Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.634/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_634/2012

Urteil vom 11. April 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Fürsprech und Notar Dr. Urs Tschaggelar,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse
28, 4502 Solothurn,
2. Y.________,
vertreten durch Advokat Dr. Matthias Aeberli,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Einfache Körperverletzung; Willkür,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Solothurn, Strafkammer, vom 21. September 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ und Y.________ erhoben Einsprache gegen die von der
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn aufgrund einer verbalen und
körperlichen Auseinandersetzung erlassenen Strafbefehle wegen Drohung
respektive einfacher Körperverletzung. Am 29. August 2011 verurteilte das
Amtsgericht Solothurn-Lebern X.________ wegen Drohung zu einer Geldstrafe von
15 Tagessätzen zu je Fr. 90.-- und Y.________ wegen einfacher Körperverletzung
zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je Fr. 60.--. Die Gerichtskosten
auferlegte es beiden zu gleichen Teilen.

B.
Y.________ und X.________ meldeten Berufung gegen das Urteil an, wobei
letzterer seine Berufung am 15. September 2011 wieder zurückzog. Der Präsident
der Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn wies am 8. Dezember 2011
den Antrag von Y.________ auf Zeugeneinvernahme u.a. mit Hinweis auf Art. 406
Abs. 1 lit. a StPO ab. Die Berufung werde im schriftlichen Verfahren behandelt,
da ausschliesslich Rechtsfragen zu beurteilen seien. Innert angesetzter Frist
erklärte sich Y.________ ausdrücklich mit der Durchführung des schriftlichen
Verfahrens einverstanden. X.________ erhob hiergegen keine Einwände. Am 21.
September 2012 sprach das Obergericht Y.________ vom Vorwurf der einfachen
Körperverletzung frei. Es verurteilte X.________ zur Zahlung einer
Parteientschädigung von Fr. 6'273.05 und auferlegte ihm sämtliche
Verfahrenskosten erster und zweiter Instanz.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt sinngemäss, das
obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und der Schuldspruch des Amtsgerichts
Solothurn-Lebern gegen Y.________ wegen einfacher Körperverletzung zu
bestätigen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Er
ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

D.
Die Staatsanwaltschaft hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Obergericht
und Y.________ beantragen die Abweisung der Beschwerde. X.________ hält in
seiner Replik an den Anträgen fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, im vorinstanzlichen Verfahren sei es
ausschliesslich um die Rechtsfrage des Notwehrexzesses gegangen. Der
Sachverhalt des erstinstanzlichen Urteils sei vom Beschwerdegegner weder
bestritten noch angefochten. Die Vorinstanz weiche in willkürlicher Weise von
den erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen ab und bejahe zu Unrecht eine
Notwehrsituation zu Gunsten des Beschwerdegegners.

1.2 Die Vorinstanz erwägt, der erstinstanzlich festgestellte Sachverhalt werde
in der Berufungserklärung als zutreffend bezeichnet und sei somit mangels
Anfechtung grundsätzlich nicht zu überprüfen. Das Gericht könne aber zugunsten
der beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüfen, um
gesetzwidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern (Art. 404 Abs. 2
StPO). Das erstinstanzliche Gericht stelle den Sachverhalt teilweise nicht in
Übereinstimmung mit der Anklageschrift fest. Unter Berücksichtigung des
Anklageprinzips sei mit dem Strafbefehl lediglich von drei statt vier
Faustschlägen des Beschwerdegegners ins Gesicht des Beschwerdeführers
auszugehen. Der Fusstritt in den Bauch entfalle. Den Erwägungen des
erstinstanzlichen Gerichts lasse sich nicht entnehmen, ob es davon ausgehe, der
Beschwerdeführer sei - wie in der Anklage beschrieben - nach dem ersten Schlag
zu Boden gegangen. Die erste Instanz stelle auf die Sachverhaltsschilderung der
Zeugin A._________ ab. Diese habe nicht ausgesagt, dass der Beschwerdeführer
gestürzt sei, weshalb davon auszugehen sei, dass die erste Instanz diesen
Sachverhalt als erwiesen erachte.

2.
2.1 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 133 II 249 E.
1.4.1 S. 254). Dabei prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind (BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389; 134 III 102 E. 1.1 S. 104).

2.2 Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) umfasst als
Mitwirkungsrecht alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie
in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (BGE 138 V
125 E. 2.1 S. 127; 137 II 266 E. 3.2 S. 270; je mit Hinweisen).
2.3
2.3.1 Gemäss Art. 404 Abs. 1 StPO überprüft das Berufungsgericht das
erstinstanzliche Urteil nur in den angefochtenen Punkten. Es kann zugunsten der
beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüfen, um
gesetzwidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern (Art. 404 Abs. 2
StPO). Der Eingriff in die Dispositionsmaxime ist in sachlicher Hinsicht auf
die Verhinderung von gesetzeswidrigen oder unbilligen Entscheidungen
beschränkt. Es soll verhindert werden, dass das Berufungsgericht auf einer
materiell unrichtigen Grundlage urteilen muss (Luzius Eugster, in: Basler
Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Basel 2010, N. 4 f. zu Art. 404
StPO). Macht das Berufungsgericht von Art. 404 Abs. 2 StPO Gebrauch, hat es die
Verfahrensbeteiligten vorgängig zu informieren und ihnen Gelegenheit zur
Stellungnahme zu geben (Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung,
Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2009, N. 5 zu Art. 404 StPO; ders., Handbuch
des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen 2009, § 92 S. 713 N.
1562 a.E.).
2.3.2 Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich (Botschaft zur
Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 S.
1316 Ziff. 2.9.3.2 zu Art. 412 StPO). Die Voraussetzungen zur Durchführung
schriftlicher Berufungsverfahren, die nach der Intention des Gesetzgebers die
Ausnahme bleiben sollen (Niklaus Schmid, Praxiskommentar, a.a.O., N. 1 zu Art.
406 StPO), sind abschliessend in Art. 406 StPO geregelt. Die Berufung kann u.a
im schriftlichen Verfahren behandelt werden, wenn ausschliesslich Rechtsfragen
zu entscheiden sind (Art. 406 Abs. 1 lit. a StPO). Gemäss Absatz 2 der Norm
kann die Verfahrensleitung das schriftliche Verfahren mit dem Einverständnis
der Parteien anordnen, wenn die Anwesenheit der beschuldigten Person nicht
erforderlich ist und Urteile eines Einzelgerichts Gegenstand der Berufung sind
(Art. 406 Abs. 2 StPO). Das schriftliche Verfahren richtet sich nach Artikel
390 Absätze 2-4 StPO.

3.
Die Vorinstanz hat das Verfahren in Anwendung von Art. 406 Abs. 1 lit. a StPO
ausschliesslich auf die Beurteilung von Rechtsfragen beschränkt. Macht sie in
diesen Fällen von Art. 404 Abs. 2 StPO Gebrauch, bleibt ihre
Überprüfungskompetenz ebenfalls auf Rechtsfragen beschränkt. Mit der Ausdehnung
des Berufungsverfahrens auf Sachfragen waren die Voraussetzungen zur
Durchführung des schriftlichen Verfahrens vorliegend nicht mehr gegeben, und
die Vorinstanz hätte ins mündliche Verfahren wechseln müssen. Daran ändert auch
das Einverständnis des Beschwerdeführers (und des Beschwerdegegners) nichts,
denn dies bezog sich lediglich auf die Durchführung des schriftlichen
Verfahrens gemäss Art. 406 Abs. 1 lit. a StPO. Indem die Vorinstanz den
Beschwerdeführer (und den Beschwerdegegner) nicht über die Änderung des
Prozessgegenstandes informiert und ihm (ihnen) keine Möglichkeit zur
Stellungnahme eingeräumt hat, verletzt sie Art. 390 Abs. 3 StPO i.V.m. Art. 406
Abs. 4 StPO und Art. 29 Abs. 2 BV. Ob die Voraussetzungen gemäss Art. 404 Abs.
2 StPO für ein Eingreifen in die Dispositionsmaxime von Amtes wegen tatsächlich
erfüllt sind, kann vorliegend offen bleiben.

4.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Gesuch des
Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist infolge
Obsiegens gegenstandslos geworden. Bei diesem Verfahrensausgang ist dem
Beschwerdegegner eine reduzierte Gerichtsgebühr aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1
BGG). Der Kanton Solothurn und der Beschwerdegegner haben Fürsprech Urs
Tschaggelar für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen. Mit dem
Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Strafkammer, vom 21. September 2012 aufgehoben und die Sache zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Der Kanton Solothurn und der Beschwerdegegner haben dem Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers, Fürsprech Urs Tschaggelar, für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- zu zahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. April 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held