Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.618/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_618/2012

Urteil vom 11. März 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, Wildischachenstrasse 14, 5200 Brugg AG,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________, vertreten durch Rechtsanwältin Maja Gehrig,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Rechtswidriger Aufenthalt (Art. 115 Abs. 1 lit. b AuG),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer,
vom 21. August 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ hätte die Schweiz nach dem rechtskräftigen Entscheid des Bundesamtes
für Flüchtlinge per 25. Juli 2002 verlassen müssen. Dies tat sie nicht. Am 27.
Januar 2011 wurde sie wegen rechtswidrigen Aufenthaltes verurteilt.
Die Anklage wirft der Angeschuldigten vor, sich zwischen dem 23. Dezember 2010
und dem 5. Oktober 2011 weiterhin widerrechtlich in der Schweiz aufgehalten zu
haben.

B.
Das Bezirksgericht Brugg verurteilte die Angeschuldigte wegen rechtswidrigen
Aufenthaltes zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten und
widerrief die bedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu Fr. 30.-- vom 27.
Januar 2011.
Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Berufung der Angeschuldigten am
21. August 2012 gut und stellte das Strafverfahren gegen sie ein.

C.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie
beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Angeschuldigte
entsprechend dem Urteil des Bezirksgerichts Brugg zu verurteilen. Eventualiter
sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.
Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet auf eine Stellungnahme.
X.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe zu Unrecht angenommen, das
Rückführungsverfahren habe gegenüber einer Bestrafung wegen illegalen
Aufenthalts Vorrang. Aufgrund des Schengen-Besitzstandes sei die Schweiz
verpflichtet, die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den
Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
(ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98 ff.; nachfolgend:
EU-Rückführungsrichtlinie) zu beachten. Die Schweiz habe sie gemäss der
Beschwerdeführerin in Landesrecht umgesetzt, sich jedoch der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht unterworfen. Die
EU-Rückführungsrichtlinie sehe vor, dass bei der Wegweisung von illegal
anwesenden Personen Zwangsmassnahmen angewendet werden dürften, jedoch nicht
müssten. Eine Verpflichtung bestehe insbesondere nicht, wenn sich sämtliche
Bemühungen des betreffenden Staates als aussichtslos erwiesen, weil die Person
nicht kooperiere. Zudem habe der EuGH lediglich entschieden, dass eine wegen
illegalen Aufenthalts ausgesprochene Strafe die Rückführung nicht verzögern und
damit die praktische Wirksamkeit der EU-Rückführungsrichtlinie nicht
beeinträchtigen dürfe.
Die Beschwerdeführerin bringt vor, nach einem längerem illegalen Aufenthalt
könne eine Freiheitsstrafe die Wegweisung nicht mehr beeinträchtigen, da eine
freiwillige Ausreise nicht stattfinde und eine sofortige Abschiebung nicht zu
erwarten sei. Treffe dieser unwahrscheinliche Fall dennoch ein, könne vom
Opportunitätsprinzip gemäss Art. 115 Abs. 4 des Bundesgesetzes über die
Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) Gebrauch gemacht werden. Es sei
realitätsfremd, wenn die Vorinstanz verlange, die Beschwerdegegnerin zuerst in
Ausschaffungshaft zu versetzen, bevor ihre Straftaten strafrechtlich geahndet
werden könnten. Weder Art. 115 Abs. 4 AuG noch Art. 8 StPO böten eine
Grundlage, das Verfahren einzustellen (Beschwerde, S. 3 ff.).
Die Beschwerdeführerin begründet in ihren weiteren Ausführungen, weshalb die
erste Instanz zu Recht eine unbedingte Freiheitsstrafe von drei Monaten
ausgefällt und die bedingte Vorstrafe widerrufen hat (Beschwerde, S. 8 ff.).

1.2 Die Vorinstanz erwägt, die EU-Rückführungsrichtlinie habe zum Ziel, in den
Mitgliedstaaten das Rückführungsverfahren bei illegal anwesenden Personen aus
Drittstaaten zu vereinheitlichen. Aufgrund des Schengen-Besitzstandes sei die
EU-Rückführungsrichtlinie für die Schweiz verbindlich. Das nationale Recht sei
richtlinienkonform auszulegen, weshalb auch die EuGH-Rechtsprechung zu
berücksichtigen sei. Nationale Vorschriften - auch strafrechtliche Bestimmungen
- dürften die Verwirklichung der EU-Rückführungsrichtlinie nicht gefährden. Die
Schweiz sei daher nicht befugt, eine Freiheitsstrafe allein deshalb zu
verhängen, weil sich ein Drittstaatsangehöriger nach Ablauf der Ausreisefrist
hier illegal aufhalte. Vielmehr hätte sie die Anstrengungen zur Vollstreckung
der Rückkehrentscheidung weiterzuführen. Verlangt werde, dass alles für den
Vollzug der Rückkehrentscheidung Zumutbare vorgekehrt worden sei, die Rückkehr
jedoch am Verhalten des Betroffenen scheitere. Eine innerstaatliche
Sanktionierung sei erst möglich, wenn die höchstzulässige Dauer der
Ausschaffungshaft erreicht und sich die betreffende Person trotz
Zwangsmassnahmen weiterhin illegal in der Schweiz aufhalte (Urteil, S. 6 ff.).
Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau (nachfolgend: MIKA)
habe im Anklagezeitraum nicht alle zumutbaren Schritte unternommen, um die
Wegweisungsverfügung vom 24. Juli 2002 zu vollziehen. Es habe das Bundesamt für
Migration am 7. Februar 2011 gebeten, bei der mongolischen Vertretung einen
Antrag um Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes zu erstellen. Dieser Antrag
sei wenige Tage später deponiert worden. Das MIKA habe nach einem Jahr mittels
Eingrenzungsverfügung den zulässigen Aufenthaltsbereich der Beschwerdegegnerin
auf den Kanton Aargau beschränkt. Zudem habe es in der entsprechenden Verfügung
ausgeführt, dass ihr Verhalten die Anordnung von Durchsetzungshaft
rechtfertige, vorerst jedoch darauf verzichtet werde. Dem MIKA wäre es jedoch
möglich gewesen, bereits im Anklagezeitraum Durchsetzungshaft anzuordnen oder
eine Eingrenzungsverfügung zu erlassen (Urteil, S. 7 f.).

1.3 Das Bundesgericht hat sich mit der Anwendung der EU-Rückführungsrichtlinie
und dem Verhältnis zur innerstaatlichen Sanktionierbarkeit während des
Rückführungsverfahrens befasst. Auf diese grundlegenden Ausführungen kann
verwiesen werden (vgl. Urteil 6B_196/2012 vom 24. Januar 2013 E. 2).

1.4 Gemäss schriftlicher Stellungnahme des Bundesamtes für Migration vom 8.
Oktober 2012 (Beschwerdebeilage, pag. 31 f.) kann ein mongolischer Staatsbürger
freiwillig in die Mongolei zurückkehren. Er muss bei der Botschaft in Genf
vorsprechen und seine Staatsangehörigkeit glaubhaft machen. Eine Beschaffung
von Ausreisepapieren durch die Migrationsbehörden sei zwar möglich. Die
Abklärungen dauerten jedoch selbst bei vorhandenen Dokumenten mehrere Monate
bis Jahre. Zwangsweise Rückführungen in die Mongolei seien noch nie
durchgeführt worden. Durchsetzungshaft könne nur im Einzelfall zur freiwilligen
Rückkehr motivieren.

1.5 Im vorliegenden Fall haben die zuständigen Aargauer Behörden dem Bundesamt
für Migration die notwendigen Anträge zur Papierbeschaffung zugestellt. Das
Verfahren ist jedoch seit mehr als zwei Jahren bei der mongolischen Botschaft
hängig. Die erstinstanzliche Freiheitsstrafe von drei Monaten ist nicht
geeignet, die Rückführung der Beschwerdegegnerin zu verzögern oder zu
verhindern, da sie innert absehbarer Frist lediglich freiwillig zurückkehren
kann. Eine behördlich angeordnete Ausschaffung dauert mehrere Jahre und wurde
in der Praxis noch nie vollzogen. Entgegen der Vorinstanz haben die
Migrationsbehörden die notwendigen Schritte zur Ausschaffung unternommen. Die
Vorinstanz verletzt daher Bundesrecht, indem sie die Beschwerdegegnerin nicht
wegen rechtswidrigen Aufenthalts verurteilt hat.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau
vom 21. August 2012 ist aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin unterliegt mit ihrem Antrag auf kostenfällige Abweisung
der Beschwerde, weshalb sie grundsätzlich kostenpflichtig wird (Art. 66 Abs. 1
BGG). Sie stellt indes ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung, das gutzuheissen ist. Ihre Bedürftigkeit ist ausgewiesen, und
ihr Standpunkt kann nicht als aussichtslos bezeichnet werden, da die Rechtslage
bis anhin unklar war (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Dem Rechtsvertreter der
Beschwerdegegnerin ist für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten. Der Beschwerdeführerin
ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 21. August 2012 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung
an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung wird gutgeheissen. Für das bundesgerichtliche Verfahren wird ihr
Maja Gehrig, Brugg, als unentgeltliche Anwältin beigegeben.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Der Vertreterin der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. März 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller