Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.4/2012
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2012
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2012


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_4/2012

Urteil vom 12. Juni 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Schöbi,
Gerichtsschreiber Borner.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Entschädigung der amtlichen Verteidigung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts
des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 2. Dezember 2011.

Sachverhalt:

A.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau bestellte X.________ am 18. März
2011 in einem schweren Betäubungsmittelfall als amtlichen Verteidiger. Seine
Kostennote belief sich auf Fr. 10'124.35.

Das Bezirksgericht Aarau genehmigte am 22. Juli 2012 Fr. 8'175.60, wobei ohne
ausdrücklichen Gegenbericht innert fünf Tagen davon ausgegangen werde, dass die
Korrektur der Kostennote akzeptiert werde. Am 26. Juli 2012 hielt X.________ am
ursprünglichen Betrag fest.

B.
Das Bezirksgericht beharrte am 2. August 2012 auf seinem Kostenentscheid vom
22. Juli 2012 und schrieb in der Rechtsmittelbelehrung, dass die Verfügung
innert 20 Tagen mit Beschwerde im Sinne von § 94 Gerichtsorganisationsgesetz
(GOG) beim Obergericht angefochten werden könne. X.________ erhob am 19. August
2012 Beschwerde.

Das Obergericht des Kantons Aargau trat am 2. Dezember 2011 auf die Beschwerde
nicht ein, weil die 10-tägige Frist des Art. 396 Abs. 1 StPO nicht eingehalten
sei.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz erwägt, dem Beschwerdeführer sei als Rechtsanwalt bekannt
gewesen, dass am 1. Januar 2011 die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO)
in Kraft getreten sei, die eine umfassende und grundsätzlich abschliessende
Kodifikation darstelle. Deshalb habe sich ihm zwingend die Frage nach der
Geltung des neuen Prozessrechts für das Rechtsmittelverfahren hinsichtlich des
Entschädigungsentscheids aufdrängen müssen. Bei dieser Sachlage hätte zur
Grobkontrolle der Rechtsmittelbelehrung ein Blick in die StPO gehört. Dabei
erschliesse sich direkt aus der Lektüre der massgeblichen Bestimmungen (Art.
135 Abs. 3 lit. a und Art. 396 StPO), dass für das Rechtsmittel der Beschwerde
gegen den angefochtenen Entscheid eine Frist von 10 Tagen gelte. Dass es bei
der neuen bundesgesetzlichen Regelung der Beschwerde gegen
Entschädigungsentscheide gemäss Art. 135 Abs. 3 StPO keinen Raum mehr für eine
kantonale Regelung geben könne, habe dem Beschwerdeführer - trotz
versehentlicher Nichtaufhebung von § 94 GOG beim Erlass des EG StPO (und des EG
ZPO), welche Bestimmung nach der Rechtsprechung auch auf die Festsetzung der
Entschädigung des amtlichen Verteidigers anwendbar gewesen sei - auch ohne
Konsultation von Rechtsprechung und Literatur klar sein müssen. Der
Beschwerdeführer könne daher keinen Schutz des Vertrauens in die falsche
Rechtsmittelbelehrung beanspruchen (angefochtener Entscheid S. 5 Ziff. 2.3).

2.
Es trifft zwar zu, dass der Beschwerdeführer verpflichtet war, den Text der
StPO zu konsultieren, und diese eine Beschwerdefrist von 10 Tagen statuiert
(Art. 135 Abs. 3 lit. a und Art. 396 StPO). Beim Erlass des kantonalen
Einführungsgesetzes zur StPO jedoch wurde § 94 GOG/AG, der eine Beschwerdefrist
von 20 Tagen vorsieht, nicht aufgehoben. Somit sah sich der Beschwerdeführer
zwei sich widersprechenden gesetzlichen Regelungen gegenüber. Deshalb stellt
sich die Frage, ob es als grobe prozessuale Unsorgfalt zu werten ist, wenn er
sich auf die falsche Rechtsmittelbelehrung verliess (Urteil des Bundesgerichts
5A_704/2011 vom 23. Februar 2012 E. 8.3 mit Hinweisen, zur Publikation
bestimmt).

Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung ist ohne Konsultation von
Rechtsprechung und Literatur nicht klar, dass die StPO keinen Raum mehr für
eine kantonale Regelung zulässt. Im Gesetzestext selbst findet sich keine
derartige explizite Aussage. Die Vorinstanz zitiert den Basler Kommentar mit
Hinweis auf Niklaus Schmid, um aufzuzeigen, dass die StPO eine umfassende und
grundsätzlich abschliessende Kodifikation sei. Wenn sie nur "grundsätzlich"
abschliessend ist, muss es Ausnahmeregelungen geben. Da gerade Anwaltstarife
nach wie vor kantonal geregelt sind, wäre es denkbar, dass auch die
Rechtsmittel gegen Entschädigungsentscheide weiterhin kantonalem
Verfahrensrecht unterliegen. Nicht abwegig ist eine solche Sicht der Dinge
jedenfalls im Kanton Aargau, der im Zusammenhang mit der StPO sein
Gerichtsorganisationsgesetz revidiert und dabei die 20-tägige Frist für die
Anfechtung von Entschädigungsentscheiden beibehalten hat. Dass es sich dabei um
ein Versehen handelt, ergibt sich erst nach einem Blick in Rechtsprechung und
Literatur. Dem Beschwerdeführer kann somit nicht vorgeworfen werden, er habe
sich grob unsorgfältig verhalten, als er auf die falsche Rechtsmittelbelehrung
der zuständigen Behörde vertraute.

3.
Damit erweist sich die Beschwerde als begründet, und der angefochtene Entscheid
ist aufzuheben.

Dem Kanton Aargau sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 3 BGG). Er hat
dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 66
Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 2. Dezember 2011 aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung an
die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Juni 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Borner