Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.684/2012
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2012
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2012


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_684/2012

Urteil vom 15. Mai 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Y.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510
Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz; Beweiswürdigung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18.
Juli 2012.

Sachverhalt:

A.
Die Kantonspolizei Thurgau führte am 27. Mai 2009 in einer Wohnung in
Affeltrangen gestützt auf einen untersuchungsrichterlichen Befehl eine
Hausdurchsuchung durch. Sie stellte dabei diverse Gegenstände, Bargeld und
Betäubungsmittel sicher. Die Durchsuchung ergab zudem, dass neben einer kurz
zuvor in Winterthur festgenommenen Person noch eine weitere in der Wohnung
logierte. Am folgenden Morgen führte die Polizei um 06.45 Uhr ohne
entsprechenden Befehl eine weitere Hausdurchsuchung durch. Sie traf den
schlafenden X.________ an und nahm ihn fest. In seiner Jacke befanden sich Fr.
2'680.-- und Euro 510.--. Zudem stellte sie in seinem Rucksack Fr. 1'280.--
jeweils in einer für den Drogenhandel üblichen Stückelung sicher. Der
Untersuchungsrichter stellte nachträglich per Fax einen Durchsuchungsbefehl
aus. Beim Vollzug dieses Befehls fand die Polizei in der Wohnung keine weiteren
Beweismittel. X.________ gestand im Lauf des anschliessenden
Untersuchungsverfahrens, im April und Mai 2009 rund 300 Gramm Heroin an
verschiedene Personen verkauft zu haben. Nach drei Monaten Untersuchungshaft
wurde er fremdenpolizeilich ausgeschafft.

B.
Das Bezirksgericht Weinfelden verurteilte X.________ am 13. Dezember 2011 wegen
qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer
teilbedingten Freiheitsstrafe von 21 Monaten. Den Vollzug von 15 Monaten schob
es bei einer Probezeit von vier Jahren auf.
Auf Berufung des Verurteilten hin bestätigte das Obergericht des Kantons
Thurgau am 18. Juli 2012 den Schuldspruch und die Sanktion.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und eventualiter
"Verfassungsbeschwerde". Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei
aufzuheben, und er sei freizusprechen. Er ersucht um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung.

Erwägungen:

1.
Mit Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG kann grundsätzlich jede
Rechtsverletzung geltend gemacht werden, die bei der Anwendung von materiellem
Strafrecht oder Strafprozessrecht begangen wird (BGE 134 IV 36 E. 1.4.3 S. 41).
Dies gilt auch für die Verletzung von Verfassungsrecht (Art. 95 lit. a BGG).
Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist somit ausgeschlossen (Art. 113 BGG).
Sie ist als Beschwerde in Strafsachen entgegenzunehmen. Im Übrigen ist auf sie
nicht einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz habe die Verwertbarkeit des
Beweismaterials nicht nach der Schweizerischen Strafprozessordnung, sondern
nach kantonalem Recht überprüft. Die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5.
Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) sei auf hängige Verfahren sofort anwendbar. Auch
die Verwertbarkeit des Beweismaterials sei deshalb nicht nach altem Recht zu
prüfen. Nach diesem sei lediglich die Gültigkeit altrechtlicher
Verfahrenshandlungen zu beurteilen. Die Gültigkeit von Beweiserhebungen sei
nicht mit der Verwertbarkeit des gewonnenen Beweismaterials gleichzusetzen.
Art. 448 Abs. 2 StPO spreche denn auch nicht von der Verwertbarkeit von
Beweisen. Die Vorinstanz verletze dadurch Bundesrecht (Beschwerde, S. 9 und 11
f.).

2.2 Die Vorinstanz erwägt, die Strafsache sei vor Inkrafttreten der
Schweizerischen Strafprozessordnung anhängig gemacht worden. Die Gültigkeit der
im Strafverfahren erhobenen Beweise beurteile sich daher anhand des kantonalen
Verfahrensrechts, das auch für die Folgen einer allfälligen Ungültigkeit der
Verfahrenshandlungen massgebend sei (Urteil, S. 7).

2.3 Die Übergangsbestimmungen der StPO basieren auf dem Grundsatz, die
bisherigen Verfahrensordnungen von Bund und Kantonen möglichst rasch zu
ersetzen (BGE 137 IV 352 E. 1.2 mit Hinweis auf die bundesrätliche Botschaft).
Art. 448 Abs. 1 StPO legt dementsprechend fest, dass Verfahren, die bei
Inkrafttreten der StPO hängig sind, nach neuem Recht fortgeführt werden, es sei
denn, die nachfolgenden Bestimmungen sähen etwas anderes vor. Eine vom
Grundsatz abweichende Bestimmung bildet Art. 448 Abs. 2 StPO. Danach behalten
Verfahrenshandlungen, die vor Inkrafttreten der StPO angeordnet oder
durchgeführt worden sind, ihre Gültigkeit. Dieser Grundsatz gilt auch für die
Verwertbarkeit und für die Folgen der Ungültigkeit altrechtlich erhobener
Beweise (HANSPETER USTER, in: Basler Kommentar StPO, Art. 448 N. 3; NIKLAUS
SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, Art. 448 N
5). Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, indem sie zur Beurteilung der
Rechtmässigkeit und Verwertbarkeit der Beweiserhebungen das Gesetz des Kantons
Thurgau über die Strafrechtspflege (Strafprozessordnung) vom 30. Juni 1970/5.
November 1991 (nachfolgend: StPO/TG) anwendet.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer rügt, das gesamte Beweismaterial gegen ihn sei nicht
verwertbar, weil die Kantonspolizei Thurgau dieses ohne Tatverdacht, Haft- und
Hausdurchsuchungsbefehl erlangt habe (Beschwerde, S. 3 ff.). Ohne dringenden
Tatverdacht sei auch die an die Hausdurchsuchung anschliessende
Untersuchungshaft rechtswidrig. Dies schliesse die Verwertung des ganzen in
dieser Zeit gewonnenen Belastungsmaterials, insbesondere auch seines
Geständnisses, aus. Eine Interessenabwägung müsse unterbleiben, da die Beweise
absolut unverwertbar seien (Beschwerde, S. 9 f. und S. 12-19). Mangels
Tatverdacht wäre der Polizei nur eine zufällige Personenkontrolle ausserhalb
der Wohnung möglich gewesen. Zudem sei höchst unwahrscheinlich, dass sie die in
der Wohnung sichergestellten Gegenstände auch ausserhalb hätte erlangen können.
Theoretische Ermittlungserfolge mit minimaler Erfolgschance könnten einem
Beweisverwertungsverbot nicht die Fernwirkung entziehen (Beschwerde, S. 10 und
S. 19-24).
3.2
3.2.1 Die Vorinstanz führt aus, die Durchsuchung einer Wohnung könne bei
begründetem Verdacht angeordnet werden, wobei nicht allzu hohe Anforderungen an
die Verdachtsmomente gestellt werden dürften. Wie die Polizeibeamten in die
Wohnung gekommen seien, stehe nicht fest. Es habe kein Haftbefehl vorgelegen.
Zudem gebe es keine Hinweise, dass der Untersuchungsrichter mündliche Weisungen
erteilt hätte, obwohl er an der tags zuvor durchgeführten Durchsuchung dabei
gewesen sei und Kenntnis gehabt habe, dass eine weitere Person in der Wohnung
logiert habe. Der Durchsuchungsbefehl für den Vortag habe sich gegen eine
einzige unbekannte Person gerichtet. Das erneute Eindringen in die Wohnung
lasse sich auch nicht auf § 110 StPO/TG über die vorläufige Festnahme stützen.
Die Bewilligung des Untersuchungsrichters hätte bereits nach der ersten
Hausdurchsuchung eingeholt werden müssen. Es habe am Morgen des 28. Mai 2009
somit weder "Gefahr in Verzug" noch ein dringender Tatverdacht gegen den
Beschwerdeführer bestanden. Eine Grundlage finde sich auch nicht im kantonalen
Polizeigesetz, da weder eine schwerwiegende und unmittelbare Störung der
öffentlichen Ordnung, noch eine Selbst- oder Drittgefährdung vorgelegen habe
(Urteil, S. 14 ff.).
3.2.2 Die Vorinstanz hält weiter fest, rechtswidrig erlangte Beweismittel seien
nicht in jedem Fall unverwertbar. Es sei eine Interessenabwägung zwischen der
verübten Straftat und dem Interesse des Beschuldigten vorzunehmen. Vorliegend
überwiege das private Interesse an der Unverwertbarkeit der Beweismittel, da
die Betäubungsmitteldelikte auch mit weniger einschneidenden Massnahmen hätten
aufgeklärt werden können. Die Polizei hätte beispielsweise warten können, bis
der Beschwerdeführer das Haus wieder verlassen hätte, um ihn festzunehmen. Die
Vorinstanz verneint allerdings die Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots.
Das wiederholte Geständnis des Beschwerdeführers sei massgebend für seine
Verurteilung. Er habe mehrere Wochen in der Schweiz gelebt, ohne legal Geld zu
verdienen. Sein Geständnis, mit Drogen gehandelt zu haben, erkläre, wie er
seinen Lebensunterhalt habe bestreiten können. Die nicht bewilligte
Durchsuchung der Wohnung und die Verhaftung des Beschwerdeführers ohne
Haftbefehl bildeten keine "conditio sine qua non" für dessen Geständnis,
weshalb dieses verwertbar sei (Urteil, S. 18 ff.).
3.3
3.3.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind rechtswidrig erlangte
Beweismittel verfassungsrechtlich nicht in jedem Fall ausgeschlossen.
Massgebend sind die Schwere des Delikts und die Frage, ob das Beweismittel an
sich zulässig und auch auf gesetzmässigem Weg zu erlangen gewesen wäre. Es
bedarf einer Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der
Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten Person, dass der
fragliche Beweis unterbleibt (BGE 137 I 218 E. 2.3.4 mit zahlreichen
Hinweisen). Beim Verwertungsverbot bleibt es namentlich, wenn bei der
streitigen Untersuchungsmassnahme ein Rechtsgut verletzt wurde, das im
konkreten Fall den Vorrang vor dem Interesse an der Durchsetzung des
Strafrechts verdient. Im Rahmen dieser Prüfung ist in rechtlicher Hinsicht
sowohl den tangierten Freiheitsrechten als auch dem Grundsatz des fairen
Verfahrens Rechnung zu tragen.
3.3.2 Die Vorinstanz geht unbestrittenermassen und zu Recht davon aus, dass die
Beweismittel im vorliegenden Verfahren rechtswidrig erlangt wurden. Ist die
Rechtswidrigkeit nicht mehr fraglich, muss geprüft werden, ob die Verwertung
des betreffenden Beweises vor dem Fairnessgebot standhält (hierzu BGE 137 I 218
E. 2.3.4 mit Hinweisen). Die Vorinstanz nimmt eine Interessenabwägung im Sinne
der dargelegten Praxis vor und gewichtet die privaten Interessen des
Beschwerdeführers höher. Entsprechend stuft sie die polizeilich erlangten
Beweismittel als nicht verwertbar ein.
Der Beschwerdeführer folgert daraus zu Unrecht, dass damit das gesamte in
dieser Zeit gewonnene Belastungsmaterial und sein Geständnis unverwertbar sind.
Folgebeweise, die im Anschluss an die rechtswidrige Beschaffung eines primären
Beweismittels an sich legal erhoben werden, sind unverwertbar, wenn sie ohne
den rechtswidrig beschafften primären Beweis nicht hätten erhältlich gemacht
werden können (BGE 138 IV 169 E. 3.1 mit Hinweisen; BGE 134 IV 266 E. 5.3.2;
137 I 218 E. 2.4). Von der Unverwertbarkeit ist auszugehen, wenn "der
ursprüngliche, ungültige Beweis Bestandteil sine qua non des mittelbar
erlangten Beweises ist" (BGE 138 IV 169 E. 3.1 mit Hinweisen). Die gleichen
Grundsätze sind in der - vorliegend noch nicht anwendbaren - StPO verankert.
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung unterscheidet für die Frage der
Verwertbarkeit von Folgebeweisen nicht danach, ob der Grund für die
Unverwertbarkeit des Primärbeweises ein absolutes oder ein relatives
Beweisverwertungsverbot ist (BGE 138 IV 169; 133 IV 329). Es ist nicht zu
beanstanden, wenn die Vorinstanz zum Schluss gelangt, die Tatvorwürfe liessen
sich auf die glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers abstützen, ohne die
Erkenntnisse aus der Wohnungsdurchsuchung zu berücksichtigen. Die Verhaftung in
der Wohnung stellt keine "conditio sine qua non" für das spätere Geständnis des
Beschwerdeführers dar, weshalb die Vorinstanz eine Unverwertbarkeit sämtlicher
Beweismittel zutreffend ablehnte.

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei
diesem Verfahrensausgang sind die bundesgerichtlichen Kosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde von
vornherein aussichtslos erschien. Seiner finanziellen Lage ist mit
herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Mai 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben