Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.478/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_478/2012

Urteil vom 22. Oktober 2012
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Denys, Schöbi,
Gerichtsschreiber Keller.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dominique von Planta-Sting,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Verletzung von Verkehrsregeln; Willkür,
rechtliches Gehör,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 12. Juni 2012.

Sachverhalt:

A.
X.________ wird vorgeworfen, am 7. Januar 2011 in Dürnten/ZH eine seitliche
Kollision mit einem vor ihm fahrenden Fahrzeug verursacht zu haben. Zur
Kollision sei es gekommen, weil er den vorausfahrenden Fahrzeuglenker
Y.________ rechts überholt habe als dieser für ein Abbiegemanöver zunächst
links ausgeschwenkt und anschliessend rechts abgebogen sei.

B.
Das Statthalteramt des Bezirks Hinwil büsste X.________ am 4. Februar 2011
wegen Verletzung von Verkehrsregeln mit Fr. 200.--. Das Bezirksgericht Hinwil
bestätigte am 26. Oktober 2011 den Urteilsspruch. Die Berufung von X.________
wies das Obergericht des Kantons Zürich am 12. Juni 2012 ab.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene
Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 12. Juni 2012 sei aufzuheben,
und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur
Durchführung eines ordnungsgemässen Verfahrens an das Bezirksgericht Hinwil
zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz bestrafe ein Verhalten, das zuvor
weder bei der Untersuchungsbehörde noch bei den kantonalen Instanzen im Raum
gestanden habe. Er müsse von Beginn des Verfahrens weg wissen, welcher konkrete
Sachverhalt untersucht und welche Handlung ihm vorgeworfen werde. Er habe
vorliegend keine Gelegenheit gehabt, sich zum Sachverhalt zu äussern oder
entsprechende Beweisanträge zu stellen. Die Vorinstanz habe seine
diesbezüglichen Rügen nicht berücksichtigt. Sie halte den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig fest und verletze den Anklagegrundsatz gemäss Art. 9
StPO. Ausserdem verstosse sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 3
Abs. 2 StPO), den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 107 StPO) sowie die
Unschuldsvermutung (Art. 10 StPO), indem sie auf neue Annahmen abstelle, die
sich nicht aus den Akten ergäben (Beschwerde, S. 3 ff.).
Er habe angenommen und annehmen dürfen, dass Y.________ auf der linken Fahrspur
eingespurt war, um links abzubiegen. Gemäss Sachverhaltsfeststellung habe
Y.________ mehrfach nach hinten geschaut und ihn (den Beschwerdeführer) in
verschiedenen Entfernungen gesehen. Unter diesen Umständen sei es
offensichtlich unrichtig und mit der Aktenlage nicht vereinbar, wenn die
Vorinstanz von einem reinen Ausschwenkmanöver ausgehe. Hätte Y.________ rechts
abbiegen wollen, hätte er dies zügig gemacht und wäre nicht auf der linken
Fahrspur verweilt. Diesfalls hätte er auch nicht mehrmals den Rückspiegel
konsultieren müssen. Um rechts abzubiegen, wäre es unnötig und widersinnig
gewesen, vollständig auf der linken Fahrspur zu fahren. Er habe aufgrund der
Umstände nicht damit rechnen müssen, dass Y.________ unmotiviert und plötzlich
nach rechts ausschwenke. Im Übrigen präzisiere die Vorinstanz ihre Aussage
nicht, dass er als nachkommender Fahrzeuglenker hätte zuwarten sollen
(Beschwerde, S. 5 ff.).

1.2 Die Vorinstanz erwägt, nach Art. 398 StPO sei ihre Kognition in
Sachverhaltsfragen beschränkt, da ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des
Verfahrens bildeten. Sie könne nur feststellen, ob die erste Instanz den
Sachverhalt willkürlich festgestellt habe. Rechtsverletzungen prüfe sie
hingegen mit freier Kognition. Der aus einer leichten Linkskurve kommende
Beschwerdeführer habe - wie die erste Instanz zutreffend ausführe - kaum
erkennen können, ob Y.________ links eingespurt oder links ausgeschwenkt sei,
um anschliessend rechts abzubiegen. Selbst wenn man von der Sachverhaltsversion
des Beschwerdeführers ausginge, wonach Y.________ links eingespurt und links
geblinkt habe sowie plötzlich nach rechts abgebogen sei, hätte der
Beschwerdeführer gegen die Verkehrsregeln verstossen. Er hätte auch diesfalls
Y.________ an dieser unübersichtlichen Stelle (Gegenverkehr) nicht rechts
überholen dürfen (Urteil, S. 6 f.).

1.3 Gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG kann die Feststellung des Sachverhalts durch die
Vorinstanz nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Verletzung von schweizerischem Recht im Sinne von Art. 95 BGG beruht. Die
Rüge der offensichtlich unrichtigen, d.h. willkürlichen Feststellung des
Sachverhalts prüft das Bundesgericht gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG ebenfalls nur
insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substantiiert
begründet worden ist. In der Beschwerde muss im Einzelnen dargelegt werden,
inwiefern der angefochtene Entscheid an einem qualifizierten und
offensichtlichen Mangel leidet. Auf eine bloss appellatorische Kritik am
angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 136 II 489 E. 2.8;
133 IV 286 E. 1.4; 133 II 249 E. 1.4.2; 134 II 244 E. 2.1 und 2.2).

1.4 Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger Rechtsprechung nicht
schon vor, wenn das angefochtene Urteil nicht mit der Darstellung des
Beschwerdeführers übereinstimmt oder eine andere Lösung oder Würdigung
vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern nur, wenn der
angefochtene Entscheid auf einer schlechterdings unhaltbaren oder
widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht, mit der tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz
krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft
(BGE 138 I 49 E. 7.1; 138 V 74 E. 7; 137 I 1 E. 2.4 je mit Hinweisen).

1.5 Ob die vorinstanzliche Beweiswürdigung in der Sache zutreffend ist, kann
das Bundesgericht nur unter dem beschränkten Blickwinkel der Willkür
überprüfen. Es ist aus dieser Sicht nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz
davon ausgeht, dass Y.________ links ausgeschwenkt ist, um anschliessend rechts
in einen Parkplatz abzubiegen. Sie hält zusätzlich fest, dass sich der
Beschwerdeführer auch bei der von ihm vorgetragenen Sachverhaltsversion, wonach
Y.________ links eingespurt sei, links geblinkt habe und plötzlich nach rechts
abgebogen sei, nicht verkehrsregelkonform verhalten hat. Die Vorinstanz geht
entgegen dem Beschwerdeführer nicht von einem neuen Sachverhalt aus, sondern
lässt im Ergebnis das genaue Verhalten von Y.________ offen, da dies für die
rechtliche Beurteilung der inkriminierten Handlung des Beschwerdeführers keine
Rolle spielt (dazu E. 2). Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was die
Beweiswürdigung der Vorinstanz als offensichtlich unhaltbar oder
widersprüchlich erscheinen liesse. Sie verletzt weder die vom Beschwerdeführer
angerufene Unschuldsvermutung noch den Anklagegrundsatz sowie den Grundsatz von
Treu und Glauben.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt in rechtlicher Hinsicht vor, es sei
offensichtlich unrichtig, dass er auf der rechten Fahrbahn nicht habe
weiterfahren dürfen, wenn sich links ein Fahrzeug befinde, welches nach links
abbiegen wolle. Er habe die Situation nach bestem Wissen und Gewissen
eingeschätzt, sei langsam gefahren und habe das Fahrzeug von Y.________
beobachtet. Es sei zu erwarten, dass jemand, der links eingespurt sei und links
blinke auch links abbiege. Anhalten müssten in dieser Situation allfällige
entgegenkommende Fahrzeuge und nicht er (der Beschwerdeführer), der sich auf
der anderen Fahrspur befinde. Die Vorinstanz habe ihn zu Unrecht wegen
Verletzung von Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 3 SVG verzeigt.
Wenn ihn die Vorinstanz hätte verurteilen wollen, hätte sie dies gestützt auf
Art. 26 Abs. 2 SVG und nicht Art. 35 Abs. 1 SVG tun müssen (Beschwerde, S. 11
ff.).

2.2 Die Vorinstanz führt aus, dass der Beschwerdeführer das Fahrzeug von
Y.________ an der fraglichen Stelle nicht hätte überholen dürfen. Zwar habe
sich Y.________ ebenfalls regelwidrig verhalten, der Kausalverlauf werde
dadurch jedoch nicht unterbrochen. Zu berücksichtigen sei, dass Y.________ am
Ort der Kollision gar nicht nach links, sondern nur nach rechts in den dortigen
Parkplatz habe abbiegen können. Der Beschwerdeführer sei davon ausgegangen,
dass der andere ortsunkundig war und etwas suchte. Er wäre dadurch zusätzlich
gehalten gewesen, das weitere Verhalten des Lenkers abzuwarten, bevor er diesen
überholte. Aufgrund dessen Fahrweise und der unübersichtlichen
Strassensituation könne er sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen.
Vielmehr wäre ein risikoarmes Verhalten gefordert gewesen. Der Beschwerdeführer
habe mit dem inkriminierten Verhalten Art. 35 Abs. 1 und 3 SVG verletzt
(Urteil, S. 7 ff.).

2.3 Nach Art. 35 Abs. 1 SVG ist rechts zu kreuzen und links zu überholen. Abs.
3 präzisiert, dass der Überholende auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich
auf jene, die er überholen will, besonders Rücksicht nehmen muss. Fahrzeuge,
die zum Abbiegen nach links eingespurt haben, dürfen nur rechts überholt werden
(Abs. 6). Nach Art. 13 Abs. 2 VRV darf der Fahrzeugführer den für den
Gegenverkehr bestimmten Raum beim Einspuren nach links nicht beanspruchen.

2.4 Wie die Vorinstanz betont und aus der Fotodokumentation (act. 4 und 20.1
der Vorakten) hervorgeht, ist der Ort des Überholmanövers unübersichtlich, da
der weitere Strassenverlauf wegen der nahen Kurve nicht einsehbar ist.
Allfälliger Gegenverkehr taucht dadurch unvermittelt auf. Selbst wenn der
Beschwerdeführer tatsächlich angenommen hat, dass Y.________ - gemäss Art. 13
Abs. 2 VRV freilich verkehrsregelwidrig - auf der linken Fahrbahnhälfte
eingespurt war, um nach links abzubiegen, hätte er ihn nicht rechts überholen
dürfen, weil er aufgrund des möglichen Gegenverkehrs jederzeit mit einem
Ausweichmanöver des Überholten rechnen musste. Da er ihn als ortsunkundig und
etwas suchend erkannt hat, wäre zusätzliche Zurückhaltung angezeigt gewesen. Er
hätte in angemessenem Abstand anhalten und das weitere Verhalten von Y.________
abwarten müssen. Dass dieser tatsächlich einspurte, ist zudem unwahrscheinlich,
weil er zur Erleichterung seines Manövers mit Vorteil auf der rechten
Fahrbahnhälfte verblieben wäre, um zusätzlichen Raum zum Abbiegen zu gewinnen.
Wie die Vorinstanz zu Recht festhält, spielen die tatsächlichen Absichten von
Y.________ jedoch keine Rolle, da das Überholen durch den Beschwerdeführer in
jedem Fall gegen die gebotene Rücksichtnahme gegenüber den übrigen
Strassenbenützern gemäss Art. 35 Abs. 3 SVG verstossen hat. Der vorinstanzliche
Schuldspruch verletzt kein Bundesrecht.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang trägt der
Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Oktober 2012

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Keller