Schweiz nicht verlassen zu wollen, obwohl ihm
dies objektiv möglich gewesen wäre (Urteil, S. 8). Damit lässt sich der
Schuldspruch unter Berücksichtigung der EU-Rückführungsrichtlinie nicht
begründen. Den Akten, nicht aber dem angefochtenen Urteil, lässt sich jedoch
entnehmen, dass der Beschwerdeführer ein erstes Mal bereits im Jahr 2001
zwangsweise ausgeschafft wurde und das Migrationsamt des Kantons Zürich bereits
am 29. März 2009 gegenüber dem Beschwerdeführer eine Wegweisungsverfügung
erliess und die Kantonspolizei Zürich mit dem Vollzug der Ausschaffung
beauftragte (Akten Vorinstanz 22/20). Die Ausschaffung konnte nicht vollzogen
werden, weil der Beschwerdeführer in der Zwischenzeit untergetaucht war und
erst am 30. Juni 2011 festgenommen werden konnte (Akten Vorinstanz 22/2). Das
Migrationsamt hatte somit im verwaltungsrechtlichen Verfahren alles für den
Vollzug der Rückführung Zumutbare vorgekehrt. Die Rückführung war indessen am
Verhalten des Beschwerdeführers gescheitert. Seine Bestrafung wegen
rechtswidrigen Aufenthalts erweist sich auch unter Mitberücksichtigung der
EU-Rückführungsrichtlinie als bundesrechtskonform. Die Beschwerde ist
abzuweisen.

2.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren
aussichtslos erschienen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei
der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. April 2013
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller