Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.658/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_658/2012

Urteil vom 2. Mai 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Konrad Jeker,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Wiederaufnahme (Fahrlässige Tötung, schwere Körperverletzung etc.); Willkür,
rechtliches Gehör; unentgeltliche Rechtspflege,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer,
vom 20. September 2012.

Sachverhalt:

A.
Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte X.________ im Berufungsverfahren
am 23. Juni 2010 als Zusatzstrafe zu einem Urteil des Militärgerichts 7 wegen
fahrlässiger Tötung, schwerer Körperverletzung sowie Raufhandels zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren und 356 Tagen. Die dagegen erhobene Beschwerde
von X.________ wies das Bundesgericht am 4. April 2011 ab, soweit es darauf
eintrat (Verfahren 6B_758/2010).

B.
Ein von X.________ gestelltes Wiederaufnahmegesuch wies das Obergericht des
Kantons Aargau am 20. September 2012 ab.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das Urteil des
Obergerichts vom 20. September 2012 sei aufzuheben und die Strafsache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 385 StGB und eine
willkürliche Anwendung kantonalen Prozessrechts (Art. 230 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/
AG). Er macht geltend, indem die Vorinstanz die beantragten Zeugeneinvernahmen
abweise, habe sie ihm verunmöglicht, bestehende Revisionsgründe glaubhaft zu
machen und verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV).
Aufgrund der Aussagen der beantragten Zeugen, die allesamt anerkannte Mediziner
auf dem Gebiet der sich stellenden Sachfragen der Neurochirurgie seien, ergäben
sich ernsthafte Zweifel an der Vollständigkeit und Fundiertheit des
gerichtsmedizinischen Gutachtens, auf deren Grundlage der Beschwerdeführer
verurteilt worden ist. Dr. B.________, Oberarzt der Intensivmedizin am
Kantonsspital Aargau (KSA) habe ihm gegenüber bestätigt, dass die Akten der
Intensivmedizin weder den damaligen Gutachtern des Instituts für Rechtsmedizin
der Universität Bern (IRM Bern) noch dem Berufungsgericht zur Verfügung
gestanden hätten. Zudem belegten öffentliche Aussagen zweier in Europa
führender Neurochirurgen, dass die gutachterlichen Schlussfolgerungen unhaltbar
seien.

1.2 Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer habe die Rüge, das Gutachten
basiere auf unvollständigen medizinischen Unterlagen, bereits im
Berufungsverfahren erhoben. Es handle sich insoweit um keine neue Tatsache.
Zudem gingen seine Vorbringen an der Sache vorbei. Sämtliche vom
Beschwerdeführer (und dem Zeugen Dr. B.________) angeblich nicht
berücksichtigten Abläufe und Behandlungen im KSA seien im Gutachten
berücksichtigt worden, weshalb es offensichtlich auf den entsprechenden (und
vollständigen) Unterlagen basiere. Aufgrund der sich bei den Akten befindlichen
medizinischen Unterlagen des KSA, die dem IRM Bern zugestellt worden seien,
habe das Obergericht im Berufungsurteil festgehalten, den Gutachtern hätten
sämtliche Akten zur Verfügung gestanden. Auf die entsprechenden Erwägungen, die
zudem vom Bundesgericht bestätigt worden seien, könne verwiesen werden.
Hiergegen vermöge der Beschwerdeführer nichts Neues vorzubringen (angefochtenes
Urteil E. 3.1.2 S. 12 f.).
Soweit sich der Beschwerdeführer auf die vom gerichtsmedizinischen Gutachten
abweichenden Meinungen der Neurochirurgen Prof. Dr. med. C.________ und Prof.
Dr. med. D.________ berufe, handle es sich (ebenfalls) nicht um Noven. Der
Beschwerdeführer habe mit den gleichen Vorbringen bereits im Berufungsverfahren
nicht durchdringen können (angefochtenes Urteil E. 3.2.2 S. 14).
1.3
1.3.1 Das obergerichtliche Urteil, dessen Wiederaufnahme beantragt wird, wurde
am 23. Juni 2010 und somit vor Inkrafttreten der Schweizerischen
Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 gefällt. Die Vorinstanz beurteilt das
Wiederaufnahmegesuch zutreffend nach den Vorschriften der aargauischen
Prozessordnung (Art. 453 Abs. 1 StPO).
1.3.2 Gemäss Art. 230 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/AG kann gegen jedes rechtskräftige
Strafurteil die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt werden, wenn erhebliche
Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die dem Gericht zur Zeit des früheren
Verfahrens nicht bekannt waren und die allein oder zusammen mit den früher
festgestellten Tatsachen geeignet sind, die Freisprechung des Verurteilten oder
eine erheblich geringere Bestrafung herbeizuführen oder eine andere Beurteilung
des Zivilpunktes zu bewirken. Die Vorschrift entspricht inhaltlich Art. 385
StGB und Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO.
Unter Tatsachen sind Umstände zu verstehen, die im Rahmen des dem Urteil zu
Grunde liegenden Sachverhalts von Bedeutung sind. Mit Beweismitteln wird der
Nachweis von Tatsachen erbracht. Eine Meinung, eine persönliche Würdigung oder
eine neue Rechtsauffassung vermag die Wiederaufnahme nicht zu rechtfertigen (
BGE 137 IV 59 E. 5.1.1 S. 66). Erforderlich sind erhebliche neue Tatsachen oder
Beweismittel, die geeignet sind, die Beweisgrundlage des früheren Urteils so zu
erschüttern, dass aufgrund des veränderten Sachverhalts ein wesentlich milderes
Urteil möglich ist (BGE 130 IV 72 E. 1 S. 73; 122 IV 66 E. 2a S. 67 f.; je mit
Hinweisen). Die Wahrscheinlichkeit einer Abänderung des früheren Urteils genügt
für die Zulassung der Revision. Deren Nachweis darf nicht dadurch verunmöglicht
werden, dass ein jeden begründeten Zweifel ausschliessender Beweis für die neue
Tatsache verlangt wird (BGE 116 IV 353 E. 4e S. 360 f.).
Ob eine Tatsache oder ein Beweismittel geeignet ist, die tatsächlichen
Grundlagen des Urteils zu erschüttern, dessen Revision verlangt wird, ist eine
Tatfrage (BGE 130 IV 72 E. 1 S. 73; 116 IV 353 E. 2b S. 356; je mit Hinweisen).
Rechtsfrage ist hingegen, ob die voraussichtliche Veränderung der tatsächlichen
Grundlagen rechtlich relevant ist, d.h. zu einem im Schuld- oder Strafpunkt für
den Verurteilten günstigeren Urteil führen kann (BGE 130 IV 72 E. 1 S. 73; 122
IV 66 E. 2a S. 67 f.; je mit Hinweisen).
1.3.3 Wird die Verletzung von Grundrechten - einschliesslich Willkür bei der
Sachverhaltsfeststellung - (zum Begriff der Willkür vgl. BGE 138 I 49 E. 7.1 S.
51) gerügt, gelten qualifizierte Begründungsanforderungen (BGE 138 IV 13 E. 2
S. 15). Anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids ist darzulegen,
inwiefern verfassungsmässige Rechte verletzt worden sein sollen (Art. 106 Abs.
2 BGG; BGE 136 I 65 E. 1.3.1 S. 68). Auf eine rein appellatorische Kritik am
angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3
S. 4; 136 II 489 E. 2.8 S. 494).
1.4
1.4.1 Die Rügen des Beschwerdeführers an der Beweiswürdigung hinsichtlich Noven
und deren Erheblichkeit gehen an der Sache vorbei. Soweit er geltend macht, das
Gutachten leide an formellen Mängeln, da den Gutachtern nicht die vollständigen
medizinischen Akten zur Verfügung gestanden hätten, wiederholt er dieselben
Vorbringen, die er bereits im Berufungsverfahren und in seiner anschliessenden
Beschwerde ans Bundesgericht (Verfahren 6B_758/2010) vorgebracht hat.
Der Vorwurf, die Vorinstanz habe eine Beweiswürdigung verunmöglicht, da sie die
beantragten Beweismittel nicht erhoben habe, ist unzutreffend. Der
Beschwerdeführer verkennt, dass die Vorinstanz in antizipierter Beweiswürdigung
die Erheblichkeit der neuen Beweismittel verneint hat. Zwar entsteht auf Grund
der Formulierung der Eindruck, sie habe die Wiederaufnahme des Verfahrens
mangels neuer Tatsachen verweigert. Aus den Erwägungen ergibt sich jedoch ohne
weiteres, dass sie die (allfällige) Aussage von Dr. B.________, die Akten der
Intensivmedizin hätten weder den damaligen Gutachtern noch dem Berufungsgericht
zur Verfügung gestanden, aufgrund der Verfahrensakten und des Inhalts des
gerichtsmedizinischen Gutachtens als widerlegt ansieht. Sie zeigt mit
hinreichender Begründung unter Verweis auf die kantonalen Akten und das
Gutachten auf, weshalb von einer Aussage von Dr. B.________ kein weiterer
sachrelevanter Erkenntnisgewinn zu erwarten ist und eine Einvernahme nichts am
Beweisergebnis ändern kann. Inwiefern es willkürlich sein soll, die Aussage
aufgrund der Aktenlage als widerlegt und demnach als nicht erheblich anzusehen,
ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht dargelegt.
Dieser setzt sich mit den vorinstanzlichen Erwägungen - wenn überhaupt - nur
rudimentär auseinander und beschränkt sich darauf, den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz seine eigene Sicht der Dinge entgegenzuhalten.
Damit erschöpft sich die Beschwerde weitgehend in appellatorischer Kritik am
angefochtenen Urteil, die nicht geeignet ist, die Vorwürfe der willkürlichen
antizipierten Beweiswürdigung zu begründen (Art. 106 Abs. 2 BGG). Die Rügen
sind unbegründet, soweit sie überhaupt den Begründungsanforderungen von Art. 42
Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG genügen.
1.4.2 Dass die Neurochirurgen Prof. Dr. med. C.________ und Prof. Dr. med.
D.________ eine vom gerichtsmedizinischen Gutachten abweichende Meinung zur
Todesursache von A.________ vertreten, vermag dessen Schlüssigkeit nicht in
Zweifel zu ziehen und lässt die vorinstanzliche Würdigung nicht willkürlich
erscheinen. Andere Meinungen oder Würdigungen können nur dann einen
Revisionsgrund darstellen, wenn sie mit überlegenen Gründen vom ersten
Gutachten abweichen und klare Fehler des früheren Gutachtens aufzeigen, die
geeignet sind, die Beweisgrundlage des ersten Urteils zu erschüttern (Urteile
6P.93/2004 vom 15. November 2004 E. 4; 6S.452/2004 vom 1. Oktober 2005 E. 2.2;
6B_539/2008 vom 8. Oktober 2008 E. 1.3). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Die Vorinstanz hatte deshalb keine Veranlassung, die Mediziner als
(sachverständige) Zeugen zu befragen. Diese leiten ihre Schlussfolgerungen auch
nicht aus Erkenntnissen ab, die den Gutachtern im Zeitpunkt der Begutachtung
nicht bekannt waren oder auf neuen, überlegenen medizinischen Erkenntnissen
beruhen. Die gutachterliche Diagnosestellung ist umfassend und wurde anlässlich
der Berufungsverhandlung durch zwei weitere Sachverständige bestätigt. Die
Vorinstanz konnte willkürfrei am Gutachten des IRM Bern festhalten. Die
vorinstanzliche Beweiswürdigung und Sachverhaltsfeststellung verstösst nicht
gegen Art. 385 StGB.

1.5 Vor dem Hintergrund der willkürfreien Beweiswürdigung erweisen sich die
Rügen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des kantonalen
Prozessrechts (Art. 230 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/AG) als unbegründet. Darüber hinaus
hätte deren Verletzung klar und substantiiert begründet werden müssen (Art. 42
Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 137 IV E. 4.2.3; 136 I E. 1.3.1; je mit
Hinweisen), was der Beschwerdeführer unterlassen hat.

2.
Auf die Rüge, die Vorinstanz verletze Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit.
c EMRK, da sie sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wegen anfänglicher
Aussichtslosigkeit zu Unrecht abgewiesen und ihm die Ablehnung erst mit der
Urteilseröffnung mitgeteilt habe, ist nicht einzutreten. Die EMRK ist auf das
Revisionsverfahren nicht anwendbar (Stephan Gass, in: Basler Kommentar,
Strafrecht II, 2. Aufl. 2007, N. 66 zu Art. 385, mit Hinweis). Zudem geht aus
der Beschwerde nicht hervor, inwiefern die Vorinstanz Art. 29 Abs. 3 BV
willkürlich ausgelegt haben soll (vgl. vorstehend E. 1.5).

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist abzuweisen, da die
Beschwerde von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 BGG e contrario).
Der Beschwerdeführer wird ausgangsgemäss kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Seinen finanziellen Verhältnissen ist bei der Bemessung der Gerichtskosten
Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. Mai 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held

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