Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.617/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_617/2012

Urteil vom 11. März 2013
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach, Wildischachenstrasse 14, 5200 Brugg AG,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Donato Del Duca,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Rechtswidrige Einreise (Art. 115 Abs. 1 lit. a AuG), rechtswidriger Aufenthalt
(Art. 115 Abs. 1 lit. b AuG),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer,
vom 14. August 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ wird vorgeworfen, sie sei am 17. August 2010 ohne Visum mit dem
Flugzeug in die Schweiz eingereist und habe sich damit der rechtswidrigen
Einreise schuldig gemacht. Ausserdem habe sie sich nach Ablauf der
rechtskräftigen Ausreisefrist vom 7. Oktober 2010 bis 12. Oktober 2011 illegal
in der Schweiz aufgehalten.

B.
Das Bezirksgericht Brugg verurteilte X.________ am 15. Dezember 2011 wegen
rechtswidriger Einreise und rechtswidrigen Aufenthalts zu einer Freiheitsstrafe
von drei Monaten.
Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Berufung der Angeschuldigten am
14. August 2012 gut und stellte das Strafverfahren gegen sie ein.

C.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie
beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und zur neuen Beurteilung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.
Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet auf eine Stellungnahme.
X.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe zu Unrecht angenommen, das
Rückführungsverfahren habe gegenüber einer Bestrafung wegen illegalen
Aufenthalts Vorrang. Aufgrund des Schengen-Besitzstandes sei die Schweiz
verpflichtet, die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den
Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
(ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98 ff.; nachfolgend:
EU-Rückführungsrichtlinie) zu beachten. Die Schweiz habe sie gemäss der
Beschwerdeführerin in Landesrecht umgesetzt, sich jedoch der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht unterworfen. Die
EU-Rückführungsrichtlinie sehe vor, dass bei der Wegweisung von illegal
anwesenden Personen Zwangsmassnahmen angewendet werden dürften, jedoch nicht
müssten. Eine Verpflichtung bestehe insbesondere nicht, wenn sich sämtliche
Bemühungen des betreffenden Staates als aussichtslos erwiesen, weil die Person
nicht kooperiere. Zudem habe der EuGH lediglich entschieden, dass eine wegen
illegalen Aufenthalts ausgesprochene Strafe die Rückführung nicht verzögern und
damit die praktische Wirksamkeit der EU-Rückführungsrichtlinie nicht
beeinträchtigen dürfe.
Die Beschwerdeführerin bringt vor, nach einem längerem illegalen Aufenthalt
könne eine Freiheitsstrafe die Wegweisung nicht mehr beeinträchtigen, da eine
freiwillige Ausreise nicht stattfinde und eine sofortige Abschiebung nicht zu
erwarten sei. Treffe dieser unwahrscheinliche Fall dennoch ein, könne vom
Opportunitätsprinzip gemäss Art. 115 Abs. 4 des Bundesgesetzes über die
Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) Gebrauch gemacht werden. Es sei
realitätsfremd, wenn die Vorinstanz verlange, die Beschwerdegegnerin zuerst in
Ausschaffungshaft zu versetzen, bevor ihre Straftaten strafrechtlich geahndet
werden könnten. Als äthiopische Staatsangehörige könne die Beschwerdegegnerin
nicht zwangsweise rückgeschafft werden, da die äthiopische Botschaft nur für
freiwillige Rückkehrer ein Einreisedokument ausstelle. Deshalb sei vorliegend
keine Ausschaffungshaft angeordnet worden. Einer strafrechtlichen Verfolgung
stehe daher nichts entgegen. Weder Art. 115 Abs. 4 AuG noch Art. 8 StPO böten
eine Grundlage, das Verfahren einzustellen (Beschwerde, S. 3 ff.).

1.2 Die Vorinstanz erwägt, die EU-Rückführungsrichtlinie habe zum Ziel, in den
Mitgliedstaaten das Rückführungsverfahren bei illegal anwesenden Personen aus
Drittstaaten zu vereinheitlichen. Aufgrund des Schengen-Besitzstandes sei die
EU-Rückführungsrichtlinie für die Schweiz verbindlich. Das nationale Recht sei
richtlinienkonform auszulegen, weshalb auch die EuGH-Rechtsprechung zu
berücksichtigen sei. Nationale Vorschriften - auch strafrechtliche Bestimmungen
- dürften die Verwirklichung der EU-Rückführungsrichtlinie nicht gefährden. Die
Schweiz sei daher nicht befugt, eine Freiheitsstrafe allein deshalb zu
verhängen, weil sich ein Drittstaatsangehöriger nach Ablauf der Ausreisefrist
hier illegal aufhalte. Vielmehr hätte sie ihre Anstrengungen weiterführen
sollen, die Rückkehr zu vollstrecken. Eine innerstaatliche Sanktionierung sei
erst möglich, wenn alle zumutbaren Massnahmen ergriffen worden seien und sich
die betreffende Person trotz Zwangsmassnahmen weiterhin illegal in der Schweiz
aufhalte (Urteil, S. 6 ff.).
Die Wegweisungsverfügung der Beschwerdegegnerin des Bundesamtes für Migration
sei am 5. Oktober 2010 rechtskräftig geworden. Am 7. Oktober 2010 habe sie die
für die Beschaffung von Reisepapieren erforderlichen Antragsformulare (ausser
dem sogenannten Basic Data Sheet) ausgefüllt. Anlässlich des
Rückkehrberatungsgesprächs vom 18. Oktober 2010 habe sie mehrfach
unmissverständlich signalisiert, nicht nach Hause zurückkehren zu wollen. In
den Akten ergäben sich keine Hinweise, dass das Migrationsamt im relevanten
Zeitraum weitere Anstrengungen unternommen hätte, den Wegweisungsentscheid
gegen sie zu vollziehen. Es sei weder versucht worden, Ersatzreisepapiere zu
beschaffen noch die zwangsweise Rückführung einzuleiten. Die Beschwerdegegnerin
habe die notwendigen Formulare ausgefüllt. Ihr könne daher nicht mangelnde
Mitwirkung oder Vereitelung der Wegweisungsverfügung vorgeworfen werden
(Urteil, S. 8 ff.).

1.3 Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat sich mit der Anwendung
der EU-Rückführungsrichtlinie und dem Verhältnis zur innerstaatlichen
Sanktionierbarkeit während des Rückführungsverfahrens befasst. Auf diese
grundlegenden Ausführungen kann verwiesen werden (vgl. Urteil 6B_196/2012 vom
24. Januar 2013 E. 2).

1.4 Gemäss schriftlicher Stellungnahme des Bundesamtes für Migration vom 4.
Oktober 2012 (Beschwerdebeilage, pag. 38 f.) kann ein äthiopischer Staatsbürger
freiwillig nach Äthiopien zurückkehren. Er muss dazu bei der Botschaft in Genf
vorsprechen und seine Staatsangehörigkeit glaubhaft machen. Reisepapiere würden
seit mehr als zwölf Jahren lediglich freiwilligen Rückkehrern ausgestellt.
Durchsetzungshaft könne nur im Einzelfall zur freiwilligen Rückkehr motivieren.
Eine zwangsweise Rückschaffung sei nach Äthiopien nicht möglich.

1.5 Im vorliegenden Fall haben die zuständigen Aargauer Behörden dem Bundesamt
für Migration die notwendigen Anträge zur Papierbeschaffung zugestellt. Die
Ausschaffung ist jedoch blockiert, da die Beschwerdegegnerin nicht freiwillig
zurückkehrt und die äthiopische Botschaft deshalb keine Reisepapiere ausstellt.
Die erstinstanzliche Freiheitsstrafe von drei Monaten ist nicht geeignet, die
Rückführung der Beschwerdegegnerin zu verzögern oder zu verhindern, da diese
lediglich freiwillig in ihre Heimat zurückkehren kann und eine behördlich
angeordnete Ausschaffung entfällt. Entgegen der Vorinstanz haben die
Migrationsbehörden die notwendigen Schritte zur Ausschaffung unternommen. Deren
Vollzug scheiterte jedoch am fehlenden Ausreisewillen der Beschwerdegegnerin.
Die Vorinstanz verletzt daher Bundesrecht, indem sie die Beschwerdegegnerin
nicht wegen rechtswidriger Einreise und rechtswidrigen Aufenthalts verurteilt
hat.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau
vom 14. August 2012 ist aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin unterliegt mit ihrem Antrag auf kostenfällige Abweisung
der Beschwerde, weshalb sie grundsätzlich kostenpflichtig wird (Art. 66 Abs. 1
BGG). Sie stellt indes ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung, das gutzuheissen ist. Ihre Bedürftigkeit ist ausgewiesen, und
ihr Standpunkt kann nicht als aussichtslos bezeichnet werden, da die Rechtslage
bis anhin unklar war (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Dem Rechtsvertreter der
Beschwerdegegnerin ist für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten. Der Beschwerdeführerin
ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 14. August 2012 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung
an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung wird gutgeheissen. Für das bundesgerichtliche Verfahren wird ihr
Donato Del Duca, Aarau, als unentgeltlicher Anwalt beigegeben.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dem Vertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. März 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller